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Die altmärkische Sage vom Stein der Friedenseiche (2)
Von Mathias Deinert

(für Astrid Mathis, der ich einen Großteil des tatsächlichen Stoffes verdanke!)

Die grausigen Schatten der Nacht waren von uns gewichen. Das erschröckliche Schloss Calberwisch und seine Kreaturen - bloß formlos wie ein Phantom; wie Erinnerungen an einen dunklen Traum standen sie hingekritzelt in meinem Notizbuch und waren mir nur dadurch noch gegenwärtig. Die Zeitungsredaktion, in deren Auftrag wir den Wahnsinn der Nacht auf uns genommen hatten, verlangte ihren Artikel; doch wir waren nur in der Lage, ein kurzes Porträt Willy Patzes zu verfassen. Von anderem wussten wir nichts zu schreiben. Die Redaktion zeigte Verständnis, nahm es hin und druckte es anstandslos. Alles schien sich wieder zu normalisieren.

Eines frühen Morgens, es mochte anderthalb Wochen später gewesen sein (längst war ich wieder fern der altmärkischen Heimat im hiesigen Golm, der Studien wegen), wurde ich durch das Schrillen meines Telefons jäh aus dem Schlaf gerissen. Dösig schleppte ich mich aus dem Bette, tastete mich durch die kalte Dunkelheit, fasste das Telefon auf dem Schreibtisch und ließ mich entkräftet auf den Stuhl sinken. Immer noch schrillte es. Unerbittlich. Kurz sammelte ich meine Gedanken und nahm den Hörer ab:

"Ja, hallo?" Stille folgte. Dann ein Rascheln. "Hallo?" wiederholte ich müde. Schließlich schöpfte jemand am anderen Ende Luft. Und was darauf folgte, trieb augenblicklich alle Müdigkeit aus meinen bleiernen Knochen - und mir die Angst zurück ins verstörte Hirn -- "Ja, hallo, hier Lüttke!" Ächzte eine tiefe Frauenstimme mir ins Ohr. "Lüttke. Frau Lüttke aus Schönhausen! Es jeht um den Stein! Den Stein! Ich weiß wo der Stein ist!"

Ich war unfähig zu antworten. Meine Augen müssen mir starr und aufgerissen im Gesicht gestanden haben. Schnell schickte ich sie, mir Stift und Zettel suchen. In meinen Gliedern pochte das Blut. Zitternd lauschte ich, was die Sibylle zu erzählen hatte. "Melden 'Se sich doch mal!"

Mit angstvoller Stimme gab ich zurück: "Ja, reden Sie, ich höre zu!"

"Ich will mit Willy Patze Kontakt aufnehmen! Ich will Willy Patze suchen helfen! Ich vermute, der Stein wurde 1987 von einem, dessen Namen ich nicht nennen kann, einfach mitjenommen. Jestohlen, wenn 'Se so wollen. Ich bin ja im Schatten der Bismarckeiche großjeworden. Jänse jehütet hab ich damals unter der Eiche. Können 'Se sich das noch vorstellen? Rufen 'Se mich mal an, dann, in Schönhausen." Pause. "Achso, meine Nummer, die ist … Schreiben 'Se schon?"

Und nachdem ich die Nummer notiert und wieder den Hörer aufgelegt hatte, war es still um mich; nur das Gefühl panischer Angst lag wie ein Alp auf meiner Seele. Woher nur konnte sie meine Nummer haben? Aber das war nun einerlei.

Ich grub mein Gesicht in die Handflächen und konnte den Gedanken nicht ertragen, nun auf immer schmählich mit dem Schicksal des verwünschten Steins verquickt zu sein! Die Zeit, die dann anhub, war eine wahrlich schauerliche: Nachts verfolgte mich das Bild der Eiche in den Schlaf - ich sah glückselige Kinder spielen im Schatten des dichten Geästs, Großmütter und Greise ruhten in seinem kühlen Schutze, sanft ließen die Blätter sich vom lauen Wind umspielen … Dann folgten Bilder des Schreckens und des Leids, ich sah die alte Borke harzen, weil der Platz vor ihr leer geblieben war, Eicheln lagen wie ein abgeworfener Trauerflor rings um die nur halb bedeckten Wurzeln, Frauen und Kinder weinten und klagten, Nebel standen und Sirenen gellten von ferne - die gesamte Schöpfung schrie nach Vergeltung! -- und auch ich erwachte jedesmal schreiend mit dem Namen Frau Lüttkes auf den wundgebissenen Lippen!

Möge nun die mahnende Botschaft dieser Mär auch die wackersten Gemüter aufschrecken: Die Eiche, die heuer in ihrem 130-sten Jahre steht, hat auf rätselhafte Weise das Schicksal vieler Menschen verwebt, von denen meines nur als lehrreiches Beispiel dienen konnte. Hunderte, Tausende Menschen, einzig an der Hoffnung festhaltend, der Stein werde eines Tages zurückgeführt, eint das gleiche Ziel:

Der Stein der Bismarck-Friedenseiche muss zurück nach Schönhausen!

© POTZDAM 2001 - Mathias Deinert