Kulturkampf
Inhalt
2002–2007 / 2008 / 2009–2011 / 2012


Hosennot

Elisabeth
Und ewig lockt der Tod


"Es gibt kein richtiges Leben im valschen" (R. Gernhardt)
Michael Nast und die Supernanny


Kultimulti und Bratwurst

Erinnerung an den Karneval der Kulturen 2007

VANITY FAIR Nr. 15, 5. Apri 2007, EDITORIAL

Lieber Axel!

Mein Freund, das Buch

Das Ende der Informationsgesellschaft

Schade
Martin Suter hat einen schlechten Roman geschrieben

Der Ulli und die Eva
Was Sie demnächst im TV erleben können

 

Hosennot
Von M. Gänsel

Die letzte Klage über modische Unzulänglichkeiten liegt eine Weile zurück. Dies mag einerseits einer Einsicht ins unabwendbare, für jetzt und alle Zeiten eben hässliche Berliner Mode-Geschick zu schulden, andererseits im nur splitterhaft wahrgenommenen Elend begründet sein – man schaut ja nicht mehr auf, wenn man auf der Straße unterwegs und einigermaßen selbstliebend ist.

In einem anderen Berlin lief gerade die Berliner Fashion Week – in einem anderen Berlin lief Frau P. neben Frau C. in ebenfalls hässlichen, aber immerhin passenden, sauberen Kleidern über Laufstege. In diesem anderen Berlin trägt die Dame Kleidchen, Röckchen, Höschen und sieht gar wundersam rein, frisch ganzkörperrasiert und zu keiner Schandtat bereit aus. Aber die Sachen PASSEN wenigstens.

Denn dieser m.W. seit geraumer Zeit an Kleidung gestellter Anspruch wird in MEINEM Berlin fröhlich ignoriert. Die Rede ist weder von diesen nicht vorhandenen Jungshintern noch von trotzig Wade zeigenden Mitvierzigern. Das ist alles nicht schön, schränkt aber die Träger nicht ein, ganz im Gegenteil – in solcherart Kluft lässt sich das Gemächte noch einmal so schön zurecht rücken.

Wer unter dem Nicht-Passen mal wieder am meisten zu leiden hat, sind die Mädchen. Die jungen Frauen. Und – ja – es sind die Vollproletten.

Das Sujet: ein auf die Höhe der Hüftknochen, welche je nach Körperfettanteil zu sehen oder nicht zu sehen sind, gequetschter und geschlossener Hosenbund. In der Mitte des Bundes befindet sich ein Reißverschluss, der sich schräg, Wellen werfend und zum Bersten gespannt über die zweite Hälfte von dem quält, was W. Droste „die Rolle der Frau“ nennt. Der Stoff links und rechts vom Reißverschluss tut dasselbe. Von vorn gesehen, schließen sich nun zwei knalleng bespannte Oberschenkel an, die durch den Druck und den schiefen Sitz der Hose nach innen gedrückt werden. Ab Knie stellt sich die Hose, weil un-mög-lich geschnitten, spontan nach links und rechts aus. Der Knöchel wird in den meisten Fällen geradeso vom Stoff erreicht. Von hinten ergibt sich ab Oberschenkel und Knie dasselbe Bild, der Hintern ist nicht mehr vorhanden, da die Hose mit ihren Taschen alles ab Kimme zu einem lustfernen Brei zusammenquetscht, der dann plötzlich einfach aufhört. Ganz unten, an den Füßen, wird zumeist etwas Flaches getragen, was nach eingehender Recherche einer Art Resignation zu schulden ist. Bei dieser anatomischen Ausgangslage ist ein Gang vorprogrammiert, der die Hüfte seitenwechselnd nach vorn schiebt und gleichzeitig hofft, dass die jeweils dazugehörenden Beine die Bewegung aufnehmen. Es folgt ein Schlenkern knieabwärts, das eher unkontrolliert wirkt. Das Mädchen KANN nix anderes als irgendwas Flaches dazu anziehen. Jeder Absatz forderte Verletzungen, böse.

Die Botschaft dieser Hosen ist: Ich habe dicke Oberschenkel.

Natürlich haben nicht alle der diese Hosen tragenden Mädchen dicke Oberschenkel. Aber diese Hosen MACHEN allen Mädchen dicke Oberschenkel.

Das sieht, einem jeden wird es einleuchten, selbst unter toleranten Schönheitsmaßstäben POTTEHÄSSLICH aus. Und macht doch bestimmt keine Laune. Wo haben die das her? Warum machen die das? Wer hat denen erzählt: Wenn du wahrscheinlich nicht so bald einen Ausbildungsplatz finden wirst, musst du solche Hosen tragen?

Liebe Gesellschaft, so was ist gemein. Ich meine, stellen Sie sich doch mal die vielen 14- und 15-Jährigen vor, die allabendlich stöhnend vor Erleichterung sich dieser Frechheit entledigen, mit rotgequetschten Oberschenkeln und Hinterbacken, die Füße dank Flachlatschen kaputt geschlurft. Das KANN doch nicht das sein, was wir der Jugend wünschen.

Ich möchte die Lesenden ermutigen: Sprechen Sie an. Weisen Sie darauf hin, dass es auch bequemer geht. Dass es nicht unmöglich ist, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Dass Reißverschlüsse länger als sechs Zentimeter oder gar Knöpfe sein können. Dass man abends etwas Schönes kochen könnte. Na ja. Aber versuchen Sie's. Bitte.

Elisabeth
Und ewig lockt der Tod
Von Astrid Mathis

 
Die Sissi in Berlin. Da ist sie nun, die Kaiserin Elisabeth von Österreich.
Hochgeschnürte Busen überspielen die fehlenden Wespentaillen im Foyer. Umsonst. Alles umsonst. Im Theater des Westens wird niemand den Glanz von Elisabeth überstrahlen.


(c) www.stage-presse.de (mit freundlicher Erlaubnis)

Düster beginnt das Musical, an das Harry Kupfer nach der Welturaufführung 1992 in Wien (Text: Michael Kunze, Musik: Sylvester Levay) ein weiteres Mal Hand angelegt hat. Der Meister hält sich nicht nur an die letzte Wiener Inszenierung, mit Uwe Kröger als Tod und Pia Douwes als Elisabeth bringt er auch noch die Originalbesetzung von damals mit. In Berlin ist das längst kein Garant für den Erfolg eines Musicals, das anderswo Jahre für ein ausverkauftes Haus sorgte. Und doch ... das Kabinettstück gelingt. Die abgestaubte Elisabeth hat wenig von dem Image, das ihr anhaftet - und berührt.
 
