Berlinale 2007
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Berlinale-Neuigkeiten
Berlinale 2007
Von Astrid Mathis

Zuerst war das Wasser

Halten wir fest: Nein, die Vöslauer-Lieferung kommt auf der diesjährigen Berlinale nicht zu spät. Sie kommt gar nicht. Und wer es vorher nicht zu schätzen wusste, vermisst es jetzt wahrscheinlich um so schmerzlicher. Anfangs unterschied Vöslauer zwischen Wasser mit und ohne Kohlensäure. Zuletzt wartete Vöslauer mit allerlei Geschmacksvarianten auf, die da hießen: Erdbeere-Pfeffer oder Kräuter-Melisse. Nun also nichts mehr. Nachdem man ohnehin nicht weiß, wann man eine Pause einschiebt, um nicht hungers zu verkommen, kann man sich jetzt außerdem um seinen Wasserhaushalt sorgen und muss literweise oder peu à peu Flüssiges mit sich herumschleppen. Da soll sich noch einer wundern, warum die Taschen immer schwerer werden. Komisch, dass dafür um so mehr österreichische Filmbeiträge zu finden sind... Vielleicht sollte Spreequell mal eine Initiative starten. Ich wäre dankbar.

Man stelle sich vor: Es gibt das Magazin "Screen", und es ist am Erscheinungstag morgens um 9 schon nirgendwoher aufzutreiben, was den Marktwert ungemein steigert. Mal davon abgesehen, dass im Magazin "Variety" nicht einmal halb so interessante Neuigkeiten stehen, ist es unpraktisch, da größer. Frage an die Frau an der Information: "Wo hat man denn eine Chance, `Screen´ zu bekommen?" Hehe, hehe lacht sie peinlich berührt. "Ist uns auch schon aufgefallen. Die sind jetzt immer gleich weg." Womit mir dann auch nicht geholfen ist.

Da braucht man Jahre, um die Partys ausfindig zu machen, für die ein einfacher Presseausweis reicht, um reinzukommen. Und nun das: Die Panorama-Party gibt es nicht mehr. Warum und wieso und ob es dafür etwas anderes Schönes gibt, erfährt man nicht. Wahrscheinlich brauche ich wieder bis zum Ende der Berlinale, um herauszufinden, wohin ich hätte gehen können. Tja, liebe Berlinale, das ist auch ein Weg, nie langweilig zu werden.
 

Zehnter Tag
17. Februar
Von Astrid Mathis

Abschlussfilm

Ein Engel in England

Angel

Warum erinnert Angel (Romola Garai) nur so sehr an Scarlett O´Hara? Ist es das rote Kleid, das sie trägt, als sie die Treppe hinunterschreitet?
 
