Kulturkampf

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Sehnsucht nach Heimweh
Frank Abt inszeniert Peter Handkes Familienepos "Immer noch Sturm" am Deutschen Theater

"Eine gute Zeit wird kommen, aber wir haben sie noch nicht"
"Tabula Rasa " im Deutschen Theater Berlin – nach Carl Sternheim

Michael Jackson neu gestrichen
"American Jesus Suite" in der Reihe "Across the Border" im Konzerthaus Berlin mit dem "Quartett PLUS 1"

 

 

Sehnsucht nach Heimweh
Frank Abt inszeniert Peter Handkes Familienepos "Immer noch Sturm" am Deutschen Theater

Von Astrid Mathis

 
Es gibt in der Geschichte über die Familie wenig zu lachen. Die Erinnerung an die slowenische Familie in Kärnten, die Mutter, die sich das Leben nahm, dabei hatte sie einmal gesagt: "Seit ich lebe, war ich noch nie traurig", scheint an der Konstruktion von Wänden und Türen festgehalten, durch die sich die Schauspieler winden. Bis sie eine Wand nach der anderen wegtragen. Das Bühnenbild löst sich auf, Schatten kommen. Was bleibt von der Erinnerung?

Auf der Hinterbühne der Kammerspiele des Deutschen Theaters verdichtet Frank Abt die Geschichte auch räumlich, während der Zuschauer Einblicke in die persönlichen Erfahrungen von Peter Handke bekommt. "Ihr Vorfahren macht mir ganz schön zu schaffen", lässt Handke sein Alter Ego sagen. Marquardt Müller-Elmau ist der Alte, der sich erinnert und dem Publikum die Toten nahe bringt. Unter dem Apfelbaum, an einem Tisch, im Jaunfeld nahe den Karawanken in Kärnten. Zweiter Weltkrieg, Partisanenkampf, Sprachverbot. "Unsere schönen Namen eingedeutscht" heißt es. "In unserem Haus ist kein Platz für Tragödie", sagt der Vater der Familie Siuz (Michael Gerber). Dafür müsste man aktiv sein, aber das war die Familie nie. Er schimpft über Ursula, die Mannslose mit Regenwettergesicht (überzeugend: Simone von Zglinicki). In der Lakonie liegt Komik. Immer wieder. Die Familie streitet und lacht, man wundert sich über Äpfel- und Birnenformen. Aber da ist auch Ekel. "Ekel vor dem Morgen, Ekel vor der Fremde, Ekel vor meiner ewigen Sehnsucht, Sehnsucht nach Heimweh" hat Benjamin. Die drei Brüder, so verschieden wie nur irgend möglich. Der Schüchternste, Gregor (Thorsten Hierse), wechselt mit der Schwester Ursula zu den Partisanen. Valentin (Ole Lagerpusch) wirkt am freiesten, ein Weiberheld, der sich in der Familie Raum und Distanz schafft, die oft nicht da ist. Im Krieg ist er einer von vielen, muss hinnehmen, dass die Brüder sterben. Eben sagt er noch: "Ich will noch mal im Chor singen" und Gregor stellt fest, dass sie sich nie für etwas entschieden haben, da ist es vorbei, da trägt auch er ein Stück Bühnenbild weg. Die Todesnachricht lähmt nicht nur die Mutter (stark: Katharina Matz), sie trifft auch das Publikum. Diese Leere. Handkes Mutter Maria, die Mutter des Ich-Erzählers (Judith Hofmann), sucht den Vater ihres Kindes. Vergeblich. Diese Vergeblichkeit lässt Frank Abt die Zuschauer spüren.

Premiere 29. April 2015
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"Eine gute Zeit wird kommen, aber wir haben sie noch nicht"
"Tabula Rasa" im Deutschen Theater Berlin – nach Carl Sternheim

Von Astrid Mathis

 
Die 100-Jahr-Feier der Kunstglasfabrik in Rodau steht bevor. Es könnte alles so schön sein, aber Carl Sternheims Held Wilhelm Ständer hat ein Problem. Der Sozialdemokrat weiß nicht nur seine Freizeit auszudehnen und im Schwimmbad zu nutzen, er hat höheren Lohn eingestrichen und ist Aktionär im Haus wie sein Kumpel Flocke. Damit ihm keiner von der Leitung auf die Schliche kommt, holt er einen radikalen Linken nach Rodau, der irritieren und Unruhe stiften soll. Das macht Agitator Werner Sturm allerdings zu gut. Dass die Belegschaft sich eine Arbeiterbibliothek wünscht, will der gleich zur Revolution ausweiten. Kurz entschlossen schickt Ständer Flockes Sohn Artur hinterher, um Sturm im Zaum zu halten.

Carl Sternheims Komödie aus dem Jahr 1916 wurde in Berlin uraufgeführt und nähert sich einer Sackgasse der Gesellschaft in satirischer Manier, zu der das Regie-Duo Tom Kühnel und Jürgen Kuttner mit Spielzeiteröffnung eine Brücke ins Jetzt schlägt: Abschied von der deutschen Sozialdemokratie.