Luigi Lucheni (Bruno Grassini), der Mörder Elisabeths, steht zum wiederholten Male vor einem imaginären Gericht im Reich der Toten und soll die Hintergründe für seine Tat nennen. Er ist seit 100 Jahren nicht mehr unter den Lebenden. Wie Elisabeth, die er ja nur ermordete, weil er gerade in der Stadt war und den Grafen von Orléans nicht traf, den er eigentlich töten wollte. Hintermänner für das Verbrechen gibt es nicht. Nur den Tod. Und den liebte die Kaiserin. Also tat er ihr im Prinzip bloß einen Gefallen.
 
Die Schwebebühne ragt wie die Feile in den Raum, die sie später bei einem Attentat das Leben kostet. Der Tod spaziert darauf entlang und liefert sich ein Gesangsduell mit Lucheni. Das ist erst der Anfang. Kröger in Weiß und blond, Grassini in Schwarz und dunkelhaarig, so stehen sich die Männer gegenüber. Irgendwie sind sie einander absurd ähnlich in ihrer Selbstverständlichkeit, Elisabeth eines Tages zu besitzen. Von einem Engel haben beide wenig. Dieser Part steht Pia Douwes zu. Sie singt "Ich gehör nur mir", während sie im goldenen Käfig sitzt und die Grenzen ihres neuen Lebens erkennt. Ihre Kinder werden ihr entrissen, Franz Josef steht eher zu seiner Mutter als zu ihr. Was bleibt, ist die natürliche Schönheit, die sie fortan als Waffe benutzen wird. Und immer wieder tritt der Tod an sie heran und will sie entführen. Als sie heiratet, taucht er auf wie ein Unglücksprophet, als ihr Kind stirbt, thront er über ihr und streckt die Hand aus. Selbst als ihr Mann sie mit einer Geschlechtskrankheit infiziert, steht er zur Seite und erwartet die Kaiserin. Doch Elisabeth wehrt sich, sie schreibt Gedichte, sie liest Heine, sie schließt sich vor der Welt ein und weist ihren Sohn ab, als dieser um Hilfe bittet. Franz Josef bleibt dabei stets eine blasse Figur ohne Aussicht, seine Frau jemals wirklich zu erreichen. Derweil erzählt Lucheni ihre Geschichte lakonisch und schnörkellos mit einem Charme und Witz, der Elisabeth lange schon abhanden gekommen ist. Abhanden kommen musste. Viel zu ähnlich ist ihr Sohn Rudolf der früheren Elisabeth, als dass sie ihn ertragen und für ihn einstehen könnte. Sein Tod trifft sie, aber ihre Todessehnsucht bleibt noch unerfüllt. Der Tod wählt den Zeitpunkt selbst aus, wann der Schleier fällt.


(c) www.stage-presse.de (mit freundlicher Erlaubnis)

Uwe Kröger spielt seine Rolle unterkühlt und mit der Gewissheit, dass ihm am Ende ohnehin alle erliegen. Jeder Blick, jeder Ton spiegelt eine Selbstgefälligkeit wider, die zum Tod passt, jedoch begehrendes Verlangen vermissen lässt. Pia Douwes hingegen ist mit ihrer Stimmgewalt und Zartheit eine Elisabeth voller Sehnsucht und Selbstzweifel, voller Liebe, Wut und Angst, die trotz Eitelkeit und Egoismus unprätentiös und verletzlich daherkommt, weil ohne Fächer alle Schwächen offensichtlich sind. Schwächen, die sie menschlich machen und eine andere Elisabeth zeigen, als auf den Souvenirs abgebildet ist, eine Frau, die sich vor dem Nichts fürchtet.
Zweifellos bleibt die Musik in der Berliner Inszenierung ein Meisterwerk, das in der Musicalszene nicht ohne Grund seinen hohen Stand behauptet, und trägt den Zuschauer mit eingängigen Melodien durch die Zeit der k.u.k.-Monarchie. Allerdings ist das spartanische Bühnenbild auffällig, besonders in der zweiten Hälfte sticht die Leere ins Auge. Schwarze Federn hier und da, die Flügel des Todes, sind eben kein Ersatz für eine goldene Kutsche, von der er herabsieht, der personifizierte verführerische Tod. Wenngleich der rote Schleier von dem ebenso rot gefärbten k.u.k.-Doppeladler provokant in den Raum fällt und ebenfalls seinen Reiz hat. In einem Rot, vor dem sich Tod und Elisabeth teils tanzend, teils kämpfend bewegen, wohlbemerkt.
 
Das Schachbrett, auf dem sich Erzherzogin Sophie (Christa Wettstein) mit ihrem Gefolge in Wien neue Spielzüge überlegt, ist lediglich Projektion im Hintergrund. Genauso wie vieles andere. Und auch das goldene Bett, auf dem Rudolf und Tod "Die Schatten werden länger" singen, fehlt, und um so schmerzlicher, wenn sich die Männer statt dessen auf einem in eine schwarze Feder eingebetteten unverzeihlichen dünnbeinigen Küchentisch räkeln. Das Karussell in der Bordell-Szene fällt kurzerhand weg, die Dirnen marschieren einfach so auf die Bühne.
 
Manch Bühnenbild-Reduktion tut nicht weh, wiederum manch Rück-Projektion tut nicht not. Doch Gottseidank! - weder Projektion noch Reduktion vermögen die Klasse der Inszenierung zu schmälern. Mit Pia Douwes als Elisabeth hat das Theater des Westens seit dem 20. April eine Elisabeth in der Hauptstadt, an die sich nicht nur eingefleischte Musicalfans noch lange erinnern werden.

"Elisabeth" läuft noch bis zum 28. September im Theater des Westens Berlin.