Der Film von Francois Ozon spielt im England des beginnenden 20. Jahrhunderts und schildert das Leben der Bestsellerautorin Angel Deverell, die aus einfachen Verhältnissen stammt und mit Kitschromanen berühmt wird. Es ist wohl eher ihr temperamentvolles Wesen, ihre Art, mit Menschen umzugehen, die manchmal kalt und berechnend, mal naiv und unschuldig daherkommt, die an Scarlett erinnert. Romola Garai gibt Angel zugleich etwas Zartes und Leichtes, das sie trotz ihrer exzentrischen Art sympathisch macht. Angel weiß schon als junges Mädchen, sie wird es einmal zu etwas bringen. Ihre Mutter darf sie bei ihrer Arbeit nicht stören und nimmt Angels Unbeherrschtheit hin, denn Angel arbeitet an einem Buch. Es taugt nicht zu mehr, als in die Riege von Hedwig-Courths-Mahler-Heften gesteckt zu werden, aber ein Verleger begeistert sich für Angels Geschichte, obwohl er möchte, dass sie ein paar Dinge umschreibt. "Und wenn sie in meinem Roman ein Wort ändern, gehe ich wieder", sagt sie und bekommt ihren Willen. Wenngleich Angels Arroganz der Verlegersgattin (Charlotte Rampling) nicht in den Kram passt, zollt sie der jungen selbstbewussten Schriftstellerin eines Tages Respekt. Die schreibt aus ihrer Phantasie heraus, so, wie sie sich ihre Welt vorstellt, und so lebt sie auch. Angel erfüllt sich alle ihre Träume, kauft sich das ersehnte Anwesen "Paradise House", einen Haufen Kleider und leistet sich unzählige Bedienstete. Als ihre Mutter stirbt, wird überdeutlich, dass sie mit der Realität nichts anfangen kann. Der Kaufladen der Mutter wird bei der Beerdigung nicht erwähnt und statt dessen ihr Pianospiel hervorgehoben, das sie sich allerdings nur aneignete, weil sie mit Angel im Paradieshaus leben sollte. Den Schmerz über den Verlust der Mutter lässt Angel nicht lange zu. Sie lebt weiter ihren Traum und heiratet sogar den Mann, den sie liebt, einen mittellosen Maler, nachdem sie selbst den Antrag machte. Nur sie glaubt an sein Talent. Esmé (Michael Fassbender) beklagt ihre Realitätsflucht. Als er Paradise House im Ersten Weltkrieg verlässt, um seine Pflicht zu tun, nimmt Angel das persönlich. Ihr zur Seite steht Esmés Schwester, die, wie sie später feststellt, die Einzige ist, die sie liebt, denn Esmé nimmt sich das Leben. Seine Schwester soll nach Angels Tod ein Buch über sie schreiben - über das Leben, das sie lebte oder das sie träumte?
Nur einmal öffnet Angel die Tür zur Außenwelt und besucht die Ex-Geliebte von Esmé in London. Danach erkrankt sie, wie man von der Welt erkranken muss, wenn man zeitlebens im Paradies lebte.

Der französische Regisseur Francois Ozon stellte eine Cast englischer Schauspieler zusammen und entwarf eine verlockende Scheinwelt. Nur hätte er sich entscheiden sollen, ob es ein Film werden sollte, in dem man sich über die realitätsferne berühmte Frau amüsiert oder ob er ein echtes Melodram erzählt. Der Zwiespalt irritiert. Es wäre interessant, den Roman von Elizabeth Taylor aus dem Jahr 1957 zu lesen.

"Das Schreiben diktiert ihre Welt", erklärt Francois Ozon auf der anschließenden Pressekonferenz. Er wollte Angel nicht unsympathisch erscheinen lassen, obwohl sie sich bewusst entschied, ein oberflächliches Leben zu führen. Romola Garai sitzt da mit ihrer zarten Alabasterhaut, ihren großen blauen Augen und blonden Haaren, ganz ruhig und unexzentrisch und trotzdem wie ein Engel.


 

Am roten Teppich

"Ich weiß nicht, wie die Berlinale war. Für mich war sie schön", resümiert Hannelore Elsner am Abend der Verleihung.

Auch der Regisseur Wolfgang Petersen, der gerade begeistert von der Premiere der neu geschnittenen "Troya"-Version kommt, hat keine Ahnung: "Ich hab´ nur gehört, dass es toll war."

Bescheiden zeigt sich Nina Hoss: "Ob ich an einen Preis glaube? Um ehrlich zu sein: Nein. Da stehen zwei andere vor mir. Ich würde mir für den Film echt was wünschen."

Der Jury-Präsident Paul Schrader hat es am roten Teppich eilig. "Kurz und schmerzlos" soll die Entscheidung für den Goldenen Bären gefallen sein. "Im Handumdrehen war sie da", erzählt er. Dann ist er weg. Gael Garcia Bernal formuliert den Weg zur Entscheidung so: "Es war schwer, aber dann war es leicht. Verstehen Sie? Es war schwer, dahinzukommen, aber dann war es ganz leicht."

Kurz vor der Filmcrew des Abends erscheint Arthur Penn mit seiner Frau: oder sollte man besser sagen: Arthur Penn kommt hereingeschwebt?



"Ich freue mich, dass wir den Abschlussfilm präsentieren. Eine besondere Ehre", meint "Angel"-Regiseur Francois Ozon.

Eine Premiere, die auch den Schauspieler Sam Neill in Aufregung versetzt: "Ich habe den Film noch nicht gesehen und bin sehr nervös. Aber Berlin finde ich immer schön, nur ein bisschen kalt."

Sam Neill



Außerdem auf dem roten Teppich:



Schauspielerin Martina Gedeck aus dem Film "Der gute Hirte"



Schauspieler Jamie Bell aus dem Film "Hallam Foe"



Schauspielerin Fang Bingbing aus dem Film "Lost in Beijing"



Barbara Schöneberger


Neben mir steht ein kleines Mädchen in Rosa gekleidet, das die Frisuren und Roben der Schauspieler kommentiert. Ich frage sie, was sie werden will außer Schauspielerin. "Filmstar", antwortet die Kleine. Der Moderatorin der Preisverleihung Charlotte Roche empfiehlt sie einen anderen Friseur. Sie wird es weit bringen. Bei Angel hat das nötige Selbstbewusstsein schließlich alle Türen geöffnet.
 

Der Überraschungseffekt

Rote Rosen für "Yella", aber der Goldene Bär für "Tuyas Ehe"

Regisseur Wang Quan´an und Hauptdarstellerin Yu Nan strahlten auf dem roten Teppich schon so wie die Gewinner des Goldenen Bären, die sie später wurden.

Das Lächeln und den Charme von Arthur Penn wird Dieter Kosslick so schnell nicht vergessen, verspricht der Festivalchef. Diese Preisverleihung werden auch alle in Erinnerung behalten, denn die Jury war nicht nur für eine Überraschung gut, sondern gleich für mehrere. Als man sich genüsslich im Kinosessel zurücklehnte, riss der Name Julio Chavez alle von ihren Sitzen hoch. Der Silberne Bär für den besten Hauptdarsteller aus dem Film "El Otro". Aufgeregtes Gemurmel erfüllte den Saal. Gab es keinen anderen männlichen Hauptdarsteller, der das verdient hatte? Wenn schon kein Deutscher, dann wäre doch wenigstens Matt Damon möglich gewesen, oder dürfen die amerikanischen Stars lediglich den roten Teppich zieren und müssen dafür brav ohne Ehrung heimwärts fliegen? Wie auch immer, wenn das der einzige Preis für "El Otro" sein sollte, war es ja in Ordnung. Dennoch: Der Preis für den innovativsten Film im Vorjahr ging an "El Custodio", ebenfalls mit Julio Chavez. Vielleicht gibt es eine Abmachung, von der niemand etwas weiß. Und zwar mit Argentinien.
 
Beste Regie: "Beaufort". Nun gut, die Berlinale ist ein Festival mit politischen Filmen, das muss sich in den Auszeichnungen niederschlagen, wenn es zu Recht ist. Aber dann: Silberner Bär als Großer Preis der Jury für "El Otro", "um eine bestimmte Art, Filme zu machen, auszuzeichnen". Ein einziger großer Ton des Schreckens klang durch den Raum, in dem Journalisten Platz genommen hatten, die jetzt nur einen Gedanken verfolgten: "Goldener Bär für "Irina Palm", lieber Gott, mach es wahr." Fast wollte man sich Richtung Ausgang bewegen, weil sowieso alles klar schien. Aber nein! Bester Film: "Tuyas Ehe". Keine Frage, ein schöner Film, doch "Irina Palm" gar nichts zu geben, ließ manchen Journalisten daran zweifeln, je wieder einen Film über Gebühr loben zu wollen. Denn beinahe wirkte die Jury-Entscheidung wie ein Nasedrehen. Was heißt "beinahe"?

Selbst die Fotografen, die von Berufs wegen nicht zum Filmegucken kommen, schüttelten fassungslos die Köpfe, als ihnen die Listen der Ausgezeichneten vor der Pressekonferenz ausgehändigt wurden. Da half nur eines, nämlich sich mit denen zu freuen, denen man es gönnte. Der erste große Applaus ging an "Hallam Foe" für die beste Filmmusik. Franz Ferdinand, Jamie Bell und David Mackenzie betraten den Raum und ernteten Beifall, als hätten sie den Großen Preis der Jury bekommen. Es sollte niemanden wundern, dass hier vor allem interessierte, wann die CD erscheint. Von 34 auf 17 Titel soll gekürzt werden. Der Song "Hallam Foe" inspirierte das Filmteam, erfuhren die Journalisten noch, da wartete bereits Martina Gedeck darauf, sich mit ihrem Preis zu präsentieren. Räusper, dem Preis der Cast des Films "Der gute Hirte" natürlich. "Martina, komm mal rüber! Küss den Bär! Küss den Bär!" brüllten die Fotografen. Und Martina küsste den Bär trotzdem nicht, sondern formulierte klug: "Ist das nicht die viel größere Auszeichnung, ein Preis für die Cast statt für einen Einzelnen?" Angeblich hatte sie schon alle aus ihrem Ensemble angerufen, und sicher werde sich Robert de Niro freuen. Dass die Kritiken so gut waren, musste seine Qualitäten als Regisseur gezeigt haben, ergänzte sie und schloss fröhlich ihren Auftritt mit der Ankündigung ab, den Bären am nächsten Tag an Robert de Niro zu schicken. "Aber heute Nacht gehört er mir. Ich werde ihn nicht aus den Augen lassen."
 
Als Nina Hoss mit ihrem Preis und roten Rosen auftauchte, liefen die Fotografen noch einmal zu Hochform auf. "Guck mal zu dem kleinen hübschen Jungen hier", rief einer, der die 50 schon weit überschritten hatte. Nina Hoss sah tatsächlich rüber, allerdings zu dem jüngeren Fotografen neben ihm. "Christian hat bestimmt gewusst, dass ich gewinne", begann die Schauspielerin. Besonders freute sie sich, dass sie den Preis bekam und nur mit kleinen Mitteln gearbeitet hatte. Die Anerkennung schob sie der Tatsache zu, dass mehrere Schauspieler in der Jury saßen. Warum die deutschen Schauspielerinnen immer mit Preisen nach Hause gehen, konnte sie nicht sagen. "Ich war mir so sicher, dass ich einen wunderschönen Abend haben werde, einen ruhigen Abend. Und jetzt das." Tja. Man kann eben nicht alles haben. Es hätte schlimmer kommen können für Nina Hoss. Keine Rosen, kein Preis, aber eine ruhige Nacht.

Später höre ich Knut Elstermann sagen: "Bitte, Berlinale, geh nie zu Ende." Gerade hat er den letzten Preisträger aus dem Radio-Eins-Studio verabschiedet. Er hat viel gemeckert in den letzten Tagen, und vielleicht wünscht er sich wie ich noch ein paar gute Filme.
 
Nun habe ich sogar den Gewinnerfilm gesehen. Mehr noch: Ich habe aus Angst, wieder den Film, der den Goldenen Bären mit nach Hause nimmt, zu verpassen, jeden noch so schlechten Wettbewerbsfilm erduldet. Nach so viel Lob im Vorjahr war ein derartiger Abstieg des Niveaus nicht zu erwarten gewesen. Schade.

Neunter Tag
16. Februar
Von Astrid Mathis
Wettbewerb

Wie man mit Geld einen Teppich auslegt
Ich habe den englischen König bedient

Ein typischer 9-Uhr-Film ist das nicht. Das muss man dem tschechischen Regisseur Jiri Menzel schon zugestehen, aber irgendwie komisch ist er trotzdem. Und jetzt ausnahmsweise im eigentlichen Sinne. Ein 9-Uhr-Film, über den man lachen kann, der vor allem dem ostdeutschen Publikum vorkommen muss wie ein Abstecher in die Vergangenheit, von dem man nicht weiß, ob man ihn nun gut finden soll oder nicht. Egal. Die Verfilmung des Schelmenromans von Bohumil Hrabal soll auch zum Lachen sein. Der Prager Kellner Jan Dite (Ivan Barnev) lebt den Traum vom Kellner zum Hotelbesitzer über einen Zeitraum von 20 Jahren, Zweiter Weltkrieg inbegriffen. Er ist immer einen Tick schneller als seine Widersacher. Charmant übertrumpft er sie und dreht ihnen am Ende eine Nase. Als er sich schließlich in die Nationalsozialistin Lisa (Julia Jentsch) verliebt, hat er jedoch einen unüberwindbaren Konkurrenten. Selbst beim Sex will die Blondine mit den dicken Zöpfen das Gemälde des Führers im Auge behalten.
 
1970 entstand die Novelle, zuerst wurde sie verboten, zuletzt schlug man sich um die Filmrechte. Genau vor 17 Jahren gewann Jiri Menzel mit "Lerchen am Faden" den Goldenen Bären. Seitdem landete kein tschechischer Film mehr im Wettbewerb. Auch wenn die Chancen für einen Bären gering sind, die Journalisten zeigten sich dankbar, einmal morgens nicht eingeschläfert worden zu sein, und applaudierten lautstark.


Alles im Blick
Hallam Foe

Seit seine Mutter vor zwei Jahren starb, hat Hallam (Jamie Bell) keine Ruhe mehr. Immer wieder quält ihn die Frage, wie sie ums Leben kam. Ob seine Stiefmutter etwas damit zu tun hatte? Der 17-Jährige glaubt fest daran und spioniert ihr mit dem Fernglas nach. Er hat es zu seiner Lieblingsbeschäftigung gemacht, sich mit dem Lippenstift seiner Mutter eine Art Kriegsbemalung aufzutragen und mit einem Dachsfell auf dem Kopf umherzuziehen, Pärchen beim Sex zu beobachten. In seinem Baumhaus, das ihm Versteck und einzige Zuflucht geworden ist, ziert ein riesiges Poster seiner Mutter die Wand. Als er den Verführungskünsten seiner verhassten Stiefmutter eines Tages nachgibt, flieht er nach Edinburgh. Auch hier ist sein Fernglas wichtigstes Utensil für ihn. Er fängt in einem Hotel als Tellerwäscher an und verliebt sich in die Personal-Chefin Kate (Sophie Myles), die seiner Mutter zum Verwechseln ähnlich sieht. Es kommt, wie es kommen muss. Bevor sie ihre Beziehung vertiefen können, fliegt Hallams Leidenschaft auf.
 
Die Geschichte könnte vorhersehbar oder langweilig sein, wenn sie nicht David Mackenzie verfilmt hätte. Der Regisseur geht mit der Sensibilität heran, die das Thema braucht, um glaubhaft über die Leinwand zu flimmern. Voyeurismus und Selbstfindung - Hallam Foe ist ihnen ausgeliefert, bewegt sich zwischen Wahnsinn und Trauer, ist liebenswert und skurril, erotisch und kindlich, einer, der Durchblick haben will und sich selbst aus den Augen verliert. Jamie Bell (bekannt aus "Billy Elliot") gibt dem heranwachsenden jungen Mann etwas ungemein Sympathisches. Sein Spannen ist ein Spleen, den man beinahe belächelt, bis er außer Kontrolle gerät. Britischer Humor und Tragik der Situation liegen eng beieinander und werden noch durch die Filmmusik verstärkt, die vor allem durch Franz Ferdinand getragen wird und einen wunderbaren Kontrast zu den eintönigen Melodien anderer Wettbewerbsfilme bildet.

"Er ist schon verrückt", meint Jamie Bell auf der Pressekonferenz über Hallam Foe. Die Rolle verlangte ihm körperlich einiges ab, da Hallam auf Dächer und Bäume klettert wie ein wendiges Tier, erzählt der 20-Jährige. Als gefragt wird, wer ein Fernglas besitzt, hebt Jamie Bell die Hand. Als Einziger. "Oh, mein Gott, ich kann nicht glauben, dass ich mich gemeldet habe." Aber er musste sich ja eins besorgen! Wie sollte er sonst seinen Filmcharakter verstehen? Jetzt muss er selber lachen. Und David Mackenzie ergänzt: "Wir versteigern gerade Jamies Tagebücher bei E-Bay." Jeder sei voyeuristisch veranlagt, behauptet der Hauptdarsteller. Man denke an "Big Brother". Das guckt jeder und gilt als normal. Er sei wirklich nicht verrückt. Dann kommt er auf den schottischen Akzent zu sprechen, der ihm gar nicht so leicht fiel. Seiner Filmpartnerin Sophie Myles ebenso wenig.
 
Es ist eine der unterhaltsamsten Pressekonferenzen der Berlinale. Die Hauptdarsteller sind so gut drauf, dass sie sich die Zeit nehmen, auf den eben gezeichneten Porträts eines japanischen Journalisten Autogramme zu geben.

Tamerlans Kreide
Wächter des Tages

Schon der erste Teil des sowjetischen Fantasy-Streifens "Wächter der Nacht" war rasend schnell. Jetzt sollte das Tempo noch erhöht werden. Bastian Pastewka, Oliver Kalkofe und Robert Stadlober haben es sich im Zoopalast zur Deutschlandpremiere gemütlich gemacht und sich vielleicht auch schon einen Wodka eingeschenkt, bevor es losgeht.
 
Moskau. Antons Sohn Yegor hat sich auf die dunkle Seite ziehen lassen. Anton wird verdächtigt, eine Vampirin getötet zu haben, womit der Waffenstillstand zwischen den Wächtern des Tages und der Nacht beendet sein würde. Krieg. Es kann nur Tamerlans Kreide helfen: Wenn man mit ihr schreibt, was man sich sehnlichst wünscht und selbst auch das Unglück verursacht hat, das man ungeschehen machen möchte, kann durch den Schriftzug alles, was die Schuld zur Folge hatte, gelöscht werden. Anton begibt sich auf die Suche.
 
Nur bei mehrmaligem genauen Hinschauen kann man die Details erfassen, die der Regisseur eingebaut hat, um der Geschichte seinen besonderen Stempel aufzudrücken. Es darf gelacht werden. Wenn Anton seine Kollegin unter der Dusche küsst, plötzlich Wasserfall und Blumenwiese die Bildfläche füllen und Anton irritiert den Duschkopf wegwirft, hat das weniger mit Kitsch zu tun, als vielmehr mit dem Humor des Regisseurs Timur Bekmambetov. Wer den ersten Teil nicht kennt, hat Mühe, das Tempo mitzuhalten. Bei der Premierenfeier nebenan spielt Tempo allerdings keine Rolle mehr. Es wird bis zum frühen Morgen gefeiert.
 

Achter Tag
15. Februar
Von Astrid Mathis
Wettbewerb

Ganz schön amerikanisch
Bordertown

So etwas hat man auf der Berlinale lange nicht gesehen. Mongolische Steppen ist man gewohnt und Reisen in die Vergangenheit. "Amerikanische Scheiße" wird jetzt im Saal gemurmelt. Nach so viel europäischem Drama, auch den zahlreichen langweiligen 9-Uhr-Filmen, wirkt "Bordertown" wie ein Film, der ein Actiondrama sein will und in amerikanischen Kitsch abrutscht. Immerhin spielt Jennifer Lopez mit, oder besser gesagt: Sie kommt drin vor. Ein Schauspiel ist das wahrlich nicht. Endlich haben die Kritiker etwas zu lachen, obwohl es nichts zu lachen gibt, weil das Ganze viel zu peinlich und die Botschaft zu ernst ist. Denn "Bordertown" handelt von der amerikanischen Journalistin Lauren (J Lo), die sich an der Grenze zwischen Mexiko und den USA gegen Gewalt gegenüber Frauen einsetzt. Mysteriöse Morde von Arbeiterinnen geben ihr Rätsel auf. Unter Lebensgefahr recherchiert sie die Hintergründe der Vergewaltigung der 16-jährigen Eva, die dem Tod gerade so entkommen konnte. Unterstützung findet Lauren bei ihrem früheren Geliebten Diaz (Antonio Banderas). Wie sie arbeitet er für eine Zeitung und begibt sich auf die Suche nach den Frauenmördern. Als Lauren ihre Story hat und der Busfahrer gefasst ist, der Eva entführte, soll der Artikel nicht gedruckt werden. Laurens Chef in Chicago gibt dem politischen Druck nach. