Kulturkampf

Inhalt

2002–2007 / 2008 / 2009–2011 / 2012 / 2013 / 2015

 

"Alexandrie Alexandra ha!"
Aime moi!
Liebe mich! Im Grünen Salon der Volksbühne 

Die Rückkehr von "Rocky"

"Ihre Einsätze bitte!"
Roger Vontobel "Wolf unter Wölfen" am Deutschen Theater
 

"Und der Himmel stand still - der Zauber ist weg"
Zum Tod des Schauspielers Sven Lehmann (1965–2013)
 

"Und auf einmal Stille"
André Erkau "Das Leben ist nichts für Feiglinge"
nach dem Roman von Gernot Gricksch

 

 

 

"Alexandrie Alexandra ha!"
Aime moi! Liebe mich! Im Grünen Salon der Volksbühne

 

Von Astrid Mathis

 
Der Titel sagt es schon, es geht um Liebe. Ja, ja, und nochmals ja. Allerdings erzählt Michaela Benn mit Mireille-Mathieu-Frisur und im Glitzer-Look erst einmal von monogamen Präriewühlmäusen. Das Publikum kann sich im Laufe des Abends Gedanken darüber machen, zu welcher Gattung Mäuse es sich zählt. Es wird also ein lustiger Abend. Christian-Gilles Sabot stimmt mit seiner Konzertgitarre das erste Duett an: "Ich liebe dich, mein Schatz. Wir lieben einander." Das wird nicht so harmonisch bleiben, ist aber ein guter Anfang. Denn am Anfang steht die Leidenschaft.

Christian-Gilles Sabot lässt die Musik seiner Jugendzeit auf die Zuhörer wirken. "Que je t'aime" haucht die Sängerin an seiner Seite, mal singt sie auf Deutsch, mal auf Französisch. Es soll ja jeder im Salon etwas vom Inhalt der Texte mitkriegen, denn die sind außergewöhnlich. Sie sind direkt. Michaela Benn singt: "Ich liebe dich, wenn dein Mund weich wird und dein Körper hart, wenn mein Körper auf deinem liegt wie ein totes Pferd." Jawohl, es ging ganz schön ab in dem Lied von Johnny Hallyday (Text: Jean Renard) aus dem Jahre 1969. Aber natürlich gibt es auch Lieder voller Liebestrauer und Zeilen wie "Ich höre in mir Worte, die ich nicht sagen werde... ich könnte sterben vor Einsamkeit... ich will, aber ich kann nicht." Die "Message Personal" kommt an.

Und schon betreten die Musiker auf die Bühne: Stefan Max Wirth mit Saxophon (Echo-Nominierung, ausgezeichnet als einer der besten deutschen Jazzsaxophonisten), Dirk Lüdtke am Bass, Tim Schönfelder Percussion (ehemaliger Schlagzeuger von Tim Fischer in der "Bar jeder Vernunft", Berlin).

Dann wird Klartext gesprochen, zackig in die Saiten gegriffen und im Diskobeat gesungen: "Alexandrie Alexandra ha!". Erst mal auf Französisch. "Ich übersetze", sagt Michaela Benn wenig später, es klingt wie eine Warnung. Was da locker anfängt, endet mit Hippie-Message: "Ich steck' in deinem Leben und gleich in dir". Es geht nicht anders, man muss lachen. "Ich trink' den ganzen Nil, wenn du nicht zu mir kommst", heißt es. Interessant. Das rhythmische "Je danse" im Refrain hält kaum in den Sitzen. Benn und Sabot nehmen das Lied mit Humor und gewinnen das Publikum. Den Abschluss des ersten Teils macht ein Stück einer 80er Jahre Band namens Les Rita Mitsouko. Die Sängerin Catherine Ringerund der Gitarrist Fréderic Chinin haben eine seltsame Beziehung und drücken diese in ihrem Lied "Marcia Baila" aus, das Sabot und Benn eindrucksvoll interpretieren. Pause.