"Es gibt kein richtiges Leben im valschen"
Michael Nast und die Supernanny
Von M. Gänsel

Die Medialisierung des Privaten inform von Kindererziehungs-, Wohnungseinrichtungs- und Schuldenverminderungs-Sendungen im TV lockt heutzutage keinen Empörer mehr hinter seiner FAS hervor. Man kann ja wegschauen. Es kann jedoch guten Gewissens behauptet werden, dass gerade diese Sendungen den Bloggereien des Internets den Weg nicht nur geebnet, sondern geradezu vorgeschrieben haben. Dort (TV) entscheidet das von pfiffigen Praktikantenredakteuren definierte Ausmaß des Elends über die Teilnahme an einer öffentlichen Destruktion, hier (Internet) entscheide ICH – glaube ich zumindest. Denn eine wichtige Voraussetzung möchte der Blogger hier wie dort erfüllen: Wasche Wäsche, möglichst schmutzig. Dies dient der Unterhaltung.

Natürlich gibt es auch Blogs, die sich der Information, der Aufklärung verschrieben haben. Die schaffen es jedoch m.W. nicht, aus der virtuellen Spielwiese hinaus und Samstagnacht in einen Berliner Club hinein zu treten, was sich durch den Mangel an Massentauglichkeit bei ersteren und einer Art Big-Brother-Anmutung von letzterem erklären lässt.

Dass die plötzliche Popularisierung zum Massengeschmack die Initiatoren gern selbst überrascht, weil das eigentliche Anliegen durch ein kicherndes, von Highlight zu Highlight jagendes Klatschpublikum verwässert wird, hat die BILD-Blog-Lesung unlängst gezeigt. Beim hier im Mittelpunkt stehenden Autor Michael Nast führte es an jenem Samstagabend dazu, dass sich die Protagonisten seiner Kolumnen entsprechend ihrer in diesen Kolumnen beschriebenen sozialen Defizite verhielten und ihm schlicht ihre Aufmerksamkeit versagten. Herr Nast und Herr Korittke lasen (Und beide können nicht sehr gut vorlesen, leider.) sieben Texte – mindestens vier gingen im an- und ab-, später nur noch anschwellenden Nichtigkeitenaustausch der Club-Besucher unter. Es sei jedoch erwähnt, dass sich im dem Podium zunächst befindlichen VIP-Bereich (ein VIP-Bereich, hahaha!) eine wackere Schar „Bekannter“ (Nast) und sicher auch „Freunde“ (Nast) befand, die sich an der Beschreibung ihrer unmittelbaren Vergangenheit offensichtlich nicht satthören konnten und ein ums andere Mal pointenunproportional in Gekreische und Gejohle ausbrachen, weil sie wussten, was jetzt kommt.

Michael Nast beschreibt in diesen Kolumnen Erlebnisse und Beobachtungen aus seinem Leben. Mit nicht allzu forscher Feder dekonstruiert er sein Sozialleben, nicht ohne diese Dekonstruktion in Ansätzen zu erklären, ja gar zu verhindern zu suchen. Erst denunziert er „Bekannte“ (Nast), dann, wenn er gehasst wird, bemüht er sich, „seine Worte mit Bedacht zu wählen. Mir gelingt es nicht immer.“ (Nast) Für die Bekannten und Freunde von Herrn Nast ist es ein Leichtes, ihren Stand auf der Nast'schen Sozialkontakt-Skala herauszufinden: Sie müssen nur lesen. Es gibt ganz offensichtlich ein Beleidigungs-Ranking.

Da in den meisten Fällen nur ein Satz zitiert oder eine Handlung beschrieben wird, um die Unzulänglichkeit des „Bekannten“ (Nast) zu belegen, korrespondieren die Texte sehr schön mit den o.g. TV-Sendungen. Da erfahren wir ja auch nur, dass Frau B. zu doof ist, ihren Kevin schön mit Vorlesen und allem ins Bett zu bringen. Ob Frau B.'s Doofheit in diesem Fall zu erklären, ja vielleicht mit einer Klugheit bezüglich Pferdepflege oder Dendrochronologie zu ergänzen ist, verbleibt im Unklaren. In keinem der (gelesenen) Texte Nasts etwa gibt es einen wirklichen Anhaltspunkt dafür, warum um alles in der Welt er mit solchen Leuten unterwegs ist. Das Schreiben seiner Kolumne führt als Rechtfertigung in die „Ich brauchte das Geld / den Ruhm / den Lacher“-Richtung. Was zählt, ist die Pointe. Was unterhält, ist nicht kompliziert. Oder vielschichtig. Oder realistisch.

Fürderhin sei angemerkt, dass eine Selbstbezichtigung als „Spießer“ (Nast) seit den späten 90ern mitnichten ein „hohoho“ provoziert. „Spießer“ existiert nicht mehr als Kategorie, weil der Gegenpool (Revoluzzer, Langhaariger, den Gruftis kritisch gegenüberstehender Freak) nicht mehr existiert. Durch unsere Gesellschaft flattern zehn bis zwanzig Werte, deren Annahme jedem einzelnen von uns zur Wahl steht. So er sie erkennt. TV und ein fast anrührend zu lesendes Rumlavieren um das Thema Arschficken* fördern diese Erkenntnis mitnichten.

So sei denn abschließend bemerkt, dass der Herr Michael Nast natürlich schreiben kann, was er will. Eine Lesung von ihm kann hier nur bedingt empfohlen werden. Für Menschen, die selbstreferentielle Systeme gern aus zoologischem Interesse beobachten, sowie für alle Leute, die Michael Nast kennen, mit ihm bekannt werden wollen oder ihn mal gekannt haben, mag ein solches Event einen im TV-Sinne unterhaltenden Charakter haben. Erwarten Sie nicht mehr. Aber auch nicht weniger.

 

* „Irgendwann sagte mein Bekannter zu meiner Freundin: 'Frauen, die sich nicht in den Arsch ficken lassen, sind in meinen Augen keine Frauen.' Ich sah auf. Hier lief definitiv etwas in die falsche Richtung. Susanne sah mich fassungslos an. Ich sah meinen Bekannten fassungslos an. Es war mir unangenehm. Ziemlich unangenehm sogar. Mein unangenehmes Gefühl werden jetzt sicherlich die wenigsten verstehen können. Ich kann den Grund dieses Gefühls leider nur folgendermaßen erklären: Es ist so ein Spießerding.“ Mehr? Hier!

Kultimulti und Bratwurst
Von Ste

Natürlich ist Regen angesagt. Ich gehe trotzdem hin.