Schon am Anfang wird klar, dass Wilhelm Ständer (Felix Goeser) weit weg ist von proletarischer Pflichterfüllung und sich selbst der Nächste. Seine Hausangestellte Bertha (Judith Hofmann) bittet umsonst um "Aufbesserung" ihres Lohns. In roter Badehose stürzt sich Ständer ins Flachschwimmbecken und ackert sich zur Freude des Publikums im Schmetterlingsstil mehrere Bahnen durch. Auch sein Kumpel Heinrich Flocke (Michael Schweighöfer) trägt rot, wie sich später zeigt. Doch die beiden haben ihre eigene Definition von Klassenbewusstsein, fürchten die Buchprüfung.

"Was ist eigentlich links?" lässt das Regie-Duo Tom Kühnel und Jürgen Kuttner Jörg Pose fragen, der sich letztlich als Glasfabrikdirektor entpuppt. Er stört vom Publikum aus und bekommt mehr oder weniger kurze Antworten von der Bühne. Bertha blüht geradezu auf, weil sie mal ihre Meinung sagen kann. Ein anderer inszenierter Störfaktor ist der Chor der Rodauer Glaswerke, der von "Auf, auf zum Kampf" bis zum "Kleinen Trompeter" und "Spree-Athen" alles singt, was als links gilt. Er wird als Gewissen und Reminiszenz instrumentalisiert und wirkt doch verloren zwischen den Drahtziehern. Wie Werner Sturm (Christoph Francken) in speckiger Lederjacke ist auch Flockes eifernder Sohn Artur (Daniel Hoevels) mit Föhnfrisur und 80er-Jahre-Jeans eine richtige Type in schönster Molière-Tradition. In Ständers Nichte Isolde (Lisa Hrdina) sieht der aufstrebende Journalist ein "Eizellchen", kurz: "die perfekte Partnerin für ein harmonisches Leben". Mit Isolde, Bertha und Nettelchen probt er für das Fest - sehr zum Gefallen der DT-Zuschauer - eine Nixen-Szene aus Wagners "Rheingold".
Im Laufe des Abends werden außerdem immer wieder Szenen aus dem Klassiker "Wie der Stahl gehärtet wurde" eingespielt. Gegen den oft anstrengenden, da komplexen Sprachstil von Sternheim ein Muster an Klarheit. Der Held verzichtet für die Revolution auf die Liebe. "Eine gute Zeit wird kommen, aber wir haben sie noch nicht." Ende.

Dann schließlich, wie erwartet, der Auftritt von Jürgen Kuttner, der zur Denkpause einlädt und ordentlich gegen die Sozialdemokraten vom Leder zieht. Für manchen Zuhörer sicher zu lang. Kuttner zitiert Marthalers "Backen ohne Mehl"-Witz als Metapher dafür, das den Linken abhanden gekommen ist, was sie mal ausmachte. Das Eigentliche fehlt. Oder anders gesagt: "Die Wahrheit kann an einem anderen Ort gefunden werden, wo sie gebraucht wird." Er kündigt noch das weichgespülte Black Sabbath-Cover von Cindy & Bert "Der Hund von Baskerville" an, über das sich das Publikum herrlich amüsiert, und verschwindet wieder.

Das Flachschwimmbad mit seinen kühlfarbigen Fliesen und Erholungscharakter (Bühne: Jo Schramm) mutiert am Ende zum Haifischbecken, die Treppen helfen nicht beim Aufstieg, aber Ständer weiß: "Ein Mensch kann in seinen Neigungen weit schweifen und doch ein erstklassiger Genosse sein."

Premiere am 11. September 2014.

Michael Jackson neu gestrichen
"American Jesus Suite" in der Reihe "Across the Border" im Konzerthaus Berlin mit dem "Quartett PLUS 1"

Von Astrid Mathis

 
So haben sie Michael Jackson noch nie gehört. Als das Quartett PLUS 1 am 17. April im Konzerthaus Berlin zur "American Jesus Suite" ansetzte, ahnten die Gäste der Reihe "Across the border" noch nicht, welch Vergnügen ihre Sinne in dieser Dreiviertelstunde erfahren sollten. Quartett PLUS 1, das sind Katharina Pfänder, Kristina van de Sand (beide: Violine), Kathrina Hülsmann (Viola) und Lisa Stepf (Violoncello), dazu als Gast der Countertenor Christopher Paskowski.

Ihre Zuhörer an diesem Tag: Schüler ab 16 Jahre von der 10. Klasse, Oberstufe bis hin zu berufsbildenden Schulen aus Berlin, die von der Reihe "Across the border" profitieren, die Gabriele Nellessen ins Leben rief. Sie hat den Bereich Junior im Konzerthaus Berlin aufgebaut. "Ich bin ständig auf der Suche und bekomme viel Post mit Konzepten", erzählt die Leiterin der Abteilung Junior. Seit 1987 ist die Familien- und Jugendkonzertreihe im Haus ihr Ressort. Einen Haufen verrückter Leute hatte sie dabei und meint damit außergewöhnliche Künstler. "Ich kenne Himmel und Menschen", beschreibt Nellessen, wie gut sie vernetzt ist. 90 Prozent an Anfragen werden verworfen, aber sie hört sich durch und entwirft dann gemeinsam mit den Gästen Programmunikate. "Im besten Fall entsteht, was richtig passt", sagt sie geradeheraus.

