Kulturkampf
Inhalt
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Von intelligenten Gesichtern und starken Stimmen
The Voice of Germany - Halbfinale
 

Vorraum zum Himmel
Andrea Breth "Zwischenfälle"
 

 

Von intelligenten Gesichtern und starken Stimmen
The Voice of Germany - Halbfinale
Von Astrid Mathis

 
Adlershof, Am Studio 20, Vierter Stock. Graue Sofas mit roten Kissen und große Flatscreen-Fernseher laden zum Verweilen ein. Ein paar Schritte weiter lockt die Bar, Rotwein, Weißwein, Cappucchino. Am Buffet sind Roastbeef-Schnittchen, Streuselkuchen und Kürbiscremesuppe aufgetafelt - ich bin bei the Voice of Germany. Ohne Zweifel, die Presselounge macht einen netten Eindruck, im Hintergrund laufen die Songs der Kandidaten, die es seit Wochen zum Downloaden gibt. Nach einer Stunde des Wartens, Beobachtens und Essens weiß ich nicht, ob mir die roten Lampen nicht bekommen sind oder die Musik auf den Wecker geht. Vielleicht die Langeweile.

Während ich mich noch frage und darauf hoffe, dass sich meine Option auf eine Karte für die Show in eine Karte verwandelt, betritt eine blonde Frau den Raum. Mit glitzernden Schuhen, einem funkelnden Kleid und blonden Haaren. Die kenne ich! Nur woher? Red Nose Day ist, erfahre. Kim Sanders und Ivy Quainoo posieren, ich fotografiere und weiß immer noch nicht, wer da die Aufmerksamkeit auf sich zieht.

Kim Sanders, Sonya Kraus, Ivy Quainoo

Schon werden die Presseleute mit Karten reingewunken, ich greife nach einem Schokoriegel aus der Glasschale. Mehrmals. Dann die Erlösung. Die Empfangsdame wedelt mit einer Karte. Ich werde hinter die Zuschauerreihen entlanggeführt, bis ich in der 10. Reihe hinter Rea lande. Im toten Winkel vor den dpa-Fotografen.

Neben mir nimmt eine Journalistin Platz, die mir verrät, dass Sonya Kraus Red-Nose-Day-Botschafterin ist. Sie sitzt drei Reihen hinter mir. Vorne spaziert ein blonder wohlgenährter Animateur und fordert die Zuschauer auf, ein Sat. 1-Gesicht zu machen. Ein intelligentes. Besonders die direkt hinter den Coaches sitzen. In der Pause soll keiner aufstehen; wenn's sein muss, laufen lassen. Auch Winken darf keiner. Aber kräftiger Applaus soll her, die kompletten ersten fünf Minuten und immer, wenn ein Kandidat die Bühne betritt. Fernsehzuschauer können so beeinflusst werden, wird erklärt. Und: "Wir fangen die Sendung stehend an." Ich stehe. Dann ist alles wie im Fernsehen. Sharron und Kim singen eigene Songs und ein Duett, begeistern. Pause. Ich sitze. Sehe mindestens 50 Leute zehn Minuten hin und her rennen. Der Animateur, der natürlich auch Moderator ist, veranstaltet ein Quiz mit Sara und Simon. Sie msüssen "miep" und "möp" machen, wenn sie was wissen, werden nach Late-Night-Shows und Frühstücksmoderatoren gefragt. Simon aus Jever gewinntI eine Stunde Rolltreppe-Fahren im Galeria Kaufhof am Alex. Ich sehe zu den Coaches, die auf ihren Plätzen geblieben sind und sich mit irgendwem unterhalten. Der blonde Pausenfüller bittet darum, nicht zu buhen. Egal, bei wem. Wir sind eine freundliche Sendung.

Kaum ist die Pause zu Ende, erscheint der Notar. Kim kommt weiter. Ivy und Ole sind an der Reihe. Bei Ivy geht die Post ab. Annette Frier und "Der letzte Bulle" werden angepriesen. Pause. Ich traue mich, aufzustehen, gehe die Treppe hinunter, passiere Menschen mit Jogginghosen und gestylten Haaren, ehemalige Teilnehmer und TV-Gesichter, deren Namen ich nicht kenne. Als ich unten bin, sitzt Rea mir mit dem Rücken zugewandt da, die Jungs von BossHoss geben Autogramme, Nena und Xavier sind weg. Ich vermute mal, zur Toilette. Gehe hoch. Neben mir bleibt der Platz leer. Ich habe Gänsehaut, als Nena "Liebe ist" singt. Danach serviert der Notar das Ergebnis. Die ohnehin von den Coaches besser bewertete Ivy ist weiter. Michael Schulte und Jasmin Graf sind dran. Die Fotografen vor mir jammern wegen der kerzen, die ständig im Bild sind. Thomas Hermanns empfiehlt die Aufzeichnung seiner Geburtstagsshow vom Quatsch Comedy Club an. "Rolling in the deep" von Adele als Duett. Pause.

Ich nehme zwei Stufen auf einmal und sehe unten dabei zu, wie die Bühne gewischt wird und sich Xavier Naidoo mit den anderen Coaches unterhält. Er gibt lächelnd Autogramme. Allerdings den Leuten in den ersten Reihen. Zwischen mir und ihm steht ein Bodyguard. "Gehen Sie auf ihren Platz, sonst ist er weg", warnt mir eine dunkelhaarige Ordnerin. Ich schwanke kurz und nehme wieder zwei Stufen auf einmal. Oben hat wieder die Kollegin Platz genommen. Der Sitz neben ihr ist belegt, aber nur für Sekunden. Dann habe ich ihn wieder. Michael gewinnt.

Das letzte Team muss ran. Max beginnt mit "Dach der Welt". Ist der gut! Kurz darauf Mic mit "Losing you". - Meine Herren, war er je besser? Ganz klar würde das Publikum mehr Stimmen für Mic abgeben, fühle ich. Coach Xavier entscheidet sich, die Entscheidung selbst zu treffen, gibt Max Giesinger 65 %, Mic Donet 35 %. Am Ende blinken die Zahlen 108,23 % zu 91,77 % auf. Schluss.

Die Zuschauer stürmen nach draußen, die Fotografen auf die Bühne. Wo ist die Frau, die mich zu den Fotografen mitnehmen wollte? Ich überlege kurz, ob es sinnvoll ist, in der Halle zu warten, dann mache ich mich auf in Richtung Presselounge.

Dorthin sollen angeblich die Coaches mit ihren Schützlingen kommen und einfach so für Interviews "geschnappt" werden. Jasmin ist zuerst da. Sie sagt: "Ehrlich gesagt bin ich erleichtert. Ich bin so fertig." Freut sich auf ihre Familie. Obwohl erst ab Mittwoch geprobt wurde, war immer die ganze Woche voll. Erst Bandprobe, dann Coachprobe. "Rea hat sich sehr viel Zeit genommen", schwärmt sie. Den Abschied von The Voice sieht sie gelassen: "Wir wussten ja immer, dass nur einer gewinnen kann. Für mich ist das erst der Anfang. Ich freue mich schon, das Finale zu sehen und danach mit den anderen zu feiern."

Jasmin Graf

Max ist an mir vorbei. Ich kann mich nicht entschließen, ihn anzusprechen, fummle meinen MP 3-Player aus der Tasche und stelle mich hinten an. Als ich vor Max stehe, höre ich ihn sagen: "Ich hole mir mal ein Bier." Die Pressebetreuerin will mich zu Mic lotsen, aber Max kommt zurück mit Flasche. Ich habe Hitzewallungen und schiebe das auf die Scheinwerfer und den Zeitdruck. Die Kandidaten dürfen nur eine halbe Stunde interviewt werden.

"Ich bin total baff. Ich dachte, Xavier gibt Mic mehr Punkte", verrät Max mit großen Augen. Dass sein Song wie Xavier-Musik klingt, kann er nicht verstehen, auch wenn er ihn mit Tino von den Söhnen Mannheims gemeinsam geschrieben hat. Am liebsten singt er auf Deutsch, das hat er schon immer gemacht. Nur nicht die ganze Promotion mit Foto-Shootings. "Heute habe ich mal ausgeschlafen. Das tat ich richtig gut. Der Adrenalinlevel, den wir haben, ist sicher nicht gesund. Das ist auch eine psychische Belastung", so der Sänger. Neben mir trampelt ein Typ mit großem Mikrofon.

Max

Max und Astrid

Ich will gerade noch was fragen, da werde ich zu Micha gezogen, der sich ein Stück Streuselkuchen in den Mund schiebt und mich mit müden Augen ansieht. Ich vermute, dass mein MP3-Player nicht aufnimmt und schreibe mit.

"Ich habe kein wirkliches Gefühl, nur einfach gemacht", sagt Michael, "ich freue mich jetzt, mit allen Kandidaten zu feiern." Promotion sei halt wichtig, aber anstrengend. Sein Element ist die englische Musik, er hört gerne Soul, Jazz und Funk. Die Familie zeigt sich stolz und glücklich, aber zu Gesicht bekommt er sie selten. Genauso Freunde. Das sei nicht zu schaffen, kaum, eine SMS zu beantworten. Zuerst hatte er seinen Freunden sogar vorenthalten, dass er bei The Voice vorsingt . Vor den Blind Auditions machte er ja schon die Vorrunden mit, die er lieber verschwieg. "Man sagt immer, man realisiert das nicht richtig, und das stimmt", findet er. Alle Kandidaten in einem Hotel, das sei hilfreich, sich 100prozentig auf The Voice einzustellen.

Michael Schulte

Die halbe Stunde ist um. Mic ist von Frauen umringt, wird wahrscheinlich gefragt, ob er schockiert ist und wie es jetzt für ihn weitergeht. Bevor er verschwindet, kann ich ihm ein Foto abringen.

Mic Donet

Ich erwische Ivy, die über das ganze Gesicht strahlt. Sie hat nie mit so einer Chance gerechnet, erklärt sie. Im Finale singt sie den Song "Do you like what you see"" komplett. Er wird als Titelsong des neuen Bond gehandelt. Zu Recht. Englisch liegt ihr. Findet sie selbst.