In der U-Bahn nach Kreuzberg denke ich an meinen ersten Besuch beim Karneval. Es muss bald elf Jahre zurückliegen. Alles war wunderbar bunt und ungezwungen. Und heute?

Ich steige Hallesches Tor aus der U-Bahn. Der Geruch von Bratwurst schlägt mir schon auf dem Bahnsteig entgegen. Ich kämpfe mich zum Blücher Platz und sehe eine Stadt von Fressständen. Wo kommen die alle her? Was wollen die hier? Wer soll das alles essen?

Es muss diese ureigene Angst des Berliners sein, dass er, sobald er seinen Bezirk verlässt, Gefahr läuft einen grausamen Hungertod zu sterben. Diese Angst zieht die Fressstände dieser Welt magisch an. Wer in diesem Moment irgendwo anders eine Bratwurst essen möchte, muss schon selber grillen. Alle Imbissstände des Erdballs sind hier versammelt.

Haben Sie schon einmal eine Brauerei besucht? Das erste, was die Leute bemerken, ist der extrem unangenehme Gestank der vergorenen Hefe. Es gibt nur ein Gegenmittel: ein Glas Bier. Selbst die Arbeiter einer Brauerei trinken jeden Morgen eins. Es hilft.

Also kaufe ich mir, um mich nicht gleich zu übergeben, eine Bratwurst als Gegengift. Aber nicht am erstbesten Stand. Erfahrungsgemäß schwanken die Preise erheblich. Ich kenne meine Stadt. Und wie erwartet changiert das Angebot zwischen einem Euro fünfzig und drei Euro. Ich steige bei eins fünfzig in das Geschehen ein. Gute Wahl. Ohne Anstehen, nicht roh, nicht verbrannt und vom Holzkohlegrill. Das Brötchen zwar nicht geröstet, aber ausreichend groß, sodass man die Wurst halten kann, ohne sich die Finger zu verbrennen. Der Senf durchschnittlich. Insgesamt gute Wahl.

Mit der Wurst in der Hand gehe ich über das „Volksfest“ und schaue mich um. Neben Bratwurst gibt es noch: Schweinenackensteaks in zwei Variationen (knochentrocken oder blutig), Asiapfannen in unzähligen Varianten, allerhand Exotisches, also irgendwelche Getreideklopse mit seltsamen Gewürzen und natürlich Crepes. Die Fressstände wechseln sich mit Bier- oder Calpiständen ab.

Besonders originell sind die Cocktailstände. Ein „Calpi“ besteht in der Regel aus einigen Stücken strohiger Limone (oder noch grüner Zitrone), ganz viel Eis, einem Strohhalm und ein wenig Flüssigkeit, bei der der Konsument davon ausgeht, dass sie Alkohol enthält. Das Ganze für vier Euro. Ich rechne ja manchmal noch um: Acht Mark für ?üssiges Limonen/Zitronen- Wassereis? Ja, ja, ich weiß. Ich bin ein Kleingeist. Der Calpi gehört nun mal dazu. Ist doch Kult. Also schweig.

Die Bratwurst ist vertilgt und ich versuche mich vom Volksfest zum Umzug durchzukämpfen. Ich gehe einen kleinen Umweg, unter der Hochbahn entlang. Hier sind nicht so viele Leute und die Hochbahn schützt vor dem einsetzenden Regen.

Ich erreiche den Umzug, und sie sind alle schon da. Kein Gedanke daran einen Blick auf den Umzug zu werfen. Tausende Menschen versperren mir den Zugang. Aus sicherer Entfernung schaue ich auf die Masse am Strassenrand. Es ist das typische Berliner Publikum.

Der Karneval der Kulturen ist ein Aushängeschild unserer Stadt. Da muss man hin. Hier ist doll was los. Also kommt jedermann aus seinem Loch gekrochen und bestaunt das bunte Treiben und vor allem sich selbst. Alle sind sie da, um den bunten Zug zu bestaunen.

Wagen um Wagen zieht vorüber, laut bejubelt vom Straßenpublikum. Biedere Senatsangestellte, Seit an Seit mit Kreuzberger Altlinken, beklatschen euphorisch die einzelnen Wagen des Umzuges. Ältere, bierbäuchige Herren wippen im wilden Takt von afrikanischen oder Techno Rhythmen und alternative Szenetypen sind ganz verzückt, wenn die Südamerikanische Folklore Gruppe El Condo Pasa anstimmt.

Und immer wieder Samba Truppen. Seit in der UFA Fabrik, in den achtziger Jahren, die ersten Hausfrauen anfingen den Samba Grundrhythmus zu pauken, gehört dieser Trommelschlag einfach zu Berlin. Egal, ob Karneval, Marathon oder Love Parade.

Ich gehe auf der anderen Straßenseite dem Zug entgegen. Die Musik wummert laut genug und ich schaue fassungslos auf das sich mir bietende Schauspiel.

Ohne Alkohol ist das nicht zu ertragen. Ich schaue mich nach einem günstigen Bier um. Auch hier schwanken die Preise ähnlich dramatisch wie bei der Bratwurst. Ein fliegender Händler erhält den Zuschlag. Becks für einen Euro und kalt. Was will man mehr.

Ich gehe weiter. Die Flasche Bier lässig in der Hand. Das ist ja heute so üblich. Als ob manauf einer Party wäre. Ich habe mich immer gefragt, was die Leute mit den leeren Flaschen machen. Da ist doch Pfand darauf. Doch man stellt die Flasche einfach am Straßenrand ab. Es gibt inzwischen eine ganze Armee von Flascheneinsammlern. Da muss die Stadtreinigung gar nicht mehr groß ran. Ganz wie in der Natur. Was am Wegesrand übrig bleibt, wird von den Aasgeiern aufgesammelt. Das ist, glaube ich, das, was die Mächtigen mit Chancen der Globalisierung meinen. Es bleibt für jeden was übrig.

Das erste Bier ist weg und muss gleich wieder raus. Es gibt ausreichend mobile Plastikklos. Ich überwinde meinen Ekel und frage mich, was so schlimm daran ist in einer Chemie-Fabrik in Nordkorea zu arbeiten. Im Vergleich zum Berliner Dixiklo muss ein Job dort die reine Wellnesskur sein.

Das nächste Bier ist teurer und wärmer. Dafür regnet es immer stärker.

Ich schaue mir die Leute an. Obwohl das Wetter schlecht ist, könnte man doch ein wenig besser angezogen sein. Es überwiegen kurze Hosen und T-Shirts mit einem lustigen Spruch auf der Brust. Mit dem aufkommenden Regen werden farbenfrohe Regenjacken übergeworfen. In der Regel Exemplare der Sorte: „Für Sie und Ihn im gleichen Look“.Oder: „Kaufe zwei zum Preis von einem!"

Und Sandalen. Jeder Mann und jede Frau trägt Sandalen. In China ist die Abbildung der Füße eines Menschen verpönt. Wir können noch viel von anderen Kulturen lernen.

Trotz der Regenjacken spannen alle eine Regenschirm auf. Die Masse wälzt sich den Zug entlang. Die einen entgegen der Zugrichtung, die anderen mit ihm. Wie viele Augen wurden an diesem Tag durch Regenschirme ausgestochen? Nicht wieder kleinlich sein. Da muss man drüber stehen. Immerhin brauche ich keinen eigenen Regenschirm. Mit ein wenig Geschick kann man sich trockenen Fußes unter den ganzen Schirmen bewegen ohne nass zu werden.

Das zweite Bier muss, kaum ist es getrunken, schon wieder raus. Bin ich froh ein Mann zusein. In Berlin gibt es nicht nur den Tiergarten, den man(n) vollpinkeln kann. Die Hasenheide tut es auch. Nicht auffallen, so bin ich erzogen worden. Also schiffe ich im Kollektiv in die Berliner Parklandschaft.

Erleichtert drehe ich nochmals meine Runde. Eine Gruppe schlägt wie jedes Jahr am Rande des Geschehens auf ihre Trommeln ein. Trotz des Regens lohnt sich der Anschlag auf mein Hörvermögen. Endlich kommt ein wenig Stimmung auf.

Doch das Wetter verleidet die Show. Ich gehe weiter, wieder in Richtung Volksfest. Die erste Wurst liegt zwar noch schwer im Magen, doch um das Fest unbeschadet zu durchqueren, brauche ich noch eine. Ich wähle den gleichen Stand wie zu Beginn. Immer noch eine gute Wahl.

Der Regen hat aufgehört. Die Sonne kommt heraus. Ich hab genug gesehen. Nach Hause oder noch wo anders hin? Ich schaue an mir hinab. Trotz Regenjacke und der Schirme der anderen bin ich durchnässt. Die Klamotten hängen feucht an mir herunter. Ich habe den penetranten Geschmack von Bier und Bratwurst im Mund. Bestimmt rieche ich auch danach. Nein, so möchte ich nicht durch meine Stadt gehen. Ich muss unter die Duscheund danach ausgiebig die Bratwürste aus den Zähnen putzen. Also fahre ich nach Hause. Danach vielleicht noch einmal los? Schließlich habe ich ein Tagesticket, dass bis drei Uhr morgens gilt. Es ist doch noch nicht mal halb acht.

Nein. Es ist genug für heute. Vier Stunden Karneval der Kulturen 2007 – das reicht.

VANITY FAIR Nr. 15, 5. April 2007, EDITORIAL
Von M. Gänsel

Offizielle Variante

Nun ist geschehen, was jeder Chefredakteur mehr als den leeren Bildschirm fürchtet: In der letzten Ausgabe fegte der Fehlerteufel wie ein Orkan kyrillschen Ausmaßes durch ausgerechnet die Titelgeschichtenseiten – ganze elf Knut-Absätze wurden doppelt, das Ende des Artikels gar nicht gedruckt. Ich möchte Sie, liebe Leserinnen und Leser, um Verzeihung bitten. Und ich möchte Ihnen, liebe aufmerksamen E-Mail-Schreiberinnen und -Schreiber, für die zahlreichen Hinweise danken. Dieser Fehler ist unverzeihlich. Ist er das? Es mag ein Zeichen dafür sein, dass auch hier Menschen am Werk sind, die in diesen hektischen und druck(sic!)reichen Zeiten Fehler machen. Es mag ein Zeichen dafür sein, dass wir von VANITY FAIR Deutschland auch nur Menschen sind. Fehler sind dazu da, gemacht zu werden. Wir haben daraus gelernt. Das vorliegende Heft möchte mit Ihnen nach vorn schauen. Wir haben es mit besonderer Sorgfalt erarbeitet. Ihr Ulf Poschardt

Inoffizielle Variante

Neiiiiiiiiiiiiiiiiin.
Nein.
NEIN. Bitte. Das KANN nicht wahr sein. Das IST nicht wahr. NICHT in MEINEM Heft. Ihr HABT sie doch nicht mehr alle. Wo BIN ich hier eigentlich. Was MACHT ihr eigentlich den lieben langen ganzen Tag? BILDER GUCKEN?!
Nein. Nö. Ohne mich. Ich GLAUB das nicht.
WIE KONNTE DAS PASSIEREN? Seitenumbruch falsch eingestellt? Copy paste vertauscht, falschen Platzhalter für Kasten X gewählt? MIR EGAAAAAAAAAAL! Das geht GAR NICHT!
Das sieht AUS! Das sieht aus wie... wie Hochzeitszeitung! Schüler-Blättchen, huch da hab ich gepennt, tut mir leid, na kann ja mal passieren, Schwamm drüber, neues Heft neues Glück – WIR SIND HIER KEIN KARNEVALS-FLYER-HERAUSGEBER!
Wie oft wird die Zeitung vor Drucklegung gelesen. WIE OFT? WIE OFT! WIE OFT?!

Ich werde keine Köpfe rollen lassen. Aber ich werde, das sei Ihnen versprochen, liebe Leserinnen und Leser, in Zukunft ALLES selber machen. Ihr Ulf Poschardt

Lieber Axel!
Von M. Gänsel

Lieber Axel,

in unserem Gästebuch wünschst du dir einen Text zum Thema Rauchverbot. Einen ausgewogenen, nicht so einseitigen wie schon geschrieben. Was Aktuelles. Brandheißes.