Lebensweltbezug für Schüler

80 Veranstaltungen sind für die Junioren in diesem Jahr geplant. Drei davon zum Thema "Across the border", was so viel heißt wie "über Grenzen gehen, von klassischem Jazz über interkulturelle zu Popmusik". Die erste Veranstaltung in der Spielzeit war "I love Porgy", eine Zusammenarbeit mit Greg Cohen vom Jazzinstitut Berlin und natürlich mit Stücken aus George Gershwins Oper "Porgy and Bess". Den Schülern Lebensweltbezug bieten, um klassische Inhalte nahe zu bringen, darin sehen Gabriele Nellessen und Konzertpädagogin Christine Mellich ihre Aufgabe. Probenbesuche und Führungen gibt es als Ergänzung. In dem Projekt "Open your Ears", das künftig Christine Mellich übernimmt, arbeiten Profimusiker mit Schülern zusammen, inzwischen in der 4. Saison. Jüngstes Beispiel ist das Zusammenwirken des Fauré-Quartetts mit Profi-Tänzern von Sasha Waltz und Schülern des Max-Dellbrück-Gymnasiums Berlin zum Thema Abschied in der Neuen Musik.

Vor dem Programm von "Across the border" gestalten Studenten vom Lehrstuhl Musikpädagogik und -didaktik der Universität Potsdam im Masterstudium Lehramt Musik in den Klassen eine 90-minütige Werkeinführung. Die künftigen Lehrer sollen ihre Praxiserfahrungen erweitern und Partner wie das Konzerthaus Berlin nutzen lernen. Die Zusammenarbeit beider Institutionen bietet den Studenten die einmalige Gelegenheit, von der Integrationsschule bis hin zum Musik Gymnasium die Konzertinhalte differenziert zu vermitteln. Eine hohe Kunst", findet Jana Buschmann, Lehrbeauftragte am Lehrstuhl von Frau Prof. Dr. Birgit Jank.

Die Nachbesprechung mit den Künstlern gibt es als I-Punkt oben drauf. Hautnah können die Schüler ihre Fragen stellen, sie als Menschen wahrnehmen.

Streicher liegen lang

Das Streichquartett "Quartett PLUS 1" kommt aus der Klassik. Die Kostüme der Künstlerinnen sind mit Gold und Schwarz ganz im Stile Michael Jacksons gehalten, hier ein goldenes Schulterstück, da ein halbes Jackett. Wie sie harmonisch ineinander greifen, sich auch räumlich voneinander entfernen, um dann in der Mitte auf dem Boden zu liegen, das haut um. Die musikalischen Zitate von "Smooth Criminal" über "We are the World" bis hin zu "Scream" verschmelzen. Hier ein Zupfen, da ein Umspielen. Stefan Wurz verarbeitete das musikalische Material themengebunden in seiner Komposition zu einer sechssätzigen Suite. Am Ende sitzen die Streicherinnen bei "Four to the cello" alle spielend an einem Cello, bis der letzte geht. Das war schon lange ihr Herzenswunsch.

Die Idee zu dem Programm kam ihnen, als sie 2011 für die Ausstellung David LaChapelles in Hannover eine Performance gestalten sollten. Einfach im Kreis sitzen - das ist ihnen zu langweilig. So sind sie zu der Reihe "Musik in Kunstwerken" gekommen, das heißt: Alte Musik und Pop, Minimal Music inmitten von Blumen-Stillleben ist eher ihr Ding. Oder besser gesagt: ihre Kunst.

Seit zehn Jahren arbeiten die Musikerinnen zusammen. Ihre ersten Schritte unternahmen sie in Hildesheim/Niedersachsen, wo sie im klassischen und theaterpädagogischen Bereich ihre Ausbildung erfuhren. Über die Jahre haben sie ausgetestet, was geht: Und, ja, sich beim Musizieren auf den Rücken zu legen, ist gar nicht so einfach, macht aber Spaß. Alles in allem eine Abwechslung und Bereicherung zu Kulturwissenschaft, Gesangsunterricht, Theaterpädagogik oder musikalischer Früherziehung. Stilistisch sind sie nicht festgelegt, jede bringt ihre Einflüsse ein. Ziel ist es, die Jahrhunderte alte Formation des Streichquartetts fremden Räume und Medien auszusetzen. Dafür wurden "Quartett PLUS 1" 2013 mit der Nominierung zum Yeah Award belohnt. An dem Projekt "Relax your mind" war auch Countertenor Christopher Paskowski mit einem Barockstück beteiligt.

"Um so schön zusammen zu spielen, muss man Konflikte lösen. Man führt eine Ehe zu viert", gibt Katharina Pfänder abschließend zu.

© POTZDAM 2015