Berlinale 2008
Inhalt
 

Zehnter Tag
16. Februar
Von Astrid Mathis

Alles auf Anfang

Abschlussfilm "Be Kind Rewind - Abgedreht"

Was hat sich Regisseur Michel Gondry ("Vergissmeinnicht", "Science of Sleep") da bloß wieder einfallen lassen, um unsere eingeschlafene Phantasiewelt zu wecken?!

Man muss wohl schon so einen durchgeknallten Eindruck machen können wie Jack Black, um eine Rolle wie Jerry glaubhaft zu spielen. Der stolpert von einer Katastrophe in die nächste. Mr. Fletcher (Danny Glover), dem die Videothek "Be kind rewind" in Passaic/New Jersey gehört, weiß das. Deshalb verreist er auch nicht, ohne Mike (Mos Def) zu bitten, auf keinen Fall seinen besten Freund Jerry in die Videothek zu lassen. Doch alle Warnungen sind umsonst. Nachdem Jerry eines Nachts versucht hat, das Kraftwerk zu sabotieren, ist er so magnetisch aufgeladen, dass mit seinem Betreten der Videothek sämtliche VHS-Kassetten schlagartig gelöscht werden. Und Mrs. Falewicz (Mia Farrow), die eine Freundin Mr. Fletchers ist, will in wenigen Stunden "Ghostbusters" abholen. Was tun? Nirgendwo ist dieses Video aufzutreiben.

"Ich bin Bill Murray. Du bist alle anderen", heißt es plötzlich. Dann geht es los. Sie drehen "Rush Hour 2" und "Miss Daisy und ihr Chauffeur", "King Kong" und "The Lion King". Bald hilft die gesamte Nachbarschaft, die Filme neu zu erfinden. Drehen können sie natürlich nur, was ihnen im Gedächtnis geblieben ist.

Nun könnte es ja theoretisch langweilig werden, Jerry beim Regieführen zuzusehen, aber Michel Gondry ist Meister der Kreativität und genialen Einfälle und bis zum Schluss für eine Überraschung gut. Er zelebriert den Spaß am Filmemachen und das mit einfachsten Mitteln. So erinnert Gondry leicht an die Zeit mit Charlie Chaplin, die Anfänge des Kinos, und führt uns vor Augen, dass Filme die Gemeinschaft fördern und nicht zwangsläufig einsam machen. Und ganz nebenbei bringt er eine Liebeserklärung an den eigentlichen Star des Jazz Fats Waller unter.

Filmemachen kann also jeder. Man muss es einfach nur tun.


Gegen den Strom

Vier Männer und zwei Frauen in der Wettbewerbsjury - was soll dabei nur herauskommen? Alle Filme, die auch nur halbwegs als Kandidat für den Goldenen Bären in Erwägung gezogen wurden, waren für die Jury als Gewinner anscheinend uninteressant. Man muss offensichtlich überraschen, gegen den Strom schwimmen, gegen die Kritiker entscheiden. Nachdem Marianne Faithfull im Vorjahr mit "Irina Palm" unverdient leer ausgegangen war, hätte sich eigentlich niemand mehr über die Berlinale-Jury wundern dürfen. Jedoch eins muss man ihr lassen. Die Wunschpreisträger der Presse bekamen auch etwas vom großen Kuchen ab.

"Wir haben 230000 Karten verkauft. Wer sagt, Kino hätte keine Zukunft, soll nachher zu mir rauskommen", begann Festival-Chef Dieter Kosslick die Preisverleihung, um im Anschluss einen seiner Lieblingswitze anzubringen.

Reza Najie war so sprachlos, den silbernen Bären als bester Darsteller in dem Film "Song of Sparrows" zu erhalten, dass er seinem "Land und den geliebten iranischen Kindern" den Preis widmete und dann schnell verstummte.


Sally Hawkins am roten Teppich

Erleichtertes Aufatmen, als Sally Hawkins den silbernen Bären für ihre Hauptrolle in "Happy-Go-Lucky" bekommt. Sie erwarte wirklich nichts, hatte sie am roten Teppich betont. Es sei schon eine Ehre, bei der Berlinale überhaupt dabei zu sein. Später auf der Pressekonferenz meinte sie noch immer, ihr würden die Beine versagen, sie könnte ihre Freude gar nicht ausdrücken. Der Regisseur Mike Leigh wäre so stolz auf den Preis, dass sie ihm gar nicht genug danken könnte. "Ich nehme den Bären heute mit ins Bett", versprach sie lachend. "I´m a happy and lucky lady."



Sally Hawkins im Interview

Für das beste Drehbuch wurde Wang Xiaoshuai für "In love we trust" prämiert. Auch er hatte ein Wortspiel parat: "I love you and thank you for trusting me."

Am wenigsten vorbereitet wirkte der Japaner Kumasaka Izuru, der den Preis für den besten Erstlingsfilm ("Asyl - Park and Love Hotel") absahnte. Mit zerschlissener Jeans und strubbeligen langen Haaren stand er da und entschuldigte sich für seine Kleidung. Er hatte sich einfach nicht vorstellen können, einen Preis zu gewinnen. Aber er "möchte noch viele gute Filme machen, um diese wunderschöne Stadt zu beglücken". Beim nächsten Mal klappt´s dann auch mit der Abendgarderobe.

Dass Paul Thomas Anderson nicht noch einmal nach Berlin zurückkehrt, ohne einen Preis mit nach Hause zu nehmen, hatten sich alle gedacht. Sein Film "There Will Be Blood" musste gewinnen. Wenn also Daniel Day-Lewis nicht zum besten Darsteller gekürt wurde, blieb doch nur der goldene Bär. Man kann ja schließlich nicht amerikanische Stars anlocken, die sogar für den Oscar nominiert werden, und sie dann mit guten Kritiken abspeisen. Die Jury hatte sich anders entschieden. Zu gut, um den Film nicht zu bedenken, vergab sie an "There Will Be Blood" den silbernen Bären für die beste Regie und die beste künstlerische Leistung (in diesem Fall die Filmmusik). Paul Thomas Anderson: "Daniel Day-Lewis macht jeden Regisseur zu einem guten Regisseur."

Auf der Pressekonferenz empfing man ihn wie den Gewinner des goldenen Bären. Er wurde auch am meisten gefragt. Zum Beispiel, ob sein Film die Welt verändern könnte. "Ja!" antwortete Anderson lachend, um dann hinzuzufügen, "nun ja, er kann mich glücklich machen, zumindest eine Nacht".

"Dieser Film ist in Zusammenarbeit mit Disney/Miramax entstanden. Wieso?" will eine chinesische Journalistin wissen. "Ich denke, weil sie Geld machen wollten." Und wie steht Anderson zu Plainview? Könnte er mit so jemandem befreundet sein? "Im Moment bin ich so glücklich, so voller Champagner, ich könnte mit jedem befreundet sein..."


Errol Morris im Interview

Die Dokumentation von Errol Morris, "Standing Operating Procedure", hatte schon im Vorfeld wegen seiner nachgestellten Szenen jede Menge Diskussionsstoff geboten. Dabei ging es vor allem um das wie und nicht darum, dass es nachgestellt wurde. Als Gewinner des Großen Preises der Jury überschlugen sich die Kritikerstimmen nun geradezu. Besonders der Stil der Dokumentation, eine Mischung aus Kiefer Sutherlands Serie "24" vielleicht und Wim Wenders Kunstfilmelementen, hatte Anlass zur Ablehnung gegeben. Ja, ja, dass Errol Morris in Amerika ein angesehener Dokumentarfilmer ist, weiß man. Und warum soll Amerika bei der Berlinale nicht einmal gleich mehrere Preise mit nach Hause nehmen? Aber muss es für "Standing Operating Procedure" sein? In der Dokumentation geht es um den Folterskandal von Abu Ghraib. Aus Fotos, Interviews und nachgestellten Szenen hat Morris einen Film gemacht, der zeigt, wie US-Soldaten und -Soldatinnen Iraker erniedrigen. Errol Morris: "Dokumentarfilme bilden die Wirklichkeit nicht ab. Sie haben aber eine enge, komplizierte Beziehung zu ihr." Wenn der Film durch den Preis ein größeres Publikum gewinnen und alle möglichen Gedanken in uns zu diesem Thema hervorrufen kann, sei das schon eine gute Sache.

Roter Berlinale-Schal, graue Berlinale-Mütze. José Padilha (Brasilien) ist bestens auf die Berlinale eingestellt. Es ist ja auch seine Berlinale. Mit "Tropa de Elite" siegt er überraschend. Applaus kommt nur zögerlich auf. Eigentlich sollte Padilhas Drama eine Dokumentation über die Spezialeinheit BOPE (Anti-Drogenpolizei) werden, die erzählt, wie Straßenkinder zu Kriminellen und Polizisten zu korrupten, gewalttätigen Menschen werden. Doch die brasilianische Polizei wollte sich nicht so tief in die Karten sehen lassen. Schauplatz ist Rio de Janeiro 1997 kurz vor dem Papstbesuch. In den Favelas regieren die Gangs der Drogendealer. Die Polizei lässt sich schmieren. Allein die Polizei-Elitetruppe von Nascimento sorgt für Ordnung und drillt sich selbst bis aufs Blut. Rasant und mit einer Musik, die an Fernseh-Reißer erinnert, ist der Streifen. Verherrlichung der Polizeigewalt wird Padilha vorgeworfen. Die BOPE wollte den Film verbieten lassen, von den Zuschauern wird er in Brasilien gefeiert. Drei Monate vor dem Kinostart wurde eine Kopie des Films gestohlen. Millionen sahen ihn auf illegal gebrannten DVDs.

Viel wollten die Journalisten von Padilha nicht mehr wissen. Die meisten hatten den PK-Raum bereits verlassen.


Michael Ballhaus am roten Teppich:
"Na, es steht doch schon fest, dass There Will Be Blood gewinnt, oder?"

Quintessenz

Warum habe ich im vergangenen Jahr eigentlich so viel gemeckert? Ach ja, ich konnte nicht ahnen, dass 2008 ein noch schlechteres Filmjahr werden würde. Manches nicht mal Mittelmaß. Nach 46 Filmen darf man sich so eine Bemerkung erlauben. Wenigstens ist die Berlinale dem Ruf des politischen Filmfestivals wieder einmal gerecht geworden. Das muss den Berlinale-Chef zufrieden stimmen.

Im Wettbewerb warteten nur wenige Lichtblicke, und die Sektion Perspektive Deutsches Kino ließ solche Juwele wie "Alle Alle" vermissen. Mal abgesehen von dem enttäuschenden Kurzfilmwettbewerb. Ein paar echte Goldstücke gab es allerdings auf dem Festival:

Wettbewerb

Song of Sparrows
Happy-Go-Lucky
There Will Be Blood

Panorama

Lemon Tree
Dream Boy
Rusalka

Dokumentationen

Jesus Christus Erlöser
Erika Rabau - der Puck von Berlin

Berlinale Special

Trip to Asia - Die Suche nach dem Einklang

Neunter Tag
15. Februar
Von Astrid Mathis

Ein ungleiches Paar

Wettbewerb "The Other Boleyn Girl - Die Schwester der Königin" (außer Konkurrenz)

Ein Anfang wie aus dem Bilderbuch. England. 16. Jahrhundert. Drei Kinder laufen über ein sonnendurchflutetes Feld und spielen fangen. Doch während sie glücklich herumtollen, werden Zukunftspläne geschmiedet, wird ihr Schicksal besiegelt. Vater und Onkel wollen der Familie zum Aufstieg verhelfen, und wer dafür wen heiratet, bestimmen sie. Eine der Töchter im Bett des Königs zu wissen, wäre natürlich der Clou. Fast scheint ihr Machtspiel aufzugehen. Die ältere Tochter Anne (Natalie Portman) hat nichts dagegen, Heinrich VIII. (Eric Bana) zu umgarnen und ihm einen Erben zu schenken, der dem Königshaus durch Katharina von Aragon versagt blieb. Jedoch bei seinem Aufenthalt im Hause der Boleyns findet er die andere, die sanfte Mary (Scarlett Johansson), weitaus liebreizender. Er lässt sie trotz jüngst geschlossener Ehe an seinen Hof bringen und die Boleyn-Familie gleich mit. Vater und Onkel ist es egal; die Hauptsache ist, sie schenkt ihm einen Erben. Und tatsächlich! Die Liebe zwischen den Beiden scheint mit der Schwangerschaft Marys perfekt. Anne indes ist zutiefst verletzt, am Hof nur geduldet zu sein. Als sie nach Frankreich geschickt wird, nimmt das Schwesterndrama seinen Lauf. Denn nach ihrer Rückkehr hat sie nur eines im Sinn - sie will den König und den Thron für sich gewinnen. Und sie bekommt alles. Lediglich den Sohn gebärt sie Heinrich VIII. nicht, dem schenkt Mary das Leben. Anne kämpft auf verlorenem Posten. So intrigant sie auch sein mag, an ihre Schwester kommt sie nicht heran. Weder Liebe noch Sohn werden ihr zuteil, wenn sie auf dem Thron sitzt. Ihre Enthauptung geht in die Geschichte ein. Am Ende wieder Sommersonne. Eine Wiese. Und ein Mädchen läuft durch das Gras, von dem man weiß, dass es einmal Cate Blanchett sein wird. Elizabeth.

Natalie Portman und Scarlett Johansson spielen das ungleiche Schwesternpaar. Die eine, unglücklich über den Befehl des Königs, findet am Hof wider Erwarten Liebe, die andere, verschmäht und einsam, erkämpft sich Macht. Obwohl die Schauspielerinnen ihrem Typ entsprechend in die Rollen schlüpfen, wird man den Eindruck nicht los, sie hätten ihren Part miteinander tauschen können. Ob Scarlett Johanssen der Rolle von Anne gerecht geworden wäre? Wahrscheinlich wollte Justin Chadwick genau das: blonde Unschuld auf der einen Seite und dunkle Macht auf der anderen. Wie auch immer. Wer Historiendramen (Roman: Philippa Gregory) mag, wird diesen Film lieben. Mal abgesehen davon, dass allein die Kostüme den Eintritt wert wären, "The Other Boleyn Girl" ist mehr als ein Kostümfilm.


Die Schauspieler Eric Bana, Natalie Portman und Scarlett Johansson
mit ihrem Regisseur Justin Chadwick (von links)

Die Pressekonferenz

Was soll man bloß fragen? Vielleicht: Wie fühlt man sich als König und von zwei so schönen Frauen begehrt zu werden? Prompt kommt diese Frage. Und was antwortet Eric Bana? - "Furchtbar! Nein. Wunderbar." Schließlich wurde er von allen wie ein König behandelt. Als Scarlett Johansson erzählt, ihr Schauspielkollege sei der Spaßmacher unter ihnen gewesen, wackelt Eric Banas Thron im Pressekonferenzraum. Es folgen Lobeshymnen auf jeden Einzelnen. Die Arbeit war offensichtlich ein Spaziergang, wenn man mal von den schweren Kostümen absieht, die eine der größten Herausforderungen gewesen sein müssen. Von Konkurrenz unter den zwei erfolgreichsten Jungschauspielerinnen Amerikas keine Spur. Scarlett Johansson hatte überhaupt nur zugesagt, weil sie wusste, dass Natalie dabei sein würde. Am Set gab es nie Ärger. Jedenfalls keinen, der erwähnenswert wäre. Eric Bana macht sich einen Spaß daraus, immer wieder nach der Atmosphäre am Set gefragt zu werden und beginnt eine Anekdote, um sie sogleich wieder abzubrechen. Alles klar. Hier wird keiner etwas preisgeben. Schauspieler lieben sich nämlich. Bleibt die Frage, ob Frauen wirklich am besten manipulieren können. "Niemand sollte jemand anders kontrollieren", so Johansson. "Ich weiß nicht, wer solche Geschichten erzählt. Meine Mutter hat mir nicht gesagt, Männer seien leichter zu manipulieren als Frauen", ergänzt Portman. Ein eingespieltes Team, bei dem stets klar ist, wer wem zuerst die Antwort überlässt. "Love or power - Liebe oder Macht - was würden Sie in einer Beziehung wählen?" fragt eine Journalistin. "Macht", kommt es von Natalie Portman wie aus der Pistole geschossen. Scarlett Johansson gerät ins Stottern und endet dann mit einem überzeugten "the power of love". Eric Bana hat vergessen zu antworten oder hält sich einfach dezent zurück. Die Antwort auf die Frage wird er der Journalistin zumindest an diesem Tag schuldig bleiben. Allerdings ist er nicht so schüchtern, als er auf seine aus der Nähe von Mannheim stammende Mutter angesprochen wird. Ob er ein paar deutsche Worte zum besten geben kann? "Ich sage jetzt etwas, was meine Kollegen nicht verstehen, aber ich weiß nicht, was ich sagen soll", meint er mit amerikanischem Akzent. Die Presse ist zufrieden. Applaudiert.


Nachdem seine Schauspielkolleginnen Autogramm-los an den Fans vorbeirauschten,
hält sich Eric Bana etwas länger vor dem Hyatt auf.

Am Abend präsentieren die Stars ihren Film im Berlinale-Palast, geben Autogramme und Interviews.


Natalie Portman


Eric Bana



Scarlett Johansson


Panorama "Lemon Tree"

Ein Garten voller Zitronenbäume neben dem Haus des israelischen Verteidigungsministers - das passt nicht zusammen. Und eine verwitwete Palästinenserin um die 50, deren Mann zehn Jahre tot ist, und ein junger Anwalt, das passt genauso wenig. Jedenfalls in Israel. Als kleines Mädchen schon hat Salma mit ihrem Vater diesen Zitronengarten gepflegt. Er ist alles, was die Zwei noch haben. Dieser Garten ist ihr Lebensunterhalt. Doch das interessiert die israelische Staatssicherheit nicht. Sie sieht in der Anlage auf dem Grünstreifen zwischen Israel und Palästina eine Bedrohung für den Minister. Terroristen könnten sich darin verstecken. Zusammen mit dem jungen Anwalt Ziad Daud geht Salma bis vor das Oberste Gericht, um ihre Bäume zu retten. Als die Frau des Ministers sich auf Salmas Seite stellt, fängt der Kampf erst richtig an. Und damit nicht genug. Salma bekommt immer öfter Besuch von Bekannten ihres Mannes, die den Kontakt zwischen ihr und dem Anwalt unterbinden wollen.

Eran Riklis gelingt mit seiner Hauptdarstellerin Hiam Abbass eine Geschichte, die alle Wettbewerbsbeiträge in den Schatten stellt.

Am Sonntag, wenn Radioeins, RBB und Tipp zum 10. Mal den Panorama-Publikumspreis vergeben, geht er zum 4. Mal nach Israel, für "Lemon Tree". Von 20000 Stimmen erreichte dieser Film den meisten Zuspruch. Und das, wo doch Madonna-Fans den schnellsten Ausverkauft-Rekord einstellten.


Verrückt

Perspektive Deutsches Kino "Die Dinge zwischen uns"

Der Titel ist gut, die Idee ebenso. Und trotzdem! Iris Jannsen will der große Coup mit diesem Film nicht gelingen. Ein Paar lebt seinen Alltag - scheinbar harmonisch - in einer katholischen Kleinstadt am Niederrhein. Myriam steht ihrem Mann, dem aufstrebenden Bürgermeister Bernd Mölders, zur Seite, wo sie nur kann. Bis sie entdeckt, dass er in Holland ins Bordell geht. Stellt sie ihn zur Rede? Mitnichten! Myriam sucht das Gespräch mit Sylvia, von der sie weiß, dass sie einst anschaffen ging. Myriam will ihren Mann verstehen und geht selbst in den Puff. Allerdings hinter die Theke eines Edelpuffs, von wo aus sie alles in Ruhe beobachten und vielleicht herausfinden kann, was ihr Mann bei Prostituierten sucht. Als sie sich zu Hause selbst wie eine aufführt, weist Bernd sie ab. Und Myriam ist nicht der einzige Mensch, den Bernd plötzlich ablehnt. Auch von seinem besten Freund will er nichts mehr wissen. Dessen Selbstmord rüttelt ihn erst wach. Vor dem Abspann finden sich Myriam und Bernd inmitten einer riesigen Müllhalde wieder. Trümmer ihrer Beziehung. Klischeehaft und dennoch das beste Bild, das Iris Jannsen in Szene setzt. Alles andere ist überwiegend unlogisch oder vorhersehbar, um nicht zu sagen: langweilig.

Eine Frau erfährt, dass ihr Mann in den Puff geht, und fängt selbst dort zu arbeiten an, um ihren Mann besser zu verstehen. Tststs! Verrückt.

Panorama Klaus Kinski "Jesus Christus Erlöser"

Klaus Kinski liest aus der Bibel. Mit zeitgemäßen Aktualisierungen. Man stelle sich das mal vor. "Ein Abend mit Klaus Kinski" in der Deutschlandhalle Berlin wird dem Publikum versprochen. Unzählige Male unterbricht der Schauspieler sein Programm. Provokationen, Pfiffen, Buh-Rufen ist er ausgesetzt. Es ist das Jahr 1971. Einige der Gäste wollen selbst auf die Bühne und identifizieren Kinski so sehr mit den auswendig gelernten Worten, dass sie ihn einfach angreifen müssen. Ihn fragen, wie er dazu komme, aus der Bibel zitieren zu wollen. Und Kinski, als hätte er den Text eigens auf solche Anfeindungen zusammengeschrieben, sagt: "Ihr könnt so viel beten, wie ihr wollt, ich höre nicht hin" und "Jesus, dort, wo man zu borniert ist, euch zuzuhören, haltet euch nicht auf" und "in eurem Auge ist ein Balken, zuerst entferne den Balken aus deinem Auge, dann sieh zu, dass du den Splitter aus meinem Auge ziehst". Eine Träne hält sich hartnäckig in seinem Auge, der Schweiß steht ihm auf der Stirn. Klaus Kinski ist außer sich, droht "ich geh jetzt zum letzten Mal weg" und tobt: "Das ist mein Laden! Meine Manager haben die Deutschlandhalle gemietet, damit ICH hier auftrete!" Letztendlich schreit er: "Was weißt denn du von Gott?"

Am Ende der Dokumentation Zitate von Kinski.

"Na ja, ich denke, das ist wie vor 2000 Jahren, aber die haben Jesus wenigstens ausreden lassen, bevor sie ihn angenagelt haben."

Es sind vielleicht noch 100 Leute in der Halle, als Kinski zum letzten Mal, um Mitternacht, leise beginnt: "Wenn man 30 Schreibmaschinenseiten reden muss, einfach die Schnauze zu halten - es muss unheimlich schwer sein, anderthalb Stunden ruhig zu sein." Dann unterbricht ihn niemand mehr. Um zwei Uhr ist seine Vorstellung vorbei.

Ein unglaubliches Dokument, an dem der Regisseur, Kinskis Nachlassverwalter, Peter Geyer und Nikolai Kinski den Zuschauer teilhaben lassen.

Achter Tag
14. Februar
Von Astrid Mathis

Wo die Sprache aufhört, fängt die Musik an

Wettbewerb "Il y a longtemps que je t´aime - I´ve loved you so long"

Der Titel "Il y a longtemps que je t´aime" könnte in die Irre führen. Eine klassische Liebesgeschichte erwartet den Zuschauer hier nicht. Es geht um Geschwisterliebe; der Titel ist eine Textzeile aus dem Lied "A la claire fountaine", das die Schwestern als Kinder gemeinsam auf dem Klavier spielten. Schwestern, die sich gar nicht kennen.

Juliette (Kristin Scott Thomas) war 15 Jahre im Gefängnis. Warum sie ihren sechsjährigen Sohn umbrachte, erfährt nicht einmal ihre jüngere Schwester Léa (Elsa Zylberstein), die sie bei sich aufnimmt. Ihrem Mann Luc ist nicht wohl dabei, eine Kindsmörderin im Haus zu haben, und so begegnet er ihr gegenüber ablehnend. Und auch dort, wo sie sich für eine Anstellung bewirbt, hat sie keine Chance, wenn sie offen erklärt, weshalb sie ins Gefängnis musste. Stillschweigend nimmt sie jede Abweisung hin und erklärt dann nichts mehr. Überhaupt redet sie wenig. Ihre Augen sind auf eine merkwürdige, unheimliche Art leer. Sie wirkt so fragil und in sich gekehrt, dass man nicht glauben will, sie könnte jemandem etwas angetan haben. Erst als Juliette mit der Tochter ihrer Schwester auf dem Klavier das Lied aus Kindertagen spielt, beginnt die verschlossene Frau, sich zu öffnen.

Am Ende lüftet Regisseur Philippe Claudel das Geheimnis um den Grund für den Mord. Er hätte den Film mit einem ungelösten Rätsel abschließen können. Aber das wollte er nicht, gab er auf der Pressekonferenz zu, "mit einem offenen Ende hätte ich eine andere Geschichte erzählt, und ich wollte, dass man Juliette versteht".

Auch wenn Claudels Film in seiner Stille die Spannung zu halten vermag - hier und da zu kürzen, wäre dem Film gut bekommen.


Berlinale Special "Trip to Asia - Die Suche nach dem Einklang"

Die Berliner Philharmoniker - das sind 128 Musiker mit Weltklasseniveau. Ihr Dirigent heißt Sir Simon Rattle. Schon mit dem Film "Rhythm is it!" ließ sich der Meisterdirigent in die Karten schauen. Zum großen Glück des Publikums. In dieser Dokumentation nun (Regie: Thomas Grube) entführt er den Zuschauer auf eine Konzerttour nach Asien, die gleichermaßen berührt und begeistert. Für zwei junge Männer und eine junge Frau ist es die Probezeit, die entscheidet, ob sie künftig zu den Philharmonikern gehören werden oder nicht. Wir sind bei Proben dabei, erleben sie bei Konzerten und an freien Tagen. In Interviews schildern 25 der Orchestermitglieder ihre Erfahrungen, ihre Hoffnungen, ihre Ängste. Sie sind allesamt Individualisten, in der Schule meist nicht beliebt gewesen, und doch auf der Suche nach diesem Gefühl des Einklangs. Sir Simon Rattle beschreibt es so: "Wenn Dirigent und Orchester sich in einem Gefühl vereinen, und ich bin irgendwie in der Mitte und kann es beeinflussen, ist das eine unschlagbare Droge, nach der ich bis zum Ende meines Lebens süchtig bin." Andere sagen, sie seien in diesem Moment eins mit dem Kosmos, er gebe ihnen den Kick, in diesem Moment lösten sich alle Zweifel auf, es sei eine Energie im Raum, die alle verbindet. Eine Welle, die jeder spürt.

Aber was kommt vor diesem Gefühl? Und wie entsteht dieser Klang, der alles zum Schwingen bringt? Die Musiker geben Antworten auf diese Fragen. Werden sehr persönlich. Das Reiben der Persönlichkeiten ergäbe den Klang, sagen sie. Dass sie natürlich egozentrisch seien, selbstbestimmt, und sich natürlich auch zurücknehmen, sich in die Gemeinschaft einbringen zu müssen. Eine Musikerin erzählt: "Mein Mann sagt immer: Warum gibst du dir so viel Mühe? Man hört dich gar nicht." Vielleicht das Zitat, das am meisten ausdrückt, wie die Philharmoniker funktionieren.
"Wir sind die Philharmoniker, nicht der Dirigent", meint ein anderer Musiker. Der da oben steht, muss eine starke Persönlichkeit haben und darf trotzdem "nicht nur sein Ding machen wollen", dann ist er verloren. "Es brauchte eine Weile, ehe sie merkten, dass ich es durchaus ernst meine, wenn ich scherze", erklärt Sir Simon Rattle, der offensichtlich der Richtige für die Formation der Individuen ist. "Diejenigen, welche die größte Bereitschaft haben zu scheitern, haben meine größte Sympathie", betont er. Die Reise wird zum Härtetest für alle. Am ersten freien Tag bauen zwei Musiker ihre Fahrräder auf und touren durch die Stadt. Vor dem Konzert ist wieder die Angst da zu versagen, der Druck, der jeden Philharmoniker trifft. Doch in Taiwan werden sie von Tausenden umjubelt wie Rockstars. So voller Sehnsucht waren sie danach, der klassischen Musik zu lauschen.

Für manche ist es nach einer langen Zeit als Berufsmusiker das letzte Jahr mit den Philharmonikern. Dankbarkeit auf der einen Seite, ein Gefühl wie Sterben auf der anderen Seite erfüllt sie. Dankbar kann man auch für diesen Film sein, der einen Einblick in die Seele der Philharmoniker und ein phantastisches Land gewährt und nicht zuletzt in die eigene Seele blicken lässt.

Siebter Tag
13. Februar
Von Astrid Mathis

Queen of Pop - Madonna gibt sich die Ehre

Panorama "Filth and Wisdom"

Die Geschichte ist ganz einfach: Fünf Menschen sind auf dem Weg, ihr Leben zu verändern, aber zu Beginn des Films wissen sie es noch nicht. Denn sie alle haben ihren Alltagstrott und wollen, dass er so bleibt, wie er ist. A.K. (Eugene Hutz), Juliette (Vicky McClure) und Holly (Holly Weston) leben in einer WG. A.K. ist heimlich in Holly verliebt und verdient sein Geld als sadistischer Rollenspieler, wenn er nicht gerade in der Badewanne Gedichte liest. Holly ist Balletttänzerin und chronisch pleite. In ihrer Not fängt sie an, in einem Striplokal zu arbeiten. Die Apothekerin Juliette klaut Medikamente, um Kindern in Afrika zu helfen, derweil ihr Chef von seiner Familie genervt ist und sich in sie verliebt. Professor Flynn schreibt nicht mehr, seitdem er sein Augenlicht verlor. Das Happy End scheint fern und ist dennoch vorauszusehen. Aber zugegeben, man schaut gerne hin.

81 Minuten lang wird der Zuschauer bestens von der Geschichte unterhalten. Eugene Hutz darf in einem fort Weisheiten von sich geben oder seine Musik zelebrieren. Eine Musik, die Spaß macht. Drei Lieder singt er in dem Film, eingebettet sind sie in Musikclips, die der Geschichte Tempo geben. Dabei wirkt die ganze Story wie ein einziger Punkrocksong. Eben aufgelegt, ist er so schnell vorbei, dass man sich danach fragt: "War´s das schon?"
Keine große Kunst, aber ein großer Spaß.


Madonna gibt vor dem Hyatt Autogramme.

Journalisten sollen vor den Eingängen in Tränen aufgelöst gewesen sein, weil der Saal für die Pressevorführung schon überfüllt war. Knappe zwei Stunden vor der angesetzten Pressekonferenz standen sie wieder an. Denn wenigstens sehen wollte man sie doch, die Pop-Queen Madonna, wenn schon strengstes Fotografierverbot für alle galt. "Nie wieder Popstars", schimpfte einer, der vorne stand. Da war noch alles zum Lachen. Nicht aber, als die Türen geöffnet wurden. Bei dem Gedränge handelten sich nicht wenige blaue Flecken ein.

Gute Unterhaltung sei ihr Film, munkelten die einen, Mittelmaß die anderen. Stundenlanges Warten. Und plötzlich - Madonna in schwarzem Kleid, teils transparent, teils blickdicht; ihr Haar in leichten Wellen, sitzt perfekt wie ihr Lächeln. Die Journalisten können sich mit Komplimenten über ihr Aussehen in der nächsten halben Stunde nicht zurückhalten und bekommen dabei einen roten Kopf, während Madonna stillschweigend lächelt. An ihrer Seite die Schauspieler Eugene Hutz, Holly Weston und Vicky McClure.

"Es ist aufregend, sich selbst zu spielen", so Eugene Hutz zu Beginn der Pressekonferenz, "es wäre aber auch aufregend, sich nicht selbst zu spielen". Danach kommen kurz die beiden Schauspielerinnen zu Wort. Und dann wird niemand mehr etwas gefragt außer Madonna. Die freute sich, dass ausgerechnet Godard zitiert wurde, denn sie sei ein großer Fan von ihm. Und, ja, der Titel mache tatsächlich 50 Prozent eines Films aus, wie er behauptet. Ein Grund mehr, sich für "Filth and Wisdom" zu entscheiden. Um die Dualität des Lebens auszudrücken, die Gegensätze wie Schmutz und Weisheit, ohne die das Leben nicht auskommt. Schließlich ginge es in dem Film darum, und von beidem könne man lernen. Das muss der Aufhänger für die Frage eines weiteren Journalisten gewesen sein. Der will wissen, ob sie sich von anderen Regisseuren Ratschläge holte oder ob sie ihre Karriere als Filmemacherin gestartet hätte "like a virgin". Lachen. - "Das war nicht sehr clever", erwidert die Pop-Queen. "Ich habe wirklich Ratschläge bekommen, aber die stellten sich als Arschlöcher heraus." - Pause. "Kleiner Witz von mir." Sie mache gern Dinge auf unkonventionelle Weise, also auf ihre Art. Dieser Film war ihre Filmschule. Eigentlich als Kurzfilm gedacht, wuchs die Geschichte mit ihrer Liebe zu ihr.

Zwei Fragen hintereinander beantwortet die Pop-Queen prinzipiell nicht. Sie bittet darum, es bei einer zu belassen. Schlechtes Gedächtnis? Wer weiß? Als sie wiederholt mit Doppelfragen konfrontiert wird und sie ausgerechnet erklären soll, ob sie fürchtet, als Filmemacherin weniger erfolgreich zu sein denn als Musikerin, sagt sie einfach: "Wissen Sie, wenn Sie mir als zweites immer eine sehr provokative Frage stellen, vergesse ich die erste." Damit ist das Thema abgehakt.

Auf den ukrainischen Sänger Eugene Hutz kam sie natürlich durch seine Musik, in die sie sich sofort verliebt hat. Und der "Gipsy-Lifestyle" spielt deshalb im Film eine Rolle, weil sie ihn mag, dieses Herumreisen, die Authentizität der Leute usw.

Was Madonna beim Regieführen am meisten vermisste, war die physische Erfahrung. Filmemachen sei eben Kopfarbeit. Dafür fand sie es faszinierend, die eigenen Texte aus dem Mund der Schauspieler zu hören.

Apropos physische Erfahrung. "Wie stehen Sie zu ihrem früherem Schaffen? In dem Film kommt ja auch der Hit Erotica vor, und sie hatten ja viele erotische Songs", tastet sich ein Journalist an Madonnas Alter und ihre heutige Einstellung zur Erotik heran. Madonna ist zu sehr Profi, um bei einer solchen Frage ins Stottern zu geraten. "Ich weiß nicht, wer ihnen gesagt hat, dass es keine Erotik mehr gibt, wenn man verheiratet ist und Kinder hat", ist ihre Antwort. Damit nicht genug. "Sind Sie verheiratet?" - "Nein." - "Dann kommen Sie wieder, wenn Sie verheiratet sind."

Nach der letzten Frage ruft jemand Eugene Hutz zu, doch ein Lied zu spielen. Er nimmt seine Gitarre und legt los. Plötzlich eine Art Jam Session im PK-Raum? Komisch. Aber wenn sogar Madonna im Rhythmus in die Hände klatscht und dem Musiker das Rampenlicht überlässt, ist wohl nichts Merkwürdiges dabei, wenn man selbst mitmacht.

Vor der Tür gibt die Pop-Diva ein paar Autogramme. Schon muss sie weiter. Am Zoopalast, wo sie die Weltpremiere ihres Erstlingswerks im Publikum miterlebt, stehen die Fans seit dem Morgen Schlange. Doch Glück haben die, die mit Fotokamera in der Hand im Kinosaal sitzen. So muss sich Madonna erst einem Blitzlichtgewitter ergeben, bevor sie ihre Ansprache halten kann.

Während sie die Zuschauer begrüßt, sitzt nicht nur ihr Haar, sondern jedes Wort. Nach etlichen "Madonna - We love you"-Rufen beginnt sie: "Vor 25 Jahren nahm ich meine erste Platte auf. Als ich mich im Radio hörte, traute ich meinen Ohren kaum. Und jetzt bin ich hier auf der Berlinale mit meinem ersten Film. Alles, was ich sagen will, ist, das Träume wahr werden."


Eugene Hutz mit Fans

Und derweil Eugene Hutz noch Autogramme gibt und mit den Fans plauscht, bevor auch er zur Party fährt, ist Madonna längst entschwunden.


Eugene Hutz entflieht mit Gitarre.

"Toller Typ. Kieck mal, da sitzt er noch. Im Auto. Mit Gitarre. Gleich fährt er", vernehme ich eine Frauenstimme hinter mir. "Und die Musik - einfach toll", schwärmt die Dame weiter. Ich drehe mich um. Da steht eine Frau im besten Rentenalter und hält Opas Hand.

Die Party mit Madonna findet wenig später ohne die Zwei statt. Im Kaffee Burger, wo Wladimir Kaminer sonst die Gäste mit seiner Russendisko erfreut. Die Fans werden in den Bangaluu Club abgeschoben. Das hätte man sich ja denken können. Dualität des Lebens. Die Stars feiern mit den Stars, so bleibt alles unter seinesgleichen.

Sechster Tag
12. Februar
Von Astrid Mathis

Glücklich sein kann jeder - Man muss es nur wollen

Wettbewerb "Happy-Go-Lucky"

Gute Laune kann anstrengend sein. Jedenfalls für Menschen, die sich von ihrer Miesepetrigkeit nicht abbringen lassen wollen. Mit seinem Film "Happy-Go-Lucky" ("Unbeschwert") geht Regisseur Mike Leigh gegen die Mode der schlechten Laune und Depressivität in der heutigen Zeit an. Die internationale Presse dankt es ihm. Endlich wird befreiend gelacht, es gibt Szenenapplaus, kurz: das Lachen von Poppy aus London (Sally Hawkins) ist ansteckend und eine Erlösung nach tagelangen schwachen und traurigen Beiträgen.

Natürlich fällt andauernde Hochstimmung manch einem auf den Wecker. So was ist man ja nicht mehr gewohnt. Doch Poppy ist mit ihren quietschbunten Klamotten und ihrer quirligen Art einfach hinreißend und wie sie sich im Flamencounterricht zeigt eine Lachnummer. Natürlich wird das Glücklichsein der 30-Jährigen von ihren Mitmenschen angezweifelt. Will sie denn nicht erwachsen, mal etwas ernster werden, fragt ihre Schwester. Kein Mensch kann immer so gute Laune haben. - Hat Poppy auch nicht. In stillen und ernsten Momenten ist sie ganz für sich allein, oder sie teilt sie mit ihrer Mitbewohnerin Zoe. Ihr Feingefühl ist in ihrer Arbeit als Grundschullehrerin allgegenwärtig, liebevoll kümmert sie sich um die Kinder. Nur ihr Fahrlehrer Scott kann so gar nichts mit Poppys Typ Mensch anfangen. Zugegeben, Poppy könnte leicht noch andere Fahrlehrer in den Wahnsinn treiben mit ihrer Unbeschwertheit. Dabei ist es geradezu bewundernswert, wie sie es schafft, sich nicht von Scotts Stimmung beeinflussen zu lassen. Am Ende platzt ihr dann doch der Kragen, und zwar, weil Scott ausflippt, angestachelt durch das Zusammentreffen mit Poppys neuem Freund. Den hat man ihr wirklich von Herzen gewünscht, obwohl man schon dachte, so ein Pendant gäbe es gar nicht.

"Ich habe viel von ihr gelernt", erzählt Sally Hawkins mit leisem Lächeln später auf der Pressekonferenz, "sie ist so offen und lebensfroh". Ehrlich gesagt, von Poppy können wir uns alle eine Scheibe abschneiden.


Das ewige Lied vom Prenzlauer Berg

Perspektive Deutsches Kino "Die Helden aus der Nachbarschaft"

Berlinfilme sind Milieufilme. Und wenn man einen Film in Prenzlauer Berg dreht, kommt man nicht darum herum, die in Hinterhöfen lebenden Ossis den Wessis, die sich das teure Vorderhaus leisten können, gegenüberzustellen. Genauso macht das Regisseur Jovan Arsenic.

Attila arbeitet in der Berufsfeuerwehr, kann Glas essen und lebt im Hinterhof. Seine Freundin Bienchen will aber mehr vom Leben. Am besten in den Vorderhof. Dort lebt nämlich der Seelsorger Herr Kammer mit seiner Frau Erika, die Helden aus der Nachbarschaft porträtiert. Im Fernsehen. Wo sonst? Und da kommt es gerade zupass, dass sie sieht, wie Attila Glas isst, nachdem seine Freundin ihn verlassen hat. Die Abendsendung ist gerettet. Dass Bienchen das macht, weil sie mit Erikas Mann ins Bett geht, weiß die gute Frau Kammer noch nicht. Auch ihr Sohn Niko, der auf die sexy Sabine steht, hat bis dahin keine Ahnung. Dafür weiß der Zuschauer schnell, dass die Bäckerin Rosine sich bald in Attila verlieben soll. Nur dass Frau und Herr Kammer inkognito heiß miteinander chatten, während sie sich zu Hause nichts zu sagen haben, erfährt der Zuschauer erst zum Schluss. Überraschung! Aber das glaubt man dem Film wenigstens. Und Prenzlauer Berg hat Arsenic auch ganz nett eingefangen. Den Rest vergisst man ziemlich schnell.