Mireille Mathieu ist weg. Michaela Benn erscheint im zweiten Teil in neuem Gewand und beginnt mit der Geschichte einer einsamen Schlange, die sich morgens bis abends durch die Düne schlängelt und behauptet: "Mein Reich ist das Meer aus Sand, die schöne heiße Wüste." Ach, hat diese Geschichte schöne Zischlaute! Ein sprachliches Hors d'oeuvre hat die Schauspielerin noch auf Lager, den Zungenbrecher mit der Katze und den vielen Tatzen. Es ist die Einleitung für das Lied "Nachts sind alle Katzen grau", ein Duett mit Christian-Gilles Sabot, das von dem bunten Katzenvolk über der Stadt Paris erzählt. Schallalala und huhu! Noch eine Tiergeschichte. Diesmal von einem Marabu, der so gern ein Flamingo wäre. Der Song macht Stimmung, die Leute im Salon klatschen lachend mit. Viel haben sie gelernt über die Tierwelt an diesem Abend. Aber es soll doch um Liebe gehen. Eine Liebesgeschichte, die nicht gut endet, müssen sie an diesem Abend noch hören, muss das Saxophon von Stephan Max Wirth zum Klingen bringen: "Comme d'habitude"von Claude Francois. Besser bekannt ist dem Publikum die englische Variante "My way". Wir sind beim Adieusagen. Wie soll man das bloß sagen? "Du drehst dich weg - so wie immer... Ganz schnell geh ich aus dem Haus... Draußen ist es grau - so wie immer. Den ganzen Tag werde ich tun, als ob nichts wär'". Und so weiter. Schön, einmal den wahren Text zu dieser Melodie zu hören, die, von den Musikern so hingebungsvoll gespielt, die Worte von Michaela Benn unterstreicht.

Der Abend ist tatsächlich noch von einem Song zu toppen, ebenfalls ein Hit, der in Frankreich seinen Ursprung hat: "L'été indien" ("Indianischer Sommer" oder zu Deutsch "Altweibersommer") Wir hören, wie er beginnt: "Es war vor einem Jahr, es war vor einem Jahrhundert..." raunt Michaela Benn getragen ins Mikrofon, bevor sie im Refrain nur noch ein "Bababa babababa ba" anstimmt und alle mitsingen. Diese unglaublich tiefen Worte, die das Lied ankündigt, kann sich jeder denken. Das ist der Beweis dafür, dass es nur einer verdammt guten Melodie bedarf, um einen Hit für die Ewigkeit zu schaffen.

Fakt ist, französische Popmusik der 70er und 80er macht viel Spaß, vor allem, wenn sie von einem so starken Ensemble präsentiert wird.
Klar, dass es bei der Zugabe noch einmal heißt: "Alexandrie Alexandra ha ha". Auf die Fortsetzung kann man sich schon freuen.

Die Rückkehr von "Rocky"

Von Astrid Mathis

 
Der Boxring im Zuschauerraum, das hat schon was, das zieht. Aber erst mal ist alles Kuddelmuddel. Rocky alias Drew Sarich wirkt verloren zwischen den anderen Boxern; kein Wunder, dass sein Spint von einem anderen besetzt wird. Der Slow-Motion-Effekt verliert sich dann auch noch. Er ist nicht mehr "in", Jüngere sind am Zug. "Ich weiß, was ich will und was ich kann" singt Rocky, aber das will ihm keiner recht glauben. Der Golden Circle scheint utopisch für ihn. Held sein ebenso. Er ist Außenseiter: Der Kampf des Jahrhunderts wird angekündigt, und Rocky erkennt: "Meine letzte Chance, und ich hab' keine Chance." Herz hat er, aber keinen Spint. Egal. Er trainiert, und endlich, endlich, vielleicht durch den Kulthit "Eye of the tiger", kommt der Zuschauer zu Gänsehaut. Rocky rennt, die Bilder im Hintergrund jagen den Betrachter mit. Das muss alles einen Sinn haben, der Traum muss wahr werden, "wahres Glück", von dem er singt. Doch das wahre Glück, das ist noch woanders. Es ist Adriana, die Schwester seines Kumpels, die im Zoogeschäft arbeitet und in die Rocky ganz vernarrt ist. Diese kleine schüchterne graue Maus - er sagt: "Ich will die Welt anhalten für dich", und sie erwidert: "Du musst Achtung vor dir haben." Als Drew Sarich anfängt, den Titel "Die Nase hält noch" zu singen, da hat er sie und uns um den Finger gewickelt. Wietske von Tongeren ist bezaubernd und macht Dampf. Ihren Bruder singt sie an die Wand. Und was soll schon passieren, wenn eine solche Frau einem Mann den Rücken stärkt?! Als der Boxring zum Einsatz kommt und die Zuschauer im Musicaltheater Zuschauer des Kampfes werden, bei dem es nur einen Sieger geben kann, ist Jubel vorprogrammiert.

