Es war mir selbst
nicht recht glaubhaft: doch tatsächlich, ich hatte einem
Treffen mit Willy Patze zugestimmt! Meine Freundin sprach mir
ihr Beileid aus. Doch was sollte ich tun? In der Redaktion unseres
Volksblattes hatte er alle rebellisch gemacht: Er müsse
unbedingt mit mir Kontakt aufnehmen. Nun lag seine Adresse auf
meinem Schreibtisch und starrte mich an. Einmal mehr bereute
ich, einst auf Schloss
Calberwisch halbherzig Notizen gemacht und danach
Willy Patzes Sensationsgier, seine Pressegeilheit mit einem
kurzen Artikel befriedigt zu haben. Und er war noch nicht satt.
Vor dem Fenster hörte ich Donnergrollen.
Eine Viertelstunde vor der vereinbarten
Zeit traf ich in Stendal ein und begab mich - die Adressnotiz
in der Hand - zu seiner Wohnung. Wenn er mich nur nicht zu lange
aufhielte
Ich hatte mir vorgenommen, nach spätestens
einer Stunde mit der Begründung aufzubrechen, ich müsse
irgendeinen Termin wahrnehmen. Gedacht, geklingelt!
Willy Patze wohnte im Erdgeschoss. Eine
ältliche Frau öffnete die Tür. Ungekämmt
und ohne Gebiss. Ich zuckte zusammen. "Ähem, Frau
Patze? Guten Tag, ich bin von der Volksstimme." Sie räusperte
sich mit Auswurf und erwiderte gelassen: "Volksstimme?
Die Zeitung? Daran ham wir jar nich' mehr jedacht." Innerlich
frohlockend versuchte ich betont freundlich abzuwinken: "Wenn
ich ungelegen komme, Frau Patze, dann kann ich auch
"
"Wie? Ungelegen? Wer ist denn da?"
hörte ich verwirrt eine Männerstimme rufen. Dann hörte
ich Schlurfschritte. Und dann stand eine angegraute Gestalt
in knittrigen, unsäglich schlecht sitzenden, grünen
Hosen vor mir. Ebenfalls ungekämmt. Mit Gebiss. Willy Patze!
Ich sollte ruhig hereintreten, meinte er
lächelnd. Das war mir schon nicht geheuer. Auf meinem Gang
vorbei an der mich musternden zahnlosen Alten, über die
knirschenden Dielen, durch den engen Flur stach mir die zugemüllte
Küche ins Auge. Sie passte ganz zum Flur. Ebenso das Wohnzimmer,
aus dem mir ein Geburtstags-Gabentisch entgegengrinste und in
welches mich der tatterige Patze bat, der zwar seinerseits einen
freundlichen Eindruck machte, ansonsten aber bereits ziemlich
tot schien.
Den Gabentisch also ignorierte ich und stand
nun in der Mitte der Wohnstube. Da von meinen Gastgebern keine
Aufforderung zum Platznehmen kam, half ich nach: "Ich darf
mich doch setzen?" - "Aba selbstvaständlich!
Und Sie kriejen auch sofort ein'n Kaffee", versprach die
nuschelnde Matrone im Hintergrund. "Sehr schön",
entgegnete ich, und ließ mich möglichst weit entfernt
von Willy Patze nieder. (Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch
nicht, dass ich vergeblich auf Kaffee warten würde. Statt
dessen nahm Frau Patze ein - angeblich mit Wasser - gefülltes
Sektglas dezent beiseite.)
Dann ging es los. Der Schönhausener
Willy Patze breitete wortreich seine Aktenordner vor mir aus
und hielt mir zum wiederholten Male all seine Orden - einschließlich
dem Bismarckschen - vor die Nase. Gut dass ich mit einer Duldsamkeit
zu ihm gefahren war, die ich höchstens einmal im Jahr an
den Tag zu legen imstande bin! Es roch dumpfig. Ich hörte
Patzes Dickdarmgeräusche. Man nahm das Alter des Haushaltes
und seiner Bewohner mit allen Sinnen wahr. Leicht würgte
ich.
Nach etwa zwanzig Minuten nicken und freundlich
tun unterbrach ich seinen Redeschwall: "Haben Sie nicht
ein Bild von der Eiche? Ein Foto?" Patze schlug die Augen
nieder. Dann erhob er sich. Konzentrierte Spannung! "Na,
ich habe ein ganzes Resevar
Sie werden umfallen!"
versicherte er. "Gut dass ich sitze!" lachte ich kalauernd
und augenrollend. Dann legte er mit großer Gebärde
eine kleine Fotografie auf den Tisch.
