Grauen auf Calberwisch (1)
Die altmärkische Sage vom Stein der Friedenseiche
Von Mathias Deinert

(für Astrid Mathis, der ich einen Großteil des tatsächlichen Stoffes verdanke!)

Die Angst steckt mir noch heut in allen Gliedern …!

Ich sagte immer zu meiner Freundin: Lass dich, wenn wir auf dem finstren Schloss Calberwisch sind, nicht von weinseligen Greisen bedrängen! Immer warnte ich sie … Zuletzt beim großen Buchsbaumtreffen … Und auch nicht ohne Grund: Mir selbst sagte der Schlossherr schon Dinge, die an dieser Stelle besser ungesagt bleiben.

Beliebt bei den Gästen ist häufig der Zeitvertreib, ihn und seine Gattin von oben bis unten anzusehen, beide mit ästhetischem Empfinden zu bewerten und zu mutmaßen, welcher von den Eheleuten, deren äußere Erscheinung mit den Jahren gewiss statisch geblieben ist, damals mehr Geld in die Verbindung gebracht hat. (Man sehe mir die unlautere Bemerkung an dieser Stelle nach!) Weil ich also seinem Drängen nie nachgab, mussten wir Zwei heuer mit jenem Fußvolk soupieren, dem die Noblesse gewollt den Rücken kehrt, mit anderen Worten: jene die nicht erwünscht oder die ungeladen erschienen sind.

An dem genannten Abend traf sich hier die Deutsche Gesellschaft e.V. Sie wollte mit schöngeistigen Heiterkeiten für finanzielle Unterstützung ihres Vereins werben, der sich dafür einsetzt, dass alte Denkmale »in einen neuen Zustand verletzt werden«, so sagte es ihr Sprecher; doch sollte es (zur Ehrenrettung der Deutschen Gesellschaft e.V.) womöglich heißen: versetzt werden. Meine Freundin bemerkte nicht die Runde älterer Herrschaften (etwa zwischen 80 und schon tot), welche sie geraume Zeit eindringlichst kopfneigend beobachteten.

Während wir der Rede des Vorstandes zu folgen versuchten, näherte sich meiner Freundin von links einer dieser unscheinbaren Männer im reiferen Alter. Unauffällig sollte es scheinen, und er rückte näher an sie heran, bis sie seiner plötzlich gewahr wurde. Und in diesem Augenblick des Erschreckens hauchte er mit wichtigtuerischer Stimme: »Patze!« Kurze Stille. »Willy Patze!« Und während seine Hand auf ihrer Schulter zum Liegen kam, sprach er leise angestrengt weiter: »Es ist mir ein inneres Bedürfnis, Sie anzusprechen!«

Jetzt wurde mir mulmig, und ich sah an ihren erschrockenen Augen, dass sie ähnlich empfinden musste. Aber wir lauschten angestrengt weiter. Es war wie unter Zwang. »Ich bin aus dem Schloss!« Abermals: bedrückende kurze Stille. »Ich bin in dem Schloss von Bismarck aufgewachsen!« Innerlich bebte ich, meine Freundin so schutzlos zu sehen; doch selbst war ich nicht fähig, diese gespannte Erregung des Greises zu beenden. »Ich erzähl Ihnen das jetzt mal!« Und nachdem er sich verstohlen umgesehen hatte, fuhr er fort: »In Schönhausen -- und ich komme aus Schönhausen -- meine Mutter war da Raumpflegerin! Und nun will ich Ihnen mal was sagen -- da gibt es eine Friedenseiche!«

Wie benommen beobachtete ich diesen einseitigen Gedankenaustausch, doch unbemerkt hatte ich Notizblock und Stift gezückt und zu stenografieren begonnen. Meine Freundin litt weiter geduldig. »-- eine Friedenseiche! Die Bismarckeiche -- in Schönhausen! Die kenn ich, da war ich noch ein kleiner Junge -- und ich muss -- ich bin dazu verpflichtet, aus einem inneren Bedürfnis heraus, die Familie Bismarck zu schützen und zu unterstützen und --« Unser aller Anspannung steigerte sich zum Äußersten … »Der Stein ist weg! Der Stein der Bismarckeiche ist verschwunden!«

Nein! Wie kann so etwas möglich sein? Wer tut so etwas? Welche Kreatur wagt, den Gedenkstein der Friedenseiche widerrechtlich zu entwenden? Welcher Bube gräbt an fremdem Besitztume? Hatte er Spießgesellen? Halunken!! Welches gottverleugnende Hirn konnte solche Gedanken der Niedertracht nur gebären? Tausende Fragen harrten mit einem Male nur einer Antwort -- ! Ich ertappte mich selbst bei diesen irren Gedankengrillen, die jeder bewussten Kontrolle entglitten. Mit kaltem Schweiß der Angst auf der Stirn bedeutete ich mit einem Blicke meiner Freundin, schleunigst zu gehen! Schnell das Weite suchen, ehe der Fluch, der mit dem drohenden Verschwinden der alten Gedenktafel seinen Anfang nahm, und der schon in der Form Willy Patzes fleischgeworden vor uns saß, nach uns tatzte -- ! Aber ergeben lauschte sie mit weit aufgerissenen, leeren Augen weiter seiner Schilderung …

Denn Willy Patze wusste mehr: »Und ich kann Ihnen sagen - das dürfen Sie aber niemals schreiben - versprechen Sie’s! sagen kann ich --« woraufhin sich sein schmallippiger, furchiger Mund ganz nah an ihr Ohr schob und so leise er konnte formulierte: »der -- Boß -- hat -- den -- !« Und, als hätte er soeben sein langes Leben ausgehaucht, sank er geschwächt zurück und bekannte freimütig ein zweites Mal halblaut: »Der Boß hat den Stein!« Verbitterung! Unsägliche Verbitterung stand in seinem Gesicht geschrieben! Und Trunkenheit! Unsägliche Trunkenheit! Zuletzt lallte er irgendetwas wie »-- in der Einfahrt von Fischbeck, bei Familie Boß --« Doch ich fasste meine Freundin am Arm und riss sie aus den Fängen des unseligen Geheimniskünders.

Ich weiß nicht mehr, wie spät es war, als wir endlich das furchteinflößende Schloss und seine zwielichtigen Gestalten verließen. Am nächsten Tag jedoch kam uns beiden alles Erlebte derart unwirklich vor, dass es Überwindung kostete, auch nur einen Bruchteil der Friedenseiche-Akten (so nannten wir das einseitige Fragegespräch mit dem bislang wichtigsten noch lebenden Zeugen) für die Lokalzeitung in Erwägung zu ziehen …

Warum wurden genaugenommen alle Namen sicherheitshalber geändert?! Warum erschienen dann doch alle vertraulichen Daten Tage später versteckt in der Seehauser »Volksstimme«?! Warum nahm das Grauen im hiesigen Golm seinen Fortgang? Und wie genau? Vielleicht werden einige dieser unheilschwangeren Geheimnisse gelüftet, wenn der zweite Teil um den von epischem Grün überwucherten »Stein der Friedenseiche« nicht allein die altmärkischen Gemüter aufs Neu erhitzt: Nächsten Monat an dieser Stelle der zweite Teil: Denn die Spur führt zu Lüttke, Frau Lüttke, aus Schönhausen …

© POTZDAM 2001 - Mathias Deinert