Mit Drew Sarich als "Underdog" und von der Art Verlierer, die wenigstens einmal den großen Coup landen muss, dazu eine strahlende Wietske von Tongeren, die mit jedem Ton direkt ins Herz singt, kann nichts schief gehen. Die klasse inszenierten Boxchoreographien sind Beilage, nicht Hauptgericht. Der Rhythmus, der im ersten Teil unstet daherkommt, findet letztlich zu einer Form, die den Zuschauer abholt und auf eine Reise einer tollen Filmfigur mitnimmt. "Rocky" feiert in Hamburg sein Comeback.

"Ihre Einsätze bitte!"
Roger Vontobel "Wolf unter Wölfen" am Deutschen Theater

 

Von Astrid Mathis

 
Roter Vorhang! Katharina Marie Schubert - in Glitzer-Aufzug mit Hut - eine Dame vom Varieté? Eine Nutte? - informiert über die Inflation. Mit französischem Akzent. Für diejenigen, die nichts darüber wissen, weil die Schule schlecht war oder sie zu besoffen waren. Es wird keine Komödie. Trotzdem nicht. In einem Wort: Es war recht, aber nicht billig - dieser Versailler Vertrag mit den Reparationszahlungen.

Der Goldregen kommt. Fällt auf das Roulette, über das Wolf läuft, springt! Dieses Berlin ist zum Kotzen. Alles sieht normal aus, aber es ist faul. Und beide, Petra und Wolf, sie sagen: "Ich mach' da nicht mehr mit." Die Nutte singt: "Schade, dass der Krieg vorbei ist", die Band rockt. Das ist die Revue, die immer sichtbare Band. Und immer wieder Bilder, die man nicht vergisst. Wolf und Petra. Er hat nichts, sie will nichts. Warum nicht zusammenbleiben? Als alles vorbei ist und Wolf auf dem Land hockt, sagt er, was er denkt. Es war doch nicht viel anders mit ihr als mit den andern, nur länger, weil netter, und an jeder Ecke steht eine andere, aber das ist es ja gerade, dass es eine andere ist, denn glücklich kann nur dieselbe machen. "Ich suche immer nur dieselbe", sagt er darum auch.

Also kein Geld, und er weiß, wenn er 24 Stunden zuvor beim Spiel gewonnen hätte, 17 auf Rot, dann wären sie verheiratet, aber er war ein Spieler, zur falschen Zeit Gewinn ist eben kein Gewinn. Er fragt seinen Freund von Zecke, der im Geld schwimmt, nach Barem. Für die Hochzeit. Die Hose, sie ist Wolf zu weit, seinem Freund mit Geld passt sie gerade so. Reichtum hinter Gittern. Er kann Geld haben, sagt von Zecke arrogant, wenn er es nicht verspielt, aber Wolf will nicht gequält werden. Soll er sein Geld behalten, der reiche Sack. Da schreit eben der: "Ich bin immer für dich da", und Wolf springt quer durch das Roulette. Rennt zu seiner Mutter, die wie versteinert daherkommt, unberührt, für Petra will sie das Geld geben, nicht für eine Hochzeit, aber Wolf will Peter, wie er seine Liebste nennt, rausholen aus dem Knast, in den sie gesteckt wurde, weil sie mal mit Männern mitgegangen ist, als sie kein Geld hatte, als sie Wolf nicht hatte. Die Vermieterin Frau Thumann, sie hat die Faxen dicke. Auf wen wartet das Mädchen? Doch nicht auf Wolf! Da kommt doch nie Geld. Und dann wird sie auch noch frech. Und wofür das alles? Peter, die nur mit Wolfs Jacke dasteht, so verloren. Sie könnten heiraten, sie hätten verheiratet sein können. Doch das Gefängnis kam dazwischen und das Spiel. Wolf: "Einmal noch und dann nie wieder." Und er weiß nichts von dem "nie wieder".

