Das Grauen wohnt parterre!
Die altmärkische Sage vom Stein der Friedenseiche (Teil3)
Von Mathias Deinert und Astrid Mathis

Es war mir selbst nicht recht glaubhaft: doch tatsächlich, ich hatte einem Treffen mit Willy Patze zugestimmt! Meine Freundin sprach mir ihr Beileid aus. Doch was sollte ich tun? In der Redaktion unseres Volksblattes hatte er alle rebellisch gemacht: Er müsse unbedingt mit mir Kontakt aufnehmen. Nun lag seine Adresse auf meinem Schreibtisch und starrte mich an. Einmal mehr bereute ich, einst auf Schloss Calberwisch halbherzig Notizen gemacht und danach Willy Patzes Sensationsgier, seine Pressegeilheit mit einem kurzen Artikel befriedigt zu haben. Und er war noch nicht satt. Vor dem Fenster hörte ich Donnergrollen.

Eine Viertelstunde vor der vereinbarten Zeit traf ich in Stendal ein und begab mich - die Adressnotiz in der Hand - zu seiner Wohnung. Wenn er mich nur nicht zu lange aufhielte… Ich hatte mir vorgenommen, nach spätestens einer Stunde mit der Begründung aufzubrechen, ich müsse irgendeinen Termin wahrnehmen. Gedacht, geklingelt!

Willy Patze wohnte im Erdgeschoss. Eine ältliche Frau öffnete die Tür. Ungekämmt und ohne Gebiss. Ich zuckte zusammen. "Ähem, Frau Patze? Guten Tag, ich bin von der Volksstimme." Sie räusperte sich mit Auswurf und erwiderte gelassen: "Volksstimme? Die Zeitung? Daran ham wir jar nich' mehr jedacht." Innerlich frohlockend versuchte ich betont freundlich abzuwinken: "Wenn ich ungelegen komme, Frau Patze, dann kann ich auch…"

"Wie? Ungelegen? Wer ist denn da?" hörte ich verwirrt eine Männerstimme rufen. Dann hörte ich Schlurfschritte. Und dann stand eine angegraute Gestalt in knittrigen, unsäglich schlecht sitzenden, grünen Hosen vor mir. Ebenfalls ungekämmt. Mit Gebiss. Willy Patze!

Ich sollte ruhig hereintreten, meinte er lächelnd. Das war mir schon nicht geheuer. Auf meinem Gang vorbei an der mich musternden zahnlosen Alten, über die knirschenden Dielen, durch den engen Flur stach mir die zugemüllte Küche ins Auge. Sie passte ganz zum Flur. Ebenso das Wohnzimmer, aus dem mir ein Geburtstags-Gabentisch entgegengrinste und in welches mich der tatterige Patze bat, der zwar seinerseits einen freundlichen Eindruck machte, ansonsten aber bereits ziemlich tot schien.

Den Gabentisch also ignorierte ich und stand nun in der Mitte der Wohnstube. Da von meinen Gastgebern keine Aufforderung zum Platznehmen kam, half ich nach: "Ich darf mich doch setzen?" - "Aba selbstvaständlich! Und Sie kriejen auch sofort ein'n Kaffee", versprach die nuschelnde Matrone im Hintergrund. "Sehr schön", entgegnete ich, und ließ mich möglichst weit entfernt von Willy Patze nieder. (Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass ich vergeblich auf Kaffee warten würde. Statt dessen nahm Frau Patze ein - angeblich mit Wasser - gefülltes Sektglas dezent beiseite.)

Dann ging es los. Der Schönhausener Willy Patze breitete wortreich seine Aktenordner vor mir aus und hielt mir zum wiederholten Male all seine Orden - einschließlich dem Bismarckschen - vor die Nase. Gut dass ich mit einer Duldsamkeit zu ihm gefahren war, die ich höchstens einmal im Jahr an den Tag zu legen imstande bin! Es roch dumpfig. Ich hörte Patzes Dickdarmgeräusche. Man nahm das Alter des Haushaltes und seiner Bewohner mit allen Sinnen wahr. Leicht würgte ich.

Nach etwa zwanzig Minuten nicken und freundlich tun unterbrach ich seinen Redeschwall: "Haben Sie nicht ein Bild von der Eiche? Ein Foto?" Patze schlug die Augen nieder. Dann erhob er sich. Konzentrierte Spannung! "Na, ich habe ein ganzes Resevar… Sie werden umfallen!" versicherte er. "Gut dass ich sitze!" lachte ich kalauernd und augenrollend. Dann legte er mit großer Gebärde eine kleine Fotografie auf den Tisch.

Und dann setzte langes Schweigen ein.

Ich fiel beim Anblick der Eiche natürlich nicht um. Sie sah eben aus wie eine Eiche. Ob Bismarck-, Friedens- oder Patze-Eiche. Ich merkte, dass ich mit meiner Recherche und Willy Patze nicht vorwärts kam.

Mir war nicht klar warum, doch auf einmal fing er an, von seiner Schwester zu erzählen, die vormals in Kleinmachnow lebte. Ich musste dem Greis Einhalt in seiner Schilderung gebieten: "Halt, Herr Patze! Können Sie mir vorher nicht noch etwas über den eigentlichen Stein des Anstoßes, nämlich den der Friedenseiche sagen? Ab wann lag er eigentlich unter dieser ominösen Eiche?" Eine einfache Frage, schien mir. Willy Patze aber musste lange überlegen, setzte mehrmals zu einer Antwort an, um schließlich zu äußern: "Die Eiche wurde 1871 gepflanzt…" Unwirsch fiel ich ihm ins Wort: "Das weiß ich." Er aber hatte planlos weitergeredet und endete: "…bei einer Sedan-Feier unter der Eiche!"

Ich kam ins Grübeln. Unter der Eiche? Wie groß war sie denn nach der Pflanzung schon, wenn darunter Gedenkfeiern für berühmte Entscheidungsschlachten gegeben werden konnten? Gattin Patze hatte auch etwas dazu zu sagen und unterbrach ihren Willy aus der Küche rufend: "Hast du nich' mal erzählt, wo der Krieg zu Ende jewesen war?" Nun zeigte sich wiederum Patze verwirrt: "Welcher Krieg?" Gedanklich schlug ich mit der Faust gegen meine Stirn. Es klingelte an der Tür und Frau Patze öffnete.

Erneut griff der stammelnde Alte ohne erkennbaren Grund auf eine nichtswürdige Anekdote zurück: "Der Kaiser schenkte Bismarck vier Kanonen, und die sind in Schönhausen mit der Eisenbahn angekommen." Krampfhaft hielt ich mein Schreibgerät in der Rechten, gierend nach allem, was es wert sei, aufgeschrieben und veröffentlicht zu werden. Ich stutzte. "Ja und?" frug ich. "Das bedeutet genau was?" Patze starrte leer vor sich hin. Patze wusste es selbst nicht mehr, mutmaßte ich. Er, der immerhin schon 87 Jahre auf dem Buckel oder sonstwo hatte. Sekundenschlaf?

Inzwischen waren zwei mittelalte Damen, womöglich Gratulanten, in die Stube getreten, die sich flüsternd im Hintergrund aufhielten. Anfangs dachte ich mir nichts dabei. Als aber Patze und ich während unseres Fragegesprächs von beiden Damen fotografiert wurden, musste ich die ganze Sippe für verrückt halten. Das bewies mir schon allein die Frage seiner Gattin: "Ach, und Sie haben einen eigenen Fotoapparat für Ihre Aufnahmen mitgebracht?" Ich lächelte so gut es mir noch möglich war.

Doch da!

"Wieprecht! Otto Wieprecht aus Schönhausen!" setzte der alte Patze neu an. Vielleicht hatte der den Stein gelegt? Oder er wusste etwas über die Steinlegung? Ich hoffte es. "Der Wieprecht war Eisenbahner und mit dabei, als die Kanonen im Park aufgestellt wurden." Ich legte meine Hand auf seine. "Ganz ruhig, Herr Patze. Erzählen Sie mir einfach etwas über die Eiche", bat ich. "Irgendwas."

"Also!" er holte tief Luft. "Ich wurde am 28. Juli 1914 geboren." Das wusste ich bereits. Bei seiner Mutter, die Raumpflegerin dort war, wuchs er sozusagen im Schloss auf. Das alles war mir nicht neu. Dass er einen Kastellan namens Karl Lorenz ins Spiel brachte, wunderte mich erst, bedeutete allerdings wenig. So blieb mir nichts anderes übrig, als ihm für meinen Artikel die Worte in den Mund zu legen: "Und bei Nacht und Nebel wurde der Stein entwendet. War es nicht so?" - "Ja, genau", antwortete er bereitwillig. "Das war vor etwa zehn Jahren, nicht wahr?" - "Ja." Braver, alter Junge!