Die Frau in Reihe 1

Panorama "Erika Rabau - Der Puck von Berlin"

Sie hat blonde zersauste Haare und meist ihre Lederjacke an. Eine schrullige alte Frau. Gebückt humpelt sie in die erste Reihe. Auf den letzten Drücker. Das kennt man ja. Und darum tönt regelmäßig ein lautes "Erika" durch den Raum. Die anderen Fotografen tun genervt und grinsen breit. Wie alt sie ist, verrät sie keinem. Eine Viertelstunde vor Mitternacht kam sie in Danzig zur Welt. Das ist alles, was sie preisgibt. Wer sie bisher nicht kannte, muss sich ihren Namen gut merken. Nach fast 40 Jahren als offizielle Berlinale-Fotografin aktiv, hat Samson Vicent Erika Rabau endlich vor die Kamera gelockt und einen Dokumentarfilm über sie gedreht.

Erika kennen alle, sogar die Promis. Mario Adorf gibt sie im Film zum Beispiel ein Bild, das wohl 30 Jahre alt ist. So lange kennen sich die Zwei schon mindestens.

Dabei wollte Erika eigentlich Schauspielerin werden. Die Liebe zum Film hat sie von ihrer Mutter. Die erzählte ihr immer, was sie im Kino gesehen hatte und las ihr Gedichte vor. Zuerst arbeitete Erika Rabau jedoch als Dolmetscherin. In Argentinien kam sie erstmals mit Fotokunst in Berührung, lernte von den besten Fotografen. Wie sie zur Berlinale kam? Durch eine Dampferfahrt! Auf einer Dampferfahrt fragte sie Dr. Alfred Bauer, Gründer der Berlinale, ob sie Berlinale-Fotografin sein möchte. "Ich sagte sofort zu, aber ich habe die Aufgabe damals ziemlich unterschätzt." Zu kleinen Filmrollen ist sie seitdem trotzdem gekommen. Besonders stolz ist sie auf ihre Szene in Wim Wenders "Himmel über Berlin". So hat sie sich den Traum vom Schauspielern doch erfüllt.

Schnappschüsse macht Erika Rabau am liebsten und mit Licht und Schatten spielen. Manchmal hört man im Pressekonferenzraum, wie ein Film zurückgespult wird. Das ist Erika. Ihre Analogkamera gibt sie nicht her. Eines ihrer alten Modelle wollte ihr sogar schon James Stewart abkaufen. Keine Chance. "2000 Mark hat er geboten. So viel war sie gar nicht wert. Das konnte ich nicht zulassen", erzählt Erika.

Mit ihr erleben wir den Berlinale-Alltag so, wie sie ihn 2007 erlebt hat. Auch mit Erinnerungen an verstorbene Freunde und an ihren Mann, der seit drei Jahren tot ist. Tränen laufen ihr die Wangen herunter. Doch weg damit! Erika freut sich über die, die noch da sind. Und über manchen Schauspieler. "Hach, von Jamie Bell bin ich futsch und weg", schwärmt sie. "Die Berlinale ist mein Leben."

Ihr Alter ist uns völlig egal. Hauptsache, sie ist noch lange dabei.

Fünfter Tag
11. Februar
Von Astrid Mathis

Angemerkt

8.40 Uhr. Berlinale-Palast. Eine Menschenschlange säumt den Weg zum Saal - kein ungewöhnlicher Anblick dieser Tage. Und doch nicht normal.

Gleich soll "Tropa de Elite" über die Leinwand flimmern.

"Entschuldigung, wann machen Sie denn auf? Es ist schon 8.40 Uhr", fragt ein Kollege eine Berlinale-Mitarbeiterin. Die antwortet knapp: "Das werden Sie dann schon merken!"

"Typisch Berlin! Berliner Freundlichkeit", kommentiert mein Gegenüber und zetert weiter: "Ich wundere mich über nichts mehr. Ich reg mich nicht mehr auf." Zu seinem Bekannten sagt er: "Wollen wir nicht einen Zug früher nehmen?"

Die Zeiten, in denen an Presseleute BVG-Karten verteilt wurden, sind schon lange vorbei. Die Neulinge halten das sogar für ein Ammenmärchen. Aber manch einer erinnert sich und wundert sich über jar nischt mehr. "Reine Schikane!" ist man sich einig.

Ich wundere mich noch. Jedes Jahr lassen sich die Berlinale-Leute etwas Neues einfallen. Das Festival soll professioneller und internationaler werden, mit Cannes mithalten. So etwas in der Art. Jetzt ist man schon soweit, den Journalisten die Akkreditierung zu entziehen, wenn sie ohne Foto-Badge auf den Auslöser drücken. Vor und nach der Pressekonferenz darf man natürlich auch nicht fotografieren. Außerdem: Hat man sich mit seinem Ausweis Karten abgeholt, reicht es nicht, die Karten vorzuweisen. Ohne Ausweis und Karte kein Film. Dabei sollte das festgesetzte Kontingent doch leicht verhindern, dass die Säle überfüllt sind. Verständlich - dem Schwarzmarkt soll ein Riegel vorgeschoben werden. Und trotzdem! Die ständigen Änderungen der Sicherheitsauflagen und Vorschriften führen zu Verwirrung und machen erst recht keinen Spaß. Irgendwann verliert man bei den Schildern den Überblick.
Fehlt nur noch, dass Handybenutzen und Wassertrinken mit Ausweisentzug bestraft wird.

Wir sind in Deutschland. Es werden sich in den nächsten Jahren bestimmt noch ein paar neue Regeln erfinden lassen.


Butoh oder Wie man mit den Toten spricht

Wettbewerb "Kirschblüten - Hanami"

Rudi und Trudi sind so, wie man sich ein bayrisches Ehepaar im besten Rentenalter vorstellt. Alles hat seinen geregelten Ablauf. Alles im Haus ist geblümt, blau oder kariert.

Als Trudi erfährt, dass ihr Mann unheilbar krank ist, bricht für sie eine Welt zusammen. Sagen will sie ihm nichts. Und ein Leben ohne ihn kann sie sich einfach nicht vorstellen. Der Arzt schlägt ihr eine Reise vor, ein Abenteuer vielleicht. Ein Abenteuer vielleicht? "Mein Mann mag keine Abenteuer", weiß Trudi sicher. Reisen - das ist eher etwas für sie. Zum Fujijama nach Japan und die Kirschblüte sehen, das würde sie gern. Sie wollte ja mal Butoh-Tänzerin werden. "Der Fuji ist auch nur ein Berg", hält ihr Rudi entgegen. So packen die Zwei ihre Koffer und reisen nach Berlin zu ihren Kindern. Schnell fallen die Eltern ihnen auf den Wecker. Dabei machen sie gar nichts. Eine unangenehme Entdeckung, die das Paar ans Meer treibt. Dort stehen sie nebeneinander, stecken beide in Trudis blauer Strickjacke und stellen fest, dass sie die Zwei als Erwachsene gar nicht mehr kennen. Von Zeit zu Zeit wischt sich Trudi unbemerkt Tränen aus dem Gesicht. Sie kann an nichts anderes mehr denken als an Rudis bevorstehenden Tod. Doch sie stirbt zuerst. Und Rudi, der eigentlich am liebsten zu Hause war, macht, was Trudi gern getan hätte. Er reist nach Japan. Allein macht er sich auf durch das Labyrinth Tokio, weil sein Sohn Karl keine Zeit für ihn hat. Er will Trudi die Stadt zeigen, ihr nahe sein und zieht dafür sogar Trudis Sachen an, die er unter seiner Jacke verbirgt. Als Rudi die junge Butoh-Tänzerin Yu kennenlernt, kommt er Trudi endlich näher. Um sie herum leuchten Kirschblüten in zartem Rosa. "Butoh ist Tanz mit den Toten", sagt Yu. Am Ende des Films tanzen Rudi und Trudi rot, weiß und schwarz angemalt miteinander Butoh. Im Hintergrund der Fujijama. Dann stirbt auch er. Berührend.

20 Minuten kürzer, und der Film hätte einen Bären verdient.


"Kirschblüten" mit Elmar Wepper und Hannelore Elsner, Regie: Doris Dörrie

Die Pressekonferenz

Sonnenbrille. Die Jacke ist eisblau und grün, ihre Lippen sind rot geschminkt. Farbenfroh und in bester Redelaune zeigt sich Doris Dörrie den Journalisten. Munter plappert sie drauf los, macht die Pressekonferenz fast allein. Wie auf einem Operationstisch ohne Narkose fühle sie sich, verrät sie. Gelassen und ruhig sitzen Hannelore Elsner und Elmar Wepper neben ihr. Seit dem Film haben sie ein besonderes Verhältnis zueinander, denn Doris Dörrie färbte täglich eigenhändig die Haare der Beiden grau. "Es war ein Kulturschock", beschreibt Elmar Wepper seine Erfahrung mit Japan. Unmöglich sei es, jemanden anzurempeln. Alle weichen schon fünf Meter vorher aus. Erst recht, wenn man mit Frauenkleidern die Straße entlang läuft. "Die Rolle war für mich ein Geschenk. Ich habe in Trudi meine bayrische Oma wiedergesehen und habe sie lebendig gemacht", resümiert Hannelore Elsner, die sich freute, einmal im Dialekt spielen zu dürfen. "Meine Oma war weich, aber hart im Nehmen. Darin bin ich ihr ähnlich", so die Schauspielerin.

Über Trauer und Tod mussten sie bei den Dreharbeiten nicht sprechen, erklären Regisseurin und Hauptdarsteller einvernehmlich. Jeder kenne ja diesen Schmerz oder könne ihn sich ausmalen, mit dem Verlust eines Menschen umgehen zu müssen. Es sei eben ein Film über Vergänglichkeit, einer über Eltern und Kinder, über gestörte Kommunikation, der jeden, der noch nicht darüber nachgedacht hat, dass die Eltern wahrscheinlich vor ihm sterben werden, mit diesem Thema direkt konfrontiert. Darum lässt Dörrie das Gedicht von der Eintagsfliege von Trudi rezitieren, denn auch sie glaubt, dass sie noch lange lebt. Gefunden hat die Regisseurin das Gedicht in einem Buchladen in Berlin. Die Berliner Fahrkartenautomaten haben es ihr ebenfalls angetan. Rudi lässt sie daran fast verzweifeln. Elmar Wepper gesteht: "Ich wusste wirklich nicht, wie der Schlitz für das Geld aufgeht. Das macht dich als Bayer wahnsinnig." Und Hannelore Elsner gibt zu: "Ich wusste auch nicht, wie das geht. Ich habe das noch nie gemacht." Dafür wussten es die wartenden Leute hinter ihnen. Die meinten: "Haben Sie´s denn bald?"