Lieber Axel, aktueller als schon beschrieben geht nicht. Mehr gibt es nicht zu sagen. Denn: Niemand auf der ganzen großen weiten Welt will deinen Kindern blaue Suppe ins Gesicht blasen. Kein einziger im großen weiten Abendland will dich und die deinen vergiften, meucheln, morden. Dieses Nichtwollen kann und darf aber nicht zwangsläufig zur Hochjubelei aktueller Rauchverbotspläne werden. Ein Verbot bleibt ein Verbot. Rauchende Menschen wollen niemandem Böses, wann wird das denn bitte begriffen. Uns stehts bis hier, uns die Jacke anzuziehen, auf der kulleräugige Dreijährige durch Rauchschwaden schimmern. Wir entern Balkone, rennen auf Veranden, stehen im zugigen Zwischenraum, hocken im Hinterzimmer und laufen -zig Treppen zum Raucherpoint – was wollt ihr denn noch?

Du, lieber Axel, willst mit deinen Kindern in Potsdam essen gehen. Gut so weit. Dafür brauchst du wahrscheinlich noch ein bisschen Geduld oder den Mut, nach Berlin zu fahren. Dort kannst du bereits mit deinen Kindern essen gehen. In rauchfreien Restaurants oder rauchfreien Räumen in Restaurants. So what.

Leider entfällt also ein weiter Text zum Thema. Das Verbot an bestimmten Orten zu rauchen wird seine verdienten Folgen haben. Ihr werden schon sehen, was ihr davon habt. Wenn ihr unter euch seid. Nur Nichtraucher. Wenn es heimelig und puschig nach Multivitamin und Schnupfen riecht und eine satte Note Knoblauch in der Luft liegt.

Der Bunderegierung schlage ich Hornhaut-, Bier- und Arschgeweih-Verbote vor. Weil darunter auch andere Menschen leiden, krank und kaputt werden. Danke fürs Interesse.

Mein Freund, das Buch
Von M. Gänsel

Als zum Jahresende 2006 im SZ-Magazin die Zahl 60 Millionen auftauchte und die Gesamtanzahl aller Bücher auf der ganzen Welt meinte, dachte d.V. noch an einen Druckfehler. Kurze Überschlagsrechnungen in Freundesrunde ergaben allerdings eine gewisse Wahrscheinlichkeit, die durch Buchdruck-Erfindungsdaten, Druckerpressen-Streuung und kontinentale Eigenheiten unterstützt wurde. Denis Scheck spricht von ca. 80 000 Neuerscheinungen im Jahr. Rechnen Sie mal hoch. Das kommt hin. Sogar, wenn man optimistischst 80 000 mal 100 rechnet, was die vergangenen hundert Jahre mitnichten verdient haben, landet man bei nur 8 Mio für Deutschland.*

Es wäre also nicht möglich, selbst wenn man alle Bücher aller Welt nähme, jedem in D wohnenden Menschen ein Buch in die Hand zu drücken. Die Bücher reichen nicht! Leeren Auges stünden 20 Millionen dumm in der Gegend rum.**

Das erstaunt doch sehr. Die persönliche Wahrnehmung, mit der eigenen privaten Bibliothek einen immerhin kleinen Ausgleich gegenüber dem Nachbarn zu schaffen, muss über Bord geworfen werden. Die Vorstellung, jeder Potsdamer hätte in einer Hand ein Buch, muss eine idiotische Vorstellung bleiben. Nicht nur, weil man die Leute nicht mobilisieren können tät. Nein: Die Bücher reichen nicht! Meine Bände wären wahrscheinlich schon drei Häuser weiter alle, vielleicht auch erst am Ende der Straße. Vielleicht gibt es kleine Dorfgemeinschaften im Bergischen Land, wo sich das Mensch-Buch-Verhältnis durch die Bibliothek der Grundschule noch im 1-zu-0,8-Verhältnis befindet!

Es gibt zu wenig Bücher für die Menschen. Und dann ist bei den 60 Mio noch jede Menge Dreck dabei, wohlwollend geschätzte 40 Mio. Das ist doch zum Weinen, da wird doch die Geistesseele verrückt.

Zur Produktion von Büchern sei an dieser Stelle mitnichten aufgerufen. Lassen Sie's. Aus genannten Gründen.

Bei Wikipedia steht, dass 47% aller Deutschen Bücher nur zu schulischem Behufe lesen. Denen ist diese kleine Aufregung hier also reichlich schnuppe. Die wollen gar kein Buch, schon gar nicht in Händen. Denen sei versichert, dass sie angesichts der aktuellen Lage zu keinem Zeitpunkt Gefahr laufen eins abzukriegen. Wir 53% müssen nämlich sehen, wo wir bleiben. Ich verborg nix mehr. Ich hüte den Schatz. Ich hege den heimlichen Wunsch, einmal all meine Familienmitglieder in einem Berg von Büchern zu fotografieren. Ich streife an den Regalen vorbei und über die Rücken... nur 60 Millionen... und ihr hier bei mir.


* Buch = erschienenes Buch, die Auflage bleibt hier außen vor.

** Mit Mobiltelefonen können Sie übrigens die Straßen pflastern, ich verwehre Ihnen da die Zahlen für Deutschland, recherchieren Sie selbst. Nur so viel: Jeder Deutsche könnte ganz geschmeidig ein Telefon in der Hand halten, auch Opi und Kevin hätten eins, und – nicht nur eins.

Das Ende der Informationsgesellschaft
Von M. Gänsel

Horst Evers weist mit seinem Buchtitel „Gefühltes Wissen“ sehr treffend darauf hin, worum es in diesen Zeiten an der Informationsfront geht: Genau SO viel bzw. wenig zu wissen, dass man damit durchkommt. Ein Häppchen, eine Ahnung, ein „Ja, hab ich schon mal gehört“ genügt – alles andere, weitere führt zu einem Wust an Information und Inhalt, den weder der Gesprächspartner noch man selbst wirklich wissen will. Denn die große Suppe hinter dem Häppchen besteht gern aus ordner-dicken Akten mit Statistik, fiesen Fotos aus kriegsgebeutelten Ländern oder Vorstandspersonalien, deren Genealogie jeden biblischen Vater-von Sohn-des-Nachweis in den Schatten stellt.

Während der letzten Wochen bekam d.V. in Zeitung oder TV folgende Aussagen bewiesen:

Die Sache mit dem Grünen Punkt und dem Dualen System ist eine ganz krumme Nummer, nützt ökologisch überhaupt nichts, wird aber aus Heuschreckengründen fortgeführt.

Russland ist eine sehr sehr wehrhafte Demokratie.

BSE, Vogelgrippe und Ebola sind / waren keine wirkliche Bedrohung, wurden aber aus Heuschreckengründen großgemacht.

In fünfzig Jahren werden, egal was die Politik hierzulande beschließen wird, entweder die Jungen oder die Alten erheblich finanziell belastet.

Was tun mit diesen Informationen? Was denken, wenn sich nichts ändert? Wer einmal an stürmischem Novemberabend versucht hat eine Nahost-Diskussion am Stammtisch zu führen, weiß wovon hier die Rede ist. Wir wissen zuviel. Wir wissen zumindest soviel, dass dieses Wissen frustriert. Weil ein Wissen um die Welt nicht eben ein Verständnis für die Welt bedeutet. Wir dürfen nicht sagen, dass wir mitnichten einverstanden sind, dass Frau Merkel Herrn Putin die Plattform für seinen Kommentar zum Journalistinnenmord gibt. Wir können den Gelben Sack aus unserer Küche verbannen, werden aber weiterhin für die Entsorgung der Gelben Tonne zahlen müssen. Wir dürfen wissen, können aber nicht handeln. Wozu dann wissen? Dass ich weiterhin Rindfleisch kaufe, ändert nichts daran, dass der Markt einbricht. Dass ich über private Altersvorsorge nachdenke, ändert nichts daran, dass ganz viele RentnerInnen im Elend leben.

Was tun mit diesen Informationen? Aufklärung. Wir sind ja nicht aus dem 18. Jahrhundert gekommen ohne unsere Hausaufgaben zu machen. Nun sitzen wir vor dem Bienchen für sehr gute Leistungen und – was tun mit diesen Informationen?

Es scheint mitnichten eine Möglichkeit zu sein die Zeitung oder den TV-Sender zu wechseln – denn auch dort wird jeden Tag eine andere Sau durchs Dorf getrieben – und die KonsumentInnen wirken nicht eben zufriedener.
Sie wirken genauso draußen wie man selbst. Was also tun in einer Gesellschaft, die aus lauter Außenseitern besteht? Die Jugend – Probleme. Die Alten – Probleme. Die Armen – Probleme. Die Reichen – Prozesse. Was tun mit dem Wissen von Information, das niemanden schert?

Horst Evers empfiehlt Reduktion. Keine Recherche im Internet. Kein Zeitungsartikel, der länger als zwei Absätze ist. Diagramme nur überfliegen, Statistiken anzweifeln.

Kümmern Sie sich um ihren eigenen Dreck. Wenn Sie etwas genau, wirklich genau wissen wollen, dann fragen Sie sich, ob es Ihrer Sache nützt. Lassen Sie sich nicht verführen, das Elend um die Ecke ist nicht ihres, also bitte.

Es könnte nämlich wirklich, wirklich ungemütlich werden, wenn mehr Leute als Sie und ich drauf kommen, das Gesellschaft ohne Menschen nicht so richtig supi funktioniert. Also halten Sie sich gerade, den Blick schön bescheiden, das Tagwerk brav erledigt – damit. Niemand. Etwas. Merkt.

Schade
Martin Suter hat einen schlechten Roman geschrieben
Von M. Gänsel

Das einzige, was Martin Suters neuer Roman „Der Teufel von Mailand“ (diogenes) im geneigten Leser (nach V.W., radio eins) hinterlässt, ist neben einem nachhaltigen Gefühl der Unzufriedenheit (siehe unten) ein immer gern begrüßtes neues Wort, zumindest d.V. neu: Der neue Suter sei – wie immer – ein „page turner“, so dem Schutzumschlag zu entnehmen. Doch das ist, Worttreffer hin, Suterneigung her, unwahr.

Seine Fans würden ihm den neuen Roman danken, so Paul Kersten (NDR). Auch dies ist unwahr.

P.K. bekennt jedoch auch freimütig: „Mich hat's gelangweilt.“ Dies nun ist wahr. Nicht, weil Herr Kersten ja am besten wissen muss, was ihn langweilt, und damit in diesem Fall nur schwer lügen können tät – der neue Suter IST langweilig. Und Ihnen soll gern erklärt werden, warum.

Fürs erste lahmt die Hauptfigur. Sonja Frey ist weit davon entfernt, die seelischen Tiefen eines Urs Blank, eines David Kern oder Konrad Lang zu erreichen. Suter mags nicht beschreiben: Das Seelische, das Innere, die Kellerleichen, das Umtreibende, Fragende, Tiefe. „Keine Schnörkel. Keine langatmigen Beschreibungen,“ schwärmt Uschi Neuhäuser (Stern) auf dem Schutzumschlag über wahrscheinlich nicht diesen Roman Suters. Konrad Lang (Small World) etwa wird ja nicht langatmig, er wird überhaupt beschrieben. Erklärt. Nahe gebracht. Durch Dialoge, Szenen, zuschauen darf der Leser, nachempfinden, eine kleine Menschenwelt ists. Doch Sonja Frey: Nicht die hellste Drogenkonsumentin, daher synästhetisch veranlagt plus (passend) paranoid. So wird sie eingeführt. Dann passieren ein paar komische Sachen, Sonja wird kreische-paraniod, fängt sich dann aber und „recherchiert“ und kommt einer vermeintlichen Außerweltverschwörung auf die lahme Schliche, das ist es dann aber doch nicht, Sonja muss hui erkennen, dass es gegen ach sie geht und wups, ist der Roman aus. Frau Frey ist unsympathisch und dümmer als der Leser. Will er das, der Suter? Liegts am Weiblichen?

Fürs zweite, und das ist wirklich schade, ist auch der Erzähler dümmer als der Leser. Denn der führt den „Bösen“ mit zaunpfahlgroßer Harmloserei ein. Jener heißt Manuel und ist homosexuell. Als der am Ende dann plautdimautz die Katze aus dem Sack lässt und Sonja vor Überraschung fast vom Baumstumpf fällt, betet der Leser insgeheim, dass sich Sonja, Manuel UND der Erzähler irren und das Ganze ir-gend-wie anders aufgelöst wird. Nix da, das isses.

Zum dritten und letzten ist der Tod eines Wellensittichs einfach nur gemein und erfüllt hier mitnichten die Schockfunktion des von Urs Blank (Die dunkle Seite des Mondes) gekillten Kätzchens. Hier, vogelverachtend, ists Sonja, die angesichts der Ungeheuerlichkeit des Teufels/Manuels in Angst verfällt. Der Leser dreht die Augen. Dort aber beschert einem Suter beim Lesen einen veritablen Luftanhalter, der mit der Erkenntnis des wahren Wahnausmaßes Blanks einherzischt. Hier hingehunztes, liebloses Mustersticken. Dort ein feines Stück intelligente Literatur.

Ein Seitenkrepierer (kein neues Wort) von Martin Suter, das ist enttäuschend. Beim nächsten Mal bitte wieder mehr Mühe geben. Damit Uschi Neuhäuser („Martin Suter, das As.“) die Wahrheit sagt.

Der Ulli und die Eva
Was Sie demnächst im TV erleben können
Von M. Gänsel

Ulrich Wickert: Eva, wie schön.

Eva Herman: Ulli. Dass wir zwei hier...

Ach Eva. Was wir alles mitgemacht haben.

Ach du Ulli du. Und nun bist du im Ruhestand und ich suspendiert.

Ach Eva. Das tut mir so leid.

I wo. Ich bin doch ein großes Mädchen, Ulli (lacht perlend). Weißt du, ein bisschen freut mich das auch alles irgendwie ein Stück weit.

Ja du kleine Hexe. Immer schon gerne provoziert, was? Ach Eva. Als du mir damals die Haare mitten in einer Schalte mal eben verwuschelt hast. Ach Eva.

Du Ulli?

Ja?

Wollen wir über mein Buch...?

Ähem. Ja klar. Erzähl doch mal.

Also...

Warte mal, ich hab einen Einspieler vorbereitet. Also nicht ich jetzt. Die andern, ähem, die... Kollegen. Danach reden wir dann.

Es läuft ein Stückchen Redaktionshuberei, wetternde mittelalte Frauen, ein meckernder alter Mann, lachende Teenager. „Das Eva-Prinzip“ wird mehrfach in Großaufnahme gezeigt.

Ja also, das war jetzt der Einspieler.

Du Ulli, ich find das jetzt schon bisschen einseitig, weißte. Ich meine, klar provozieren und so, aber du hast ja da nur die Gegner gezeigt.

Ähem, also Eva, meine Liebe... also wir haben einfach nur Gegner gefunden, weißte.

Echt?

Ja, weil... also so vor der Kamera jedenfalls, da wollte keiner sagen, dass du Recht hast.


Siehst du, Ulli! Es ist zum Schreien! Alle denken wie ich, aber keiner traut sich's zu sagen! Ulli! SAG DU WAS!

Ach Eva.

SAG WAS!

Ein Gläschen Rotwein?

Du hast mich das letzte Mal 1984 besoffen gesehen. Dabei bleibt's auch.

Eva!

Ulli!

Jetzt komm, lass mal über dein Buch reden. Ist doch n schönes Buch geworden. Der Umschlag hier schön bunt. Und SO ein schönes Foto von dir. Also Eva, wenn ich nicht wüsste, dass ich viel zu alt für dich bin...

Scheiße Ulli, das macht überhaupt keinen Spaß hier. Ich dachte, wir zwei alten Hasen...

Also Eva. Aus Scheiße Gold machen kann ich nur in den Tagesthemen. Das hier ist anders. Authentischer, weißte. Haste das mit'm Grass gesehen?

Soll ich Pfeife rauchen oder was.

Du könntest ja auch was gestehen oder so.

Hab ich doch schon!

Und wie fühlst du dich jetzt?

Eigentlich ganz gut. Ich meine, dass die jetzt alle gegen mich sind und so, das ist schon hart.

Aber du bist ja ein großes Mädchen.

Ganz genau (lacht perlend).

Sag mal, Eva. Denkst du wirklich, dass die Emanzipation...

... schuld ist an der Kinderlosigkeit. Ja.

Und dass der Mann stärker...

... als die Frau ist, ja. Du hast mich doch auch immer im Armdrücken besiegt.

Stimmt.

Weißte, Ulli, das sind einfach naturgegebene Dinge. Ich denk mir das ja nicht aus. Ich sage ja nur, wie es ist!

Hm.

Galileo hatte es auch nicht leicht.

Na jahaha (lacht meckernd).

Du BIST einfach stärker als ich. Und schlauer. Und ich meine, so eine Büchersendung hier, die könnte ich nicht... also nee. Talkshow ja, ich meine, so das Menschliche, das können wir Frauen ja eher. Aber so Bücher, so komplizierte...

Ja klar, das kann natürlich nicht jeder (fährt sich durchs Haar).

Und da schreib ich halt drüber, was ich so sehe.

Aber du siehst natürlich VIEL besser aus als ich.

Ja klar. Aber das ist eben Frauensache (lacht perlend).

Obwohl ICH natürlich auch ZIEMLICH gut aussehe.

Türlich, Ulli. Du bist ein ganz ganz schicker Mann.

Aber wenn ich dich richtig verstehe, soll ich mir ja die Hände schmutzig machen.

Das „Jagen“ ist ja nicht wörtlich gemeint, Ulli.

Aber wenn ich dich richtig verstehe, soll ich, wenn wir jetzt mal so denken, dein Ernährer sein. Du ziehst die Kinder groß und kochst. Ich arbeite und bring das Geld nach Hause.

Du bist doch viel zu alt für mich...

Aber ich koche AUCH gern.

Du KANNST doch mal kochen.

Ich WILL aber nicht „mal“, ich will IMMER kochen!

Das GEHT aber nicht, Ulli!

Na, wir sind ja auch nicht zusammen.

Ein Glück.

Ach Eva. Und nun?

Nix nun. Ich mach weiter.

Was'n?

Ach Ulli.

Ach Eva.

(weint)

Du schaffst das schon, Eva.

Ach Ulli.

Eva, ich danke dir ganz ganz herzlich für deinen Besuch und empfehle Ihnen hiermit dringend den Schutzumschlag von diesem Buch hier.

© POTZDAM 2002- 2008