Er ist mit dem Rittmeister von Prackwitz und Studmann, die ihren Platz in der Welt mit dem Militärposten verloren haben, im Spiel. Alle lügen mit dem Mund, aber mit den Augen, das kann keiner. Alle spielen um des Lebens willen, Wolf spielt um des Spielens willen. "Wenn nichts mehr zu spielen ist, kann ich ja gehen", sagt Wolf schließlich. Und geht mit den beiden aufs Land, lässt Peter zurück, vergisst die Heirat. Es sieht nach Dorfidylle aus.

Peter Jordan (in der Rolle des von Prackwitz) springt ins kühle Nass, als wäre er zu Hause, als wäre alles gut, aber das ist es nicht. Studmann bringt es ans Licht. Pacht muss der Rittmeister zahlen, viel zu viel, ungerechtfertigt, an den Herrn Schwiegervater. Die teure Gattin ist für Studmann vollkommen, aber sie ist die Frau seines Freundes. Was zählt das am Ende, wenn eh alles den Bach runtergeht?

Ja, mein Gott! Als Michael Thalheimer "Emilia Galotti" inszeniert, den Buchschluss im eigentlichen Sinne gestrichen und eine Szene vorgezogen hat, - kurz und schmerzlos - hat sich kein Mensch aufgeregt, obwohl so eine Drama-Umsetzung schon aufregend sein kann. Viel mehr Aufregung gibt es aber, wenn Romane auf die Theaterbühne kommen. Wie soll das gehen?

"In Zeiten des abnehmenden Lichts" ist so ein Beispiel dafür. Ich habe den Roman gelesen, etwas überschätzt gefunden und mich in die Vorstellung des Deutschen Theaters gesetzt, um festzustellen, dass mich das Stück auch nicht vom Hocker reißt. Zu genau, meckerten manche, Phantasie fehlte, meinten andere. Kurzum, die Inszenierung ist weit entfernt von einem Knaller, selbst wenn die Schrankwand mit den scheinbar 100 Schubladen, Fächern und Türen ein starkes Bild ist und es schöne Momente gibt.

Nun also "Wolf unter Wölfen" von Hans Fallada. Um mir das Stück nicht durch die Lektüre zu verderben und unvoreingenommen reingehen zu können, habe ich das Lesen auf hinterher verschoben, was offensichtlich ein Vorteil war. Man kann keinen 1200 Seiten langen Roman auf die Bühne bringen, ohne Verluste in Kauf zu nehmen. Nicht mal einer Inflationsrevue kann das gelingen. Bisschen wenig Revue, vielleicht Musik hier und da. Erst nach eineinhalb Stunden schreit einem Wolf alias Ole Lagerpusch ordentlich Sound um die Ohren. Vielleicht geht Revue heute eher so.
Petra (Meike Droste) hält die Lederjacke ihres Bräutigams umschlungen wie ihn und kann sich doch nicht retten. Vor der gescheiterten Hochzeit, vor dem Gefängnis, vor einer Riesenschmach.

Wolf (Ole Lagerpusch) macht auf Spieler und wird doch irgendwie zum Spielball, ein Revoluzzer, seiner Mutter gegenüber und dem stinkreichen Freund. Er läuft über das Roulette, und wo auch immer er stehenbleibt, wird das Spiel weitergehen oder das Leben. Aber wer weiß das schon so genau?
Das könnte "Kabale und Liebe" werden. Wird es aber nicht. Die zwei Romanteile splitten auch das Stück, trennen die Helden. "Warum sollte ich tun, was du für richtig hältst, wenn alles, aber auch alles, was du machst, falsch ist?" fragt Eva ihren Mann, den Rittmeister, der ein Retter sein sollte in dieser verfahrenen Situation.

Sie sind ja doch alle irgendwie verloren, fehlt nur der Satz: Jeder stirbt für sich allein. Ihn denken wir uns. Wir sind bei Fallada. Mit Band. Und sehen sogar das Humorige zwischendrin.

"Wolf unter Wölfen" - vom Roman zum Stück, es ist tatsächlich geglückt, als tragikomische Revue mit Neigung zum Tiefgang, mit phantastischen Bildern, mit Gefühl.

Sicher kann man es anders machen, aber das erste Mal nimmt ihnen keiner mehr.

Nochmal am Sonntag, 29. September und Freitag, 25. Oktober 2013

"Und auf einmal Stille"
André Erkau "Das Leben ist nichts für Feiglinge"
nach dem Roman von Gernot Gricksch

 

Von Astrid Mathis

 
Tod - geht ganz schnell so was. Sagt Kim (Helen Woigk) aus dem Off. Steht am Grab mit Kopfhörern im Ohr, mit Vater und Oma an ihrer Seite. Regen perlt auf Blätter, Tropfen halten für Zehntelsekunden inne. Die Mutter ist tot, hat sich an der Halskette stranguliert. Wie ist das zu ertragen, das Leben danach? Kim, in Schwarz und dauerbeschallt von ihrer Musik - Gothic, na, klar -, sieht sich ihrem Vater Markus (Wotan Wilke Möhring) sprachlos gegenüber. Oma Gerlinde (stark: Christine Schorn) behauptet, sie würde verreisen und sagt statt dessen dem verheimlichten Feind, dem Krebs, den Kampf an. Weil sie Markus verschweigt, um die trauernde Familie nicht zu belasten, wird ihr die lebenslustige Pflegerin Paula (Rosalie Thomass) aufgedrückt, an die sich Gerlinde erst mal gewöhnen muss. "Erst wenn ich mir in die Hosen pisse, Mädchen, kannste mich duzen", begegnet ihr die Kranke trocken. Indessen lernt Kim den Schulabbrecher Alex aus reichem Elternhaus (Frederick Lau) kennen, Einzelkind: "Ich dachte, ich hätte keine Zukunft." Kim weiß darauf nur eine Antwort: "Zukunft wird überschätzt." Und Markus gesteht mitten im Party-Service-Job: "Manchmal möchte ich so laut schreien, dass meine Trommelfelle platzen, dann ist Ruhe, Frieden."

So sehr Markus und Kim auch unter dem Verlust leiden, so unfähig sind sie, miteinander umzugehen. Wirklich besser wird es nicht, als auffliegt, dass Gerlinde Familie hat und Paula diese mit der Krankheit von Gerlinde konfrontiert, woraufhin die Oma einzieht. Obwohl die Kekse, die Paula der Kranken gibt, für Stimmung sorgen und alle ja irgendwie näher zusammenrücken. Als Alex eines Tages Kims Verehrer verprügelt und er fürchtet, von der Polizei geschnappt zu werden, flieht er mit Kim nach Dänemark ans Meer. Dort verlebte Kim glückliche Tage mit ihrer Familie, dort will sie jetzt wieder glücklich sein. Klar, dass Markus und Gerlinde vor Sorge fast verrückt werden, bis Markus Kims Handy findet und die Nachrichten an ihre Mutter liest, die unabgeschickt im Postfach liegen. "Du warst überall... Es war, als ob mein Leben seinen Geschmack verliert", steht da, und auf einmal sind Markus und Kim in ihrem Schmerz verbunden, lässt auch er Trauer zu. Es kann nur einen Ort geben, an den Kim gegangen sein kann, und er wird sie finden.

Man könnte behaupten, der Film wird von der Geschichte getragen, aber die Musik, die trägt mit, die schreit, wenn keiner es kann, und weint anstelle von Markus, Kim und Gerlinde. Und trotzdem ist dieser Film einer mit komischen Momenten, in denen man einfach lachen muss, wie wenn Gerlinde sich an Haschkeksen berauscht und ihr Sohn sich empört. Oder wenn Paula am Telefon eine russische Diva mimt. Der Film ist in Balance. Immer wieder bringt er sich und den Zuschauer aus dem Gleichgewicht, um dann aufzufangen. Schließlich sagt Gerlinde zu Paula: "Du hast es doch gar nicht nötig, vorzugeben, ein anderer zu sein." Und dann ist plötzlich Frieden.

Die Kinotour-Vorführung von FEIGLINGE findet in Potsdam am 19. April - einen Tag nach Kinostart - im Thalia Kino statt. Beginn der Vorführung ist um 19.00 Uhr, Regisseur André Erkau und Rosalie Thomass (Paula) stehen anschließend gegen 20.40 Uhr für Fragen aus dem Publikum bereit!

"Und der Himmel stand still - der Zauber ist weg"
Zum Tod des Schauspielers Sven Lehmann (1965–2013)

 

Von Astrid Mathis

 
Es war Sonntag, der 7. April, als ich in Richtung Deutsches Theater spazierte, um nach 2011 wiederholt Gorkis "Kleinbürger" anzusehen. Wer weiß, was mich an jenem Sonntag dorthin gezogen hatte. Ich war schon ein paar Schritte vor dem Eingang hin und her gegangen - das Bild von Sven Lehmann im mittleren Schaukausten hatte ich gleich entdeckt - es mögen nur Sekunden gewesen sein. Ich sah immer wieder darauf, und auf einmal las ich: "Wir trauern um Sven Lehmann." Das haute mich um. Ich war erschüttert, spürte, wie meine Augen feucht wurden. Erst wenige Tage zuvor hatte ich einem Freund von ihm erzählt, erzählt, dass er krank sei und ich hoffe, er werde wieder gesund. Er sei eine Klasse für sich. Es war Mittwoch, 3. April, sein Todestag.

Sven Lehmann ist tot. Wo soll ich nur hin? Wie kann ich jetzt in dieses Stück? Ich wusste es nicht, erinnerte mich an meine erste bewusste Begegnung. Als ich 1997 zur Universität wechselte, hatte ich nur einen Grund: Ich wollte näher ans Theater, wollte zum Theater. Meine Studentenbude in Potsdam-Golm konnte mich nicht davon abhalten, die lange Fahrt nach Berlin nicht schrecken. Ich fuhr zum Deutschen Theater, erlebte Dieter Mann, Dagmar Manzel, schließlich Sven Lehmann. "Emilia Galotti", 2001. Erste Reihe. Studentenkarte. Luxus. Ich liebte ihn als Mephisto in "Faust I" und "Faust II" und schrieb begeistert über "Eines Tages lange Reise in die Nacht". Jeder Gang ins DT war es wert, gegangen zu werden. Sven Lehmann war es wert. Ich ging so oft ins DT, dass er mich schließlich grüßte, wenn er mir nachts in der Kastanienallee auf dem Fahrrad entgegenkam. Sein John in Hauptmanns "Ratten" war Theaterhochgenuss. Ich erlebte ihn in vielen Stücken, und jedes Mal war da diese unverkennbare Stimme, der knarrige Ton, das grandiose Spiel und Lehmanns eindringliche, zärtliche Art, die vergessen ließ, wo man sich befand. Man war in seiner Geschichte! Bei der Applausordnung sein schüchternes Lächeln, wenn Bravo-Rufe durch das DT hallten. Diesen Blick wird keiner vergessen.

Vor ein paar Monaten wollte ich noch einmal zu "Faust I". Wenigstens das. Sven Lehmann kaum im Spielplan und an diesem Tag Spielausfall wegen Krankheit. Ich ging statt dessen in Veiels "Himbeerreich". Aber wie soll man "Himbeerreich" finden, wenn man auf Goethe eingestellt ist? Es sollte nicht sein.

Jetzt also "Kleinbürger." Trotz allem. Weil ich eine Karte habe, weil ich eine gute Karte habe, weil ich nicht weiß, wohin in solch einem Moment. Natali Seelig alias Tatjana erzählt gleich zu Anfang von einem Zauber, den ich mit Sven Lehmann verbinde, der jetzt verschwunden ist. "Was spielen die da? Worüber streiten die?" will ich fragen. Sven Lehmann ist tot! Und Natali singt: "Und der Himmel stand still". Katrin Wichmann erklärt, dass sie mit unglücklichen Menschen nichts zu tun haben will und solchen, die sich selbst suchen, denn was glauben die zu finden, wenn sie sich gefunden haben? Vielleicht ist da gar nichts - und was dann? Ole Lagerpusch stolpert als Pjotr in eine Liebeserklärung für Jelena (Katrin Wichmann) und will nicht mehr zurück. Im Videoeinspieler sagt er: "Ich mache nichts immer wieder, nur, weil es mir einmal Spaß gemacht hat. […] Wenn ich Sehnsucht habe, was mache ich dann? - Trinken?!" Am Schluss des Stücks langer Applaus. Gejohle. Aufstehende Zuschauer. Ich gehe in die Bar und bestelle Wein wie Lehmann früher. Auf Sven! Der mir viele berührende und bewegende Theatermomente geschenkt hat. Chapeau! Möge er unvergessen bleiben.
 

© POTZDAM 2013