Regisseurin Doris Dörrie


Schauspielerin Hannelore Elsner

Die Besucherin oder Wie man im deutschen Kino mit Unbekannten Sex hat

Da will einer einen Film machen, der eine Mischung aus "Intimacy" (Berlinale-Gewinner) und deutschem Kino ist. Heraus kommt "Die Besucherin".

Agnes ist Ärztin und langweilt sich. Sie hat einen Mann und eine Tochter. Und während ihr Mann (gespielt von Samuel Finzi - er ist übrigens der einzige, der mit seinem Charakter überzeugt) noch an ihr und ihrem Zusammenleben interessiert ist, hat sie schon lange die Nase voll. Für ihre Schwester hingegen ist sie da. Sie gießt sogar die Blumen in der Wohnung, auf die sie aufpassen soll. Eines Tages hört sie den Anrufbeantworter ab. Bruno bittet Theresa, ans Telefon zu gehen. Statt Theresa lauscht Agnes seinen Worten. Die Nachbarn haben bereits ihren Kondolenzbesuch gemacht. Theresa ist also tot. Das passende Puzzleteil zu der Geschichte mit Theresa findet Agnes in einem Brief, den Theresas Geliebter an sie schrieb. Sie solle sich entscheiden.

Als Agnes sich in der Wohnung ins Bett legt, taucht ein Mann auf. Ein älterer Herr, der wahrscheinlich Bruno ist. Er nimmt sich einen Joghurt aus dem Kühlschrank, legt sich zu Agnes ins Bett. Theresa wacht auf, bleibt so liegen. Und Bruno "kommt von hinten zur Sache". So beschreibt der Schauspieler selbst das Schauspiel, das sich hier ereignet. Zwei Unbekannte haben Sex miteinander. Agnes soll man glauben, dass ihr jetzt grad jeder Mann recht ist, egal, wie er aussieht, und Bruno soll man glauben, dass er denkt, er hätte seine Frau vor sich liegen, die er jetzt so eben mal nimmt. Also nee, deutsches Kino, solche Geschichten haben andere schon besser erzählt. Und alte Männer wollen Sex mit jungen Frauen und kriegen ihn auch, bis sie ihnen erklären, dass sie alles von ihnen wissen wollen, das ebenfalls. Und besser. Agnes und Bruno kauft man die Geschichte nicht ab.

Bei Radio 1 ist später von Grenzerfahrungen die Rede, davon, eine Tür aufzumachen, davon, sich über die Konsequenzen des eigenen Handelns zu erschrecken. Dieser Grenzüberschreitung und den Konsequenzen zuzusehen, kann man sich sparen. Ein unsäglicher Film.


Samuel Finzi bei Radio 1
 

Vierter Tag
10. Februar
Von Astrid Mathis
Zeit für Gefühle

Wettbewerb "The Song of Sparrows"

An einem Sonntagmorgen um 9 Uhr im Berlinale-Palast zu sitzen, kann tatsächlich schön sein. Zum Beispiel, wenn man einen so guten Film sieht wie diesen. Majid Majidis Familiengeschichte aus dem Iran hat einen Zauber an sich, dem sich niemand entziehen kann. Zu verdanken ist das Reza Najie, denn er verkörpert den Filmhelden Karim, der eigentlich gar kein Held ist. Karim lebt auf dem Land, hat Frau und Kinder und ist ein wahrer Pechvogel. Er arbeitet auf einer Straußenfarm, inmitten von Straußen, ein Bild, das der Regisseur wunderbar in Szene setzt. Als ihm ein Strauß entflieht, wird Karim entlassen. Zu allem Überfluss ist das Hörgerät seiner Tochter ins Wasser gefallen - der Ersatz wird teuer. Die Suche nach einer neuen Anstellung führt Karim nach Teheran, wo er unter anderem als Motorrad-Taxifahrer Leute durch die Gegend chauffiert. Im Alter von 65 Jahren ist das besonders verrückt. Ein komischer Anblick.

Karim will, dass es seiner Familie gut geht und den Kindern ihre Wünsche erfüllen. Auch wenn es ein Goldfischteich ist, den sie wollen. Doch die Kinder stürzen mit der Wassertonne, und die Fische drohen auf dem Boden zu vertrocknen. Schließlich verletzt sich Karim noch schwer sein Bein. Klingt nach einer Tragödie. Ist es aber nicht. Majidi erzählt mit einzigartigen Bildern herzerfrischend humorvoll, selbst wenn er ernste, nachdenkliche Töne unter seine Erzählung mischt. Ein herrlicher Film, den man einfach gesehen haben muss.


Im Radio 1 Studio mit Knut Elstermann: Regisseur Majid Majidi (links)
und Hauptdarsteller Reza Najie (rechts von Knut Elstermann).
Neben dem Hauptdarsteller: der Dolmetscher.


Wettbewerb "Elegy"

Sie ist so schön, dass sich David Kepesh (Sir Ben Kingsley) einfach in sie verlieben muss. Consuela (Penélope Cruz). Über Literatur zu dozieren, wird für Kepesh bei diesem Anblick zur Nebensache. Bindungsscheu und voller Angst, eines Tages von ihr verlassen zu werden, kann er sich einer Affäre mit seiner Studentin trotzdem nicht entziehen. Er ist verrückt nach ihr.

Der Film nach dem Roman von Philip Roth "Das sterbende Tier" erinnert an die Verfilmung von "Der menschliche Makel". Jedoch nur, weil auch da der Altersunterschied zwischen dem Liebespaar mindestens 30 Jahre ausmacht. Ansonsten haben die beiden Filme lediglich gemeinsam, dass Nicholas Meyer das Drehbuch verfasste, denn Ben Kingsley und Penélope Cruz gelingt es weit überzeugender, ein Paar abzugeben, das sich anzieht, als Anthony Hopkins und Nicole Kidman. Die Regisseurin von "Elegy", die Spanierin Isabel Coixet, hat schon mit ihrem Film "Mein Leben ohne mich" ins Herz getroffen. Ihre sensible Art ist es, die "Elegy" glaubwürdig und berührend macht.

Die Geschichte an sich klingt kitschiger, wie sie nicht sein kann. Und ist es mit Penélope Cruz und Ben Kingsley in den Hauptrollen überhaupt nicht. Als Ich-Erzähler lässt David die Zuschauer an seinen Gedanken teilhaben, an seinen Schwärmereien, seiner Lust und seinen Ängsten vor dem Alt- und vor dem Verlassenwerden, macht den Film damit ehrlich. Dennis Hopper setzt als bester Freund George Akzente und reißt David immer wieder aus seinen Träumen. Nach eineinhalb Jahren, in denen sich David stets entzog, Consuelas Familie vorgestellt zu werden, kommt es zum Bruch zwischen den Beiden. David erfindet eine Ausrede, nicht zu Consuelas Abschlussfeier zu kommen. Damit ist es aus für Consuela. Viele Jahre ist Funkstille. Jahre, in denen er sie nicht vergessen kann. Dass George stirbt, ist nur der Anfang von einem dramatischen Ende. Consuela steht in der Silvesternacht vor Davids Tür und bittet ihn, sie noch einmal zu fotografieren, bevor ihr Körper zerstört wird. Sie will das Bild von sich bewahren, ehe der Brustkrebs seine Konsequenzen einfordert. Nach der Operation ist David wieder an ihrer Seite. Sie verschmelzen zu einem Paar, das sich ähnlicher in seiner Liebe zueinander und Angst vor dem Sterben kaum sein kann. Isabel Coixet zeichnet dieses Paar und die Geschichte still und klar, darin liegt ihre Glaubwürdigkeit.


Penélope Cruz und Sir Ben Kingsley

Die Pressekonferenz

Sie ist wirklich eine Schönheit. Wer es nicht schon vorher in einem ihrer Filme festgestellt hatte, den überzeugte spätestens ihr Auftritt bei der Pressekonferenz in natura. Schönheit und Vergänglichkeit - nicht zuletzt geht es in der Liebesgeschichte auch darum.

Vor sechs Jahren fiel Penélope Cruz das Buch von Philip Roth in die Hände. Seitdem hoffte sie, den Stoff einmal als Drehbuch in Händen zu halten, erzählt die Schauspielerin. Dann wird sie etwas auf Spanisch gefragt, was allein die Spanier verstehn und diejenigen, die sich mit Kopfhörern ausgerüstet haben. Auch Cruz´ Antwort verstehen nur die wenigsten. Isabel Coixet zeigt sich kooperativ und sagt: "I translate: She said I´m a fucking genius." (Ich übersetze: Sie sagte, ich wäre ein Genie.") Erleichtertes Lachen unter den Journalisten. Doch der spanischen Unterhaltung ist es nicht genug. Penélope Cruz wird nach der Arbeit mit Ben Kingsley gefragt. "She said he is a fucking genius, too", ergreift Coixet nach einer langen Rede der Schauspielerin ein zweites Mal das Wort. Dann ist Ben Kingsley an der Reihe. Wie er das Altwerden sieht, will ein Journalist wissen. "Manche Menschen bringen dich dazu, dich in einer halben Stunde plötzlich alt zu fühlen. Mit anderen fühlt man sich jung, sobald man mit ihnen telefoniert", erzählt Kingsley. Und Penélope Cruz, hat sie Angst vorm Altwerden? - "Ich freue mich darauf, denn ich möchte nicht so bald sterben. Also klar, ich möchte alt werden."

Nun kommt eine Frage, auf die alle Romankenner wahrscheinlich schon gewartet haben. Warum sind im Film viel weniger Sexszenen, als im Buch beschrieben (in einer Szene spielt David onanierend Klavier zum Beispiel). Die Regisseurin antwortet: "Das war für die Charaktere nicht wichtig. Es sollte so intim und natürlich wie möglich zwischen ihnen sein. Und eine solche Atmosphäre habe ich geschaffen. Die anderen Szenen waren nicht nötig." Bis zu diesem Zeitpunkt war den meisten wohl entgangen, dass auch Produzent Gary Lucchesi durch Anwesenheit glänzte. Mit rotem Kopf warf er ein: "Ich fühlte mich privilegiert, dass ich im selben Raum sein durfte." Und ergänzte schnell: "Mit all diesen Künstlern." Zuletzt fragt ein Journalist noch nach, ob Ben Kingsley sich beim Dreh nicht in seine Filmpartnerin verliebt hätte. Trocken gibt er zur Antwort: "David und Consuela sind nicht Ben und Penélope."
 