Und dann setzte langes Schweigen ein.
Ich fiel beim Anblick der Eiche natürlich
nicht um. Sie sah eben aus wie eine Eiche. Ob Bismarck-, Friedens-
oder Patze-Eiche. Ich merkte, dass ich mit meiner Recherche
und Willy Patze nicht vorwärts kam.
Mir war nicht klar warum, doch auf einmal
fing er an, von seiner Schwester zu erzählen, die vormals
in Kleinmachnow lebte. Ich musste dem Greis Einhalt in seiner
Schilderung gebieten: "Halt, Herr Patze! Können Sie
mir vorher nicht noch etwas über den eigentlichen Stein
des Anstoßes, nämlich den der Friedenseiche sagen?
Ab wann lag er eigentlich unter dieser ominösen Eiche?"
Eine einfache Frage, schien mir. Willy Patze aber musste lange
überlegen, setzte mehrmals zu einer Antwort an, um schließlich
zu äußern: "Die Eiche wurde 1871 gepflanzt
"
Unwirsch fiel ich ihm ins Wort: "Das weiß ich."
Er aber hatte planlos weitergeredet und endete: "
bei
einer Sedan-Feier unter der Eiche!"
Ich kam ins Grübeln. Unter der Eiche?
Wie groß war sie denn nach der Pflanzung schon, wenn darunter
Gedenkfeiern für berühmte Entscheidungsschlachten
gegeben werden konnten? Gattin Patze hatte auch etwas dazu zu
sagen und unterbrach ihren Willy aus der Küche rufend:
"Hast du nich' mal erzählt, wo der Krieg zu Ende jewesen
war?" Nun zeigte sich wiederum Patze verwirrt: "Welcher
Krieg?" Gedanklich schlug ich mit der Faust gegen meine
Stirn. Es klingelte an der Tür und Frau Patze öffnete.
Erneut griff der stammelnde Alte ohne erkennbaren
Grund auf eine nichtswürdige Anekdote zurück: "Der
Kaiser schenkte Bismarck vier Kanonen, und die sind in Schönhausen
mit der Eisenbahn angekommen." Krampfhaft hielt ich mein
Schreibgerät in der Rechten, gierend nach allem, was es
wert sei, aufgeschrieben und veröffentlicht zu werden.
Ich stutzte. "Ja und?" frug ich. "Das bedeutet
genau was?" Patze starrte leer vor sich hin. Patze wusste
es selbst nicht mehr, mutmaßte ich. Er, der immerhin schon
87 Jahre auf dem Buckel oder sonstwo hatte. Sekundenschlaf?
Inzwischen waren zwei mittelalte Damen,
womöglich Gratulanten, in die Stube getreten, die sich
flüsternd im Hintergrund aufhielten. Anfangs dachte ich
mir nichts dabei. Als aber Patze und ich während unseres
Fragegesprächs von beiden Damen fotografiert wurden, musste
ich die ganze Sippe für verrückt halten. Das bewies
mir schon allein die Frage seiner Gattin: "Ach, und Sie
haben einen eigenen Fotoapparat für Ihre Aufnahmen mitgebracht?"
Ich lächelte so gut es mir noch möglich war.
Doch da!
"Wieprecht! Otto Wieprecht aus Schönhausen!"
setzte der alte Patze neu an. Vielleicht hatte der den Stein
gelegt? Oder er wusste etwas über die Steinlegung? Ich
hoffte es. "Der Wieprecht war Eisenbahner und mit dabei,
als die Kanonen im Park aufgestellt wurden." Ich legte
meine Hand auf seine. "Ganz ruhig, Herr Patze. Erzählen
Sie mir einfach etwas über die Eiche", bat ich. "Irgendwas."
"Also!" er holte tief Luft. "Ich
wurde am 28. Juli 1914 geboren." Das wusste ich bereits.
Bei seiner Mutter, die Raumpflegerin dort war, wuchs er sozusagen
im Schloss auf. Das alles war mir nicht neu. Dass er einen Kastellan
namens Karl Lorenz ins Spiel brachte, wunderte mich erst, bedeutete
allerdings wenig. So blieb mir nichts anderes übrig, als
ihm für meinen Artikel die Worte in den Mund zu legen:
"Und bei Nacht und Nebel wurde der Stein entwendet. War
es nicht so?" - "Ja, genau", antwortete er bereitwillig.
"Das war vor etwa zehn Jahren, nicht wahr?" - "Ja."
Braver, alter Junge!
Plötzlich leuchteten seine Augen wie
die eines Kindes. "Wissen Sie, ich habe ja noch ein ganz
dolles Ding gedreht!" leitete er eine Erzählung ein
- die er keine zwei Sätze später wieder aufgab! "Ich
kann mich nicht konzentrieren", herrschte er die Frauen
an. Ich frug mich, wohin die Gratulanten hätten flüchten
sollen: ins rosafarbene Schlafzimmer, in den kaum Platz bietenden
Flur, in die zerlotterte Küche, die nur Stehplätze
bot, oder ins Bad? "Wir sind ja gleich fertig", beruhigte
ich ihn.
Gerade wollte ich ihm einreden, er wisse
nicht, wo sich der Stein heutzutage befindet, da blitzte es
wieder in seinem Gedächtnis auf: "Ulli Boß aus
Schönhausen hat ihn!" Auch das war mir bekannt. Der
stammelnde Alte aber war hellwach. "Der hat aber versucht,
es zu vertuschen. Auf Umwegen. Trotzdem habe ich ihn erwischt.
Warten Sie mal!" Ich war erschöpft, wollte gehen,
hatte meinen Notizblock bereits weggesteckt
"Ich
will Ihnen alles so übersichtlich geben wie möglich."
Hätte mich nicht bleierne Müdigkeit innerlich gelähmt,
ich hätte zusammenbrechen wollen vor Lachen: Patze breitete
zahllose Zeitungsartikel desselben Inhalts vor mir aus, entweder
mit seiner Visage oder der Eiche oder Kanonen darauf und griff
von einer Kopie zur nächsten, ohne zu merken, dass sie
fast alle identisch waren.
Irgendwann schien die Gelegenheit günstig,
und gespielt entsetzte ich mich darüber, wie spät
es schon sei. Einleuchtend begründete ich meinen Aufbruch.
Willy Patze stand auf und nahm meine Hand. Das konnte ich ertragen.
Nicht aber, dass er sie nicht mehr loslassen wollte. "Naja,
jedenfalls ist der Stein noch nicht zurück", fasste
ich die fruchtlosen Recherchen des Nachmittags zusammen. "Jaja,
der Stein ist zurück
", sinnierte er geistesabwesend.
Ich bekam große Augen. "Wie bitte? Nun doch? Der
Stein ist bereits zurück?" Patze horchte auf. "Ach
was, der Stein ist nicht zurück", korrigierte er sich.
Gut dass dies so rasch geklärt wurde. Ich biss auf meine
Unterlippe. Noch immer ruhte meine zitternde Hand in seiner
zittrigen. "Sie müssen mir einen letzten Gefallen
tun", behauptete Herr Patze dreist. "Sie müssen
mit uns Kaffee trinken!" Er ahnte nicht, dass es auch das
letzte war, was ICH wollte.
An der Tür frug er, weiterhin die Kaffeeverabredung
im Kopf: "Wann sind Sie wieder in Stendal?" - "Herr
Patze, ich komme nur nachts zum Tanzen immer hierher",
lachte ich. Das schreckte den wackeren Eiche-Fürsten nicht.
"Sie können mich jederzeit besuchen," bot er
an, "ich brauche nämlich nicht mehr so viel Schlaf,
wissen Sie."
Natürlich werde ich mich hüten!
Erleichtert verließ ich die winkenden Patzes, wissend,
ich würde Frau Lüttke anrufen müssen, um irgendeine
Wahrheit herauszubekommen
[Wie wird der Kampf weitergehen, das
Geheimnis des "Steins der Bismarck-Friedenseiche"
zu ergründen? Wird das Seehauser Fußvolk doch noch
seine feierliche Rückführung bewirken? Was weiß
Frau Lüttke? Zu viel? Immerhin hat sie damals unter ebenjener
Eiche gesessen, Gänse gehütet und den Stein mit Kernseife
abgescheuert. Warum die Eiche gefällt werden sollte, wie
Johanna Lüttke über Willy Patze denkt und wie eigentlich
die Tischlerei Ritzmann knietief in der ganzen Sache steckt,
lesen Sie in einem Monat an gleicher Stelle - zum vorerst letzten
Mal.]
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