Plötzlich leuchteten seine Augen wie die eines Kindes. "Wissen Sie, ich habe ja noch ein ganz dolles Ding gedreht!" leitete er eine Erzählung ein - die er keine zwei Sätze später wieder aufgab! "Ich kann mich nicht konzentrieren", herrschte er die Frauen an. Ich frug mich, wohin die Gratulanten hätten flüchten sollen: ins rosafarbene Schlafzimmer, in den kaum Platz bietenden Flur, in die zerlotterte Küche, die nur Stehplätze bot, oder ins Bad? "Wir sind ja gleich fertig", beruhigte ich ihn.

Gerade wollte ich ihm einreden, er wisse nicht, wo sich der Stein heutzutage befindet, da blitzte es wieder in seinem Gedächtnis auf: "Ulli Boß aus Schönhausen hat ihn!" Auch das war mir bekannt. Der stammelnde Alte aber war hellwach. "Der hat aber versucht, es zu vertuschen. Auf Umwegen. Trotzdem habe ich ihn erwischt. Warten Sie mal!" Ich war erschöpft, wollte gehen, hatte meinen Notizblock bereits weggesteckt… "Ich will Ihnen alles so übersichtlich geben wie möglich." Hätte mich nicht bleierne Müdigkeit innerlich gelähmt, ich hätte zusammenbrechen wollen vor Lachen: Patze breitete zahllose Zeitungsartikel desselben Inhalts vor mir aus, entweder mit seiner Visage oder der Eiche oder Kanonen darauf und griff von einer Kopie zur nächsten, ohne zu merken, dass sie fast alle identisch waren.

Irgendwann schien die Gelegenheit günstig, und gespielt entsetzte ich mich darüber, wie spät es schon sei. Einleuchtend begründete ich meinen Aufbruch. Willy Patze stand auf und nahm meine Hand. Das konnte ich ertragen. Nicht aber, dass er sie nicht mehr loslassen wollte. "Naja, jedenfalls ist der Stein noch nicht zurück", fasste ich die fruchtlosen Recherchen des Nachmittags zusammen. "Jaja, der Stein ist zurück…", sinnierte er geistesabwesend. Ich bekam große Augen. "Wie bitte? Nun doch? Der Stein ist bereits zurück?" Patze horchte auf. "Ach was, der Stein ist nicht zurück", korrigierte er sich. Gut dass dies so rasch geklärt wurde. Ich biss auf meine Unterlippe. Noch immer ruhte meine zitternde Hand in seiner zittrigen. "Sie müssen mir einen letzten Gefallen tun", behauptete Herr Patze dreist. "Sie müssen mit uns Kaffee trinken!" Er ahnte nicht, dass es auch das letzte war, was ICH wollte.

An der Tür frug er, weiterhin die Kaffeeverabredung im Kopf: "Wann sind Sie wieder in Stendal?" - "Herr Patze, ich komme nur nachts zum Tanzen immer hierher", lachte ich. Das schreckte den wackeren Eiche-Fürsten nicht. "Sie können mich jederzeit besuchen," bot er an, "ich brauche nämlich nicht mehr so viel Schlaf, wissen Sie."

Natürlich werde ich mich hüten! Erleichtert verließ ich die winkenden Patzes, wissend, ich würde Frau Lüttke anrufen müssen, um irgendeine Wahrheit herauszubekommen…

[Wie wird der Kampf weitergehen, das Geheimnis des "Steins der Bismarck-Friedenseiche" zu ergründen? Wird das Seehauser Fußvolk doch noch seine feierliche Rückführung bewirken? Was weiß Frau Lüttke? Zu viel? Immerhin hat sie damals unter ebenjener Eiche gesessen, Gänse gehütet und den Stein mit Kernseife abgescheuert. Warum die Eiche gefällt werden sollte, wie Johanna Lüttke über Willy Patze denkt und wie eigentlich die Tischlerei Ritzmann knietief in der ganzen Sache steckt, lesen Sie in einem Monat an gleicher Stelle - zum vorerst letzten Mal.]

© POTZDAM 2001 - Mathias Deinert & Astrid Mathis