Dritter Tag
9. Februar
 
Von Astrid Mathis

Am Abgrund

Wettbewerb "Julia"

Sie tanzt und lacht, flirtet und trinkt. Alles scheint normal zu sein mit Julia. Am Morgen wacht sie neben einem Typen auf, von dem sie jetzt nur noch weg will. Ihr Mund ist trocken. Den faden Geschmack kann man Julia (Tilda Swinton) ansehen. Ihr grünes Glitzerkleid macht bei Licht nicht mehr viel her. Eine Nacht wie viele. Danach kann sie sich an nichts mehr erinnern. Auf einem Treffen anonymer Alkoholiker lernt sie die Mexikanerin Elena kennen, die ihren Sohn Tom wiedersehen will. Elena hat auch schon einen Plan. Sie hat vor, Tom von Julia kidnappen zu lassen und damit seinem reichen Großvater zu entreißen. Julia sieht ihre Chance, endlich an Geld zu kommen, ein anderes Leben anzufangen. Von Elena ist von nun an nicht mehr die Rede. Julia kidnappt Tom (einfühlsam gespielt von Aidan Gould) und verlangt zwei Millionen Dollar Lösegeld. Tom erzählt sie, dass er bald seine Mutter sehen wird, sie nur noch anrufen muss. Aber es kommt anders. Tom glaubt ihren Lügen nicht und rennt weg. Als Julia den Jungen in der Wüste sucht, sind erste mütterliche Gefühle in ihr zu erahnen. Sie flieht mit ihm nach Mexiko und macht den Deal mit Toms Großvater perfekt. Wieder passiert alles anders als geplant. Tom wird von Mexikanern entführt. Um den Jungen wiederzubekommen, ist Julia kein Preis zu hoch. Sie tut, was sie am besten kann: Sie lügt.

Regisseur Erick Zoncka macht mit seinem Film eine Alkoholikerin (dank einer überzeugenden Tilda Swinton) zur Mutter. Zu lang und zu amerikanisch inszeniert vielleicht, um das Publikum letztendlich wirklich vom Hocker zu reißen.

Es geht ihm um das Wecken des Mutterinstinkts, betont Regisseur Erick Zonca auf der Pressekonferenz. Hatte der elfjährige Aidan Gould gar keine Angst, mit so einer durchgeknallten Mutter zu spielen? "Schauspieler können einem schon Angst machen", erwidert der Junge altklug, "aber ich hatte keine Angst, denn es ist ja bloß ein Film." - "Thank you and good night", kann Tilda Swinton dazu nur sagen. Als "freaky pair of freaks" sieht sie die beiden Hauptcharaktere in dem Film. Eine Frau, die nie Mutter war, geschweige denn Verantwortung übernahm, auf der einen Seite, und ein Junge, der nie eine Mutter hatte und unter Männern aufwuchs auf der anderen Seite. Dass sie eine Alkoholikerin verkörpert, die nah am Abgrund entlangbalanciert, ist für die Schauspielerin "just dress up and play" (anziehen und spielen). Ihr Leben lang ist sie es gewohnt, von Alkoholikern umgeben zu sein, sie selbst verträgt nichts. Ist diejenige, die nüchtern bleibt und nach der Party alle nach Hause fährt. Die höchstens spielt, betrunken zu sein. "Mit Leuten herumzuhängen, die trinken, ist die einzige Vorbereitung, die man dafür braucht", behauptet Swinton.


Perspektive Deutsches Kino "Berlin – 1. Mai"

Was losmachen, mal richtig was erleben wollen die Freunde Jacob und Pelle aus Minden. Harry aus der 68er-Generation hat vor, wie immer eine Barrikade zu errichten. Der kleine Yavuz will einfach nur einen Bullen "plattmachen, umlegen". Polizist Uwe sieht sich in einer Lebenskrise, nachdem ihn seine Frau betrogen hat, und muss zum Einsatz antreten. Es ist 1. Mai in Berlin.

Sven Taddicken verknüpft die vier Geschichten miteinander und erzählt sie so pur, dass sie nicht nur glaubwürdig sind, sondern auch berühren. Es kann nur schief gehen. Man weiß es von Anfang an. Nur wie es geschieht, ist unklar. Die Aggression ist spürbar, die Unzufriedenheit mit sich selbst, die Sehnsucht, einmal auszubrechen, durchzudrehen. Taddicken schreckt nicht davor zurück, Gewalt zu zeigen, wie sie in Berlin jährlich am 1. Mai zutage tritt.. Dieser Tag ist bei ihm ein Prüfstein für Menschlichkeit, Toleranz, Selbstbeherrschung, Vernunft, Freundschaft. Keiner der Protagonisten scheint in dem Film dazu in der Lage zu sein, auch nur eines der Attribute zu bewahren oder in seinem Inneren zu suchen. Das hat für den Morgen danach Konsequenzen, die am Ende doch keiner wollte.

Zweiter Tag
8. Februar
Von Astrid Mathis

Drama, Drama, Drama

Wettbewerb "Zuo You - In love we trust"

Es ist einer dieser leisen chinesischen 9-Uhr-Filme, den Wang Xiaoshuai auf die Kinoleinwand zaubert. Kaum mit Musik gefüllt. Das Drama kündigt sich auch ohne sie an: Ein Paar in den 30ern erfährt, dass Tochter Hehe an Leukämie erkrankt ist und nur durch eine Knochenmarkspende gerettet werden kann. Allerdings ist das Kind, das Spender sein könnte, noch nicht einmal gezeugt, denn Hehes Eltern Mei Zhu und Xiao Lu sind geschieden und haben längst andere Partner gefunden. Sie werden plötzlich mit einer Situation konfrontiert, für die es keine Lösung gibt, oder eine, mit der sie nie zurechtkommen werden. Gehen die Eltern von Hehe miteinander ins Bett, wird es für keinen der Vier mehr wie vorher sein. Und alle Hoffnung hängt an dem Kind. Eine lebensrettende Maßnahme, die Opfer fordert und die Liebesbeziehung mit den neuen Partnern unweigerlich in Frage stellt. Von Zauber hat der Film wenig, vielmehr von einer Geschichte, die nicht nur in China spielen könnte.

Wettbewerb "There will be blood"

Südkalifornien 1898. Er gräbt im Dreck. Wühlt wie ein Tier. Sucht nach Silber. Um jeden Preis. Daniel Plainview steht ganz am Anfang seiner Karriere. Gespielt wird er von Daniel Day-Lewis, der eine phantastische Vorstellung gibt. Großes Theater in bestem Sinne. Paul Thomas Anderson nimmt sich den Stoff des Upton Sinclair Romans "Öl" von 1927 und macht ihn aktuell. Er erzählt eine Geschichte über Gier und Macht, Gewalt und Lügen, Väter und Söhne, Gewinner und Verlierer. Im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. 1911 gräbt Plainview längst nicht mehr selbst im Dreck, er hat seine Männer. Farblose Gestalten auf der Kinoleinwand. Austauschbar. Und das sollen sie wohl auch sein. Einzig und allein sein angenommener Sohn H.W. hat klare Züge, erweist sich als derjenige, der ihm nahe kommt wie kein anderer. Dennoch bleibt Plainview einsam sein Leben lang. Er hat keine Freunde, er betrügt Farmer um ihr Land, und an Gott glaubt er schon überhaupt nicht. Dabei ist er in eine religiöse Gegend geraten und sieht sich ständig mit dem jungen Pastor Eli Sunday (Paul Dano) konfrontiert. Am Ende hat er mehr Geld, als er ausgeben kann, sitzt in einem prachtvollen Herrenhaus und schießt auf seine Einrichtung. H.W. kommt, um ihm zu sagen, dass er mit seiner Frau nach Mexiko geht und sich eine eigene Firma aufbauen möchte. Plainview sieht ihn sofort als Konkurrenten, trunken vor Wut schleudert er H.W. ins Gesicht, dass er nicht sein Sohn ist und verliert damit den einzigen Menschen, an dem sein Herz hing. Im großen Finale trifft er ein letztes Mal auf Eli Sunday und hält ihm seine Macht- und Geldgier vor Augen. Er ist kein besserer Mensch als Plainview. Der wähnt sich als Sieger. Dabei hat er lange vorher schon alles verloren.


"There will be blood"

"There might be blood" sollte der Film heißen, hatten Regisseur und Hauptdarsteller Daniel Day-Lewis anfangs überlegt, verriet Paul Thomas Anderson auf der Pressekonferenz. Ein Versprechen sollte der Titel sein, und so gaben sie dem Film letztendlich doch den Namen "There will be blood".

Ein schwarz-weißes Hemd mit pinkfarbenen Blumen darauf, Ärmel mit goldenen Ornamenten, goldene Ohrringe, Hut - so erscheint Daniel Day-Lewis vor den Journalisten. Bei jedem anderen hätte der Aufzug albern ausgesehen, bei ihm hat er Stil.

Ob er mit dem Oscar rechnet, wird der nominierte Hauptdarsteller gefragt. "Ich beantworte die Frage", erwidert Anderson und stellt klar: "Ich hoffe, sie geben uns alle Oscars". Nervös wird er sein, aber relaxt tun oder umgekehrt, beschreibt der Schauspieler das bevorstehende Gefühl in der Oscar-Nacht. Daniel Day-Lewis nimmt sich nun die Antwort auf die Frage an Anderson vor, erklärt, jeder Film fordere seinen eigenen Stil. So sei das auch hier geschehen. "Und was hat der Film mit ihnen persönlich zu tun?", bekommt Anderson als nächstes aufgetischt. "Er ist unglaublich autobiographisch", meint der Regisseur und lacht. Ohne Day-Lewis zu blamieren, will sich Paul Dano zu den emotionalen und gewaltsamen Szenen äußern. "Es war ein großes Vergnügen. Daniel machte es einem leicht. Wenn man Angst hat, kann man gut spielen." Und wirklich. Selbst wenn er lacht, ist einem der Schauspieler ein bisschen unheimlich.


Paul Thomas Anderson


Paul Dano

Am roten Teppich zeigen sich die drei Herren von "There will be blood" äußerst redselig und zeigen Verständnis für ihre Fans. Daniel Day-Lewis gibt der kompletten ersten Fan-Reihe vor dem Berlinale-Palast Autogramme und außerdem viele Interviews. Anderson eilt sogar noch einmal zurück, als ihn die Zaungäste beharrlich rufen und mit Kugelschreibern auf ihn warten. Das sollen ihnen erst einmal andere Stars nachmachen.