Ivy Quainoo

Die Bodyguards drängen die Finalisten in den nächsten Raum. Ich sehe auf meinen MP3-Player, greife nach einem Schokoriegel und freue mich über mein gutes Gedächtnis.

Ach ja, die Coaches kommen nie dorthin, wird mir mitgeteilt, obwohl sie angekündigt und eingeladen sind - und dazu noch das Aushängeschild für die Show darstellen. Komisch. Ich hätte mindestens an jeden zwei Fragen auf Lager gehabt und dafür auch gern auf das Buffet und das andere Brimborium verzichtet.
 

Vorraum zum Himmel
Andrea Breth "Zwischenfälle"
Von Astrid Mathis

 
Ein echter Glücksfall für das Haus der Berliner Festspiele waren in der vergangenen Woche die "Zwischenfälle" aus dem Wiener Akademietheater. Die Inszenierung von absurden Texten Georges Courtelines, Daniil Charms' und Pierre Henri Camis machte Furore. Und das aus einem einfachen Grund: Sie ist genial. Angenehm in Bildern und Rhythmus im einen Moment, im nächsten verstörend schön und nachdenklich. Klar und direkt. In jedem Fall bewegend und mit einem phantastischen Schauspielerensemble. Theater zum Wachbleiben.

Vorhang auf. Markus Meyer sitzt mit blanken Beinen auf einer riesigen Staubsaugerapparatur und singt: "Du glaubst, dass ausgerechnet du der einzige bist...vor dem Herzen kommt erst der Verstand." Das ist doch mal 'ne Aussage!

Dann wieder bittet ein älterer Herr einen jungen, einen Fußtritt machen zu dürfen, um seine Ehre wiederherzustellen. Gegen Bezahlung. Das sind noch ernstzunehmende Anliegen!

Einer jungen Frau (Johanna Wokalek) steht die Hochzeitsnacht bevor. Sie macht fast Spagat vor der Schlafzimmertür, nur um nicht hinein zu müssen. Fast tut sie einem leid, wenn die Szene nicht so zum Lachen wäre, besonders, wenn Töchterchen mit Mama telefoniert, die sich währenddessen völlig ihrem Mann hingeben möchte und ins Telefon raunt: "Lass ihn doch mal'n bisschen machen. Du musst dich deinem Mann fügen. So ist das Leben."

Ein anderes Mal erklärt Udo Samel seiner Frau im Ehebett, dass England wirklich eine Insel und sogar vertäut ist wegen des vielen Taus, was sie schwer glauben kann. Das Publikum hat dabei Draufsicht – und damit ist das nächste Plus der Inszenierung genannt. Die Szenen kommen so frisch daher, weil das Publikum trotz Guckkastenperspektive den Eindruck vermittelt bekommt, immer wieder eine neue Sicht auf die einzelnen Geschichten zu haben. Aus dem Loch in der Mitte, das einem Meteoriteneinschlag zu verdanken sein könnte, wird zum Herrenbekleidungsgeschäft, und in der nächsten Szene krabbelt Grünkäppchen daraus hervor und überlistet den Wolf. Mal schwebt eine Wolke daher, mal kommt ein Schiff angefahren. Ein wiederkehrendes Bühnenbild ist die Türfront, die zum Büro wie zum Hotel gehört. Sie lädt zu Choreographien ein, in denen sich ein ganzer Hausflur aufbäumt oder dramatische Telefongespräche abspielen. Ist die gesamte Fläche frei, darf getanzt werden. Oder musiziert. Wenn das Ensemble zum Tango übergeht oder das "Ballett der drei Unzertrennlichen" beginnt, verwandelt sich der Raum, so dass den Zuschauern der Mund vor Erstaunen offen steht. Überhaupt sind die Szenen der Menschen, die allein zu Haus sind, besonders einprägsame Bilder. Markus Meyers Solotanz zur Pause lässt das Publikum toben. Mit dem Applaus kann kein Zuschauer mehr bis zum Schluss warten.

Und auch nach der Unterbrechung sinkt weder der Unterhaltungswert der Inszenierung noch die Aufmerksamkeit des Publikums. Noch einmal werden die Zuschauer mit der Kombination aus Alltäglichem und Absurdem konfrontiert. So sehen sie sich beispielsweise einem alten, sich streitenden Paar beim Essen gegenüber. Sie behauptet, eine Prinzessin zu sein, er macht sich darüber lustig. Ein nicht enden wollender Dialog beginnt. Dagegen hält ein Mann seinem Vater einen Monolog beim Italiener. Während der Junge nonstop redet, werden dem Alten die Spaghetti zu viel, und er stirbt unbemerkt. Generationen leben halt aneinander vorbei.

Am Ende sitzen alle an Tischen und singen "Ich möchte immer nur zärtlich zu dir sein."*
(* "Kind, dein Mund ist Musik" von Friedrich Holländer)

Ohne viel Schnickschnack, aber mit großer Wirkung und Raum zum Nachdenken.
Das ist mal etwas, das einem heute im Theater kaum noch geboten wird.

© POTZDAM 2012