Daniel Day-Lewis


    

Wettbewerb "Black Ice"

Noch mehr Drama als im finnischen Wettbewerbsbeitrag von Petri Kotwica geht nicht. Dabei fängt der Film so vielversprechend an. Saara hat Geburtstag und deckt auf, dass ihr Mann sie mit einer Studentin betrügt. Sie verfolgt die junge Frau und lernt sie kennen. Mehr noch: sie schließt sich Tuulis Karateclub an, belegt bei ihr den Anfängerkurs, wird ihre Freundin. Zu Hause ist sie ausgezogen. Saara ist jetzt Crista. Doch sie findet wieder zu ihrem Mann Leo zurück. Was macht man dann mit der Freundschaft zur Geliebten, die wahrscheinlich ein Kind vom eigenen Mann erwartet, wenn man Gynäkologin ist? Saara flößt Tuuli nach einer Feier Schlafmittel ein und legt selbst Hand an, um herausfinden, ob es tatsächlich an dem ist. Zu dumm. Tuuli wacht auf. Und Saara? Die rettet sich durch das Verhalten einer Verliebten, knutscht Tuuli. Alles in dem Haus von Leo und Saara. Als Tuuli sich genauer umsieht, wird ihr klar, wo sie sich befindet. Doch Leo kommt, und Tuuli ergreift per Auto die Flucht. Leo hält sie allerdings für Saaras jungen Liebhaber und fährt ihr nach. Es knallt. Aber nichts passiert. Tuuli sieht Leo noch einmal an. Er soll nach Hause gehen, sagt sie. Es ist Nacht. Saara fällt vor Schreck ein, dass Leo von dem Schlafmittel-Glas getrunken hat und stürzt los. Dann ist es taghell. Was für ein Sprung! Was für ein Fehler! Leo ist erfroren. Doch Tuuli erfährt es erst spät. Nun will sie ihr Kind loswerden und landet nach dieser Aktion auf Saaras Tisch. Die rettet beide. Alles gut? Wohl kaum.
 

Erster Tag
7. Februar
Von Astrid Mathis

Chinesisch


Dieter Kosslick mit Berlinale-Schal

Die Berlinale-Werbeartikel winken aus jeder Ecke des Potsdamer Platzes. Es ist soweit. Donnerstagvormittag. Los geht´s.


Die Jury

Nachdem Berlinale-Chef Dieter Kosslick vor zehn Tagen das Geheimnis um die diesjährige Jury gelüftet hat, verkündete er zur Vorstellung derselben: "Wie Sie sehen, haben wir zwei Jurymitglieder verloren." Sandrine Bonnaire und Susanne Bier mussten in letzter Minute absagen. Kosslick kommentierte diesen Fakt mit: "Man bekommt eben nicht immer, was man will." Beziehungsweise "You can´t always get what you want", wie es die Stones mit einem Lied sagen. Lustig findet die Absage in Kosslick-Scherz-Manier keiner. Die Journalisten reagieren gelassen, fast unbeteiligt. Selbst die Dolmetscher für Jury-Mitglied Shu Qi, ihres Zeichens eine Actrice aus Taiwan, zeigen wenig Herzblut an der Vorstellung. Statt zu übersetzen, was die Schauspielerin gefragt wird, ist lediglich "die Fragen kann keiner verstehen" über Kopfhörer zu erfahren. Nur chinesisch versteht offenbar auch die deutsche Hollywood-Schauspielerin Diane Krüger, die des Englischen hoffentlich mächtiger ist als des Deutschen. "Mir" und "mich" kann sie jedenfalls nicht auseinander halten. Die Arbeit mit Ed Harris in einem Film, für den beide Dirigentenunterricht nahmen, "hat mich viele, viele Tore geöffnet". Aber es ist ja schließlich aufregend,mal zehn Tage nur Filme zu sehen und zu bewerten, anstatt sie zu drehen und auf Promotion-Tour zu gehen, wie sie selbst sagt.

Vom Begriff "beurteilen" distanziert sich die Jury, allen voran der Präsident Costa- Gavras. Er geht danach, was ihm gefällt, was ihn berührt. Und redet von einer Liebesgeschichte zwischen ihm und dem Film, den er sieht. Die muss es geben, dann ist ein Film für ihn gut. Musik war in seinen Augen schon immer Thema in allen Filmen, denn sogar beim Stummfilm laufe nichts ohne sie. Dass heutzutage die Digitalisierung Überhand nimmt, sieht er als phantastische Chance, die eine große Gefahr birgt.

Sehen wir die ach so musikalisch angekündigte 58. Berlinale einfach ebenfalls als Chance, eine Chance auf den Rest der Filmfestspiele, der hoffentlich mehr rockt als die Vorstellung der Jury.


Abgang der Jury

Die Steine rollen über Berlin

Wettbewerb "Shine a light"

Martin Scorsese. Wie er aufgeregter nicht sein kann. Wie man ihn kennt. Schnellredend mit fahrigen Bewegungen. Ganz Regisseur. Detailliebend. Perfektionist.

Mick Jagger sieht sich die Bühne an - aus Pappmaché. "Was ist das?" - "Die Bühne." - "Die sieht aus wie ein Puppenhaus." - "Aber du wolltest es so!" - "Nein, Marty wollte es so." "Shine a light" beginnt. Die Setliste soll Marty erst eine Stunde vor der Show im New Yorker Beacon Theatre zu sehen bekommen. Es wird am Ende eine Sekunde vorher sein. Eine gefühlte Sekunde. Bill Clinton begrüßt die Fans. Die Stones begrüßen den Politiker und seine Frau. "Nett, Sie kennen zu lernen", sagen die Rocker einer nach dem anderen. Man kauft es ihnen nicht recht ab, dieses Getue. Die Stones und Floskeln? Man lacht. Alles andere hätte verwundert. Zu viele Kameras, zu viele Scheinwerfer, klagen die Musiker. "Wenn Mick länger als 18 Sekunden vor diesem Scheinwerfer steht, riskieren wir, dass er verbrennt", bekommt Martin Scorsese gesagt und antwortet genauso sachlich: "Wir können Mick Jagger nicht verbrennen, nein, das geht nicht." Ein Running-Gag ist die Setliste, ein inszeniert wirkender, aber unterhaltsamer Anfang.

Wenig später brennt das Theater. Aber nur im übertragenen Sinne. Überall Kameras, so fühlt der Film sich an. Dabei sind es nur 16. Interessant wird es, wenn Martin Scorsese Ausschnitte aus Interviews von früheren Tagen der Band zeigt. Die ersten interessieren besonders. Zwei Jahre sind sie alt. Mick gibt sich und seinen Jungs noch sicher ein Jahr, zwei hatte er schon nicht erwartet. Weiter denkt er nicht. Nach der zweiten Tour redet er von "einer chemischen Reaktion", die es zwischen der Band und dem Publikum gab. Zehn Jahre später fragt ihn wieder ein Journalist, wie lange er noch so weiterleben will, ob er sich vorstellen kann, das noch mit 60 zu machen. "Easily" ist seine Antwort. Die Haftstrafen von ihm und Keith Richards kommen zur Sprache, werden jedoch nur kurz angerissen. Überhaupt gibt es viel Konzert, den Hit "Shine a light" natürlich und wenige Rückblicke. Der Zuschauer ist dabei, alles von früher erfahren zu wollen, bekommt ein paar Informationshappen und sitzt dann doch im Kino. Ein Film ist eben ein Film, kein Live-Konzert. Und trotzdem hat man nach diesem Stück Kino das Gefühl, den Rolling Stones so nah wie nie gekommen zu sein. Keine Falte bleibt verborgen. Mick Jagger tanzt, springt, joggt über die Bühne. Ein körperlicher Kraftakt ist jedes der beiden im Herbst 2006 eingefangenen Konzerte. An Jaggers Seite tauchen Jack White, Christina Aguilera und Blues-Legende Buddy Guy auf. Aber die Stones sind der Kult, der hier gefeiert wird.

Berlin macht auf Stones

Die Pressekonferenz

Geschlagene anderthalb Stunden müssen die Journalisten nach der Pressevorführung warten, ehe die alten Herren erscheinen. Alte Herren, die Legenden sind und immer noch abrocken können. Mick Jagger, redselig, aber unkonzentriert, Keith Richards, bunt und unterhaltsam, Ronny Wood, dezent schweigend, Charlie Watts, zerknirscht und wenig interessiert. Mittendrin Martin Scorsese, um keine Antwort verlegen und mit freundlichem Gesicht. Erst in den 70ern lernte er die Musik der Rockband kennen. Seither lässt er keine Gelegenheit aus, ihre Werke in seinen Filmen einzubringen. Sie sind für ihn zeitlos. "Ich glaube, Shine a light ist der einzige Film von dir, in dem nicht Gimme shelter vorkommt", merkt Jagger grinsend an.

 


 

Doch wann kam Scorsese überhaupt auf die Idee für diese Doku? "Ich habe damals schon gesagt: Eines Tages ... Es hat zwar 40 Jahre oder so gedauert", erwidert der Regisseur, derweil er an seiner Hornbrille herumnestelt. Ob die Musiker das mochten - gefilmt zu werden, will ein Journalist wissen. "Charlie!" ruft daraufhin Jagger und lacht. Charlie lacht nicht: "Ich habe es gehasst. Es ist zwar schön gefilmt, aber ich habe es gehasst." Dann folgen Lobesreden aufeinander. Mick Jagger guckt wahllos in die Menge, auch wenn der Fragende extra aufsteht. Marty betont noch einmal, dass er versucht hat, so nah wie möglich ein Stones-Konzert einzufangen. "Die Show beginnt. Und zwei Sekunden später ist alles vorbei", resümiert er nach den Aufnahmen. So fühlten sich auch die Stones an. Sie kamen, sagten ein paar verschlafene Worte, und zwei Sekunden später war der Rummel vorbei.

Die Stones halten sich nicht lange auf. Das bekamen am Abend auch die Fans bei der Gala-Vorstellung im Berlinale-Palast zu spüren. Sie waren spät dran, die Rockmusiker. Zeit für Autogramme und Interviews hatten sie wenig eingeplant. Nach erstem Jubel quittierten die geschmückten und geduldig wartenden Fans das mit Buh-Rufen und Pfiffen. Gefühlte zwei Sekunden, und weg waren sie.

Wer alles zur Eröffnungsgala erschien


Fans


Schauspielerin Goldie Hawn


Punkrocklady Patti Smith


Regisseur Tom Tykwer


Die Schauspieler Jessica Schwarz


Christiane Paul und Ralf Möller


August Diehl


Regisseur Martin Scorsese


Rockstar Mick Jagger

Außerdem gesehen: Alfred Biolek, Jasmin Tabatabai, Mario Adorf, Hellmuth Karasek, Marius Müller Westernhagen, Jürgen Vogel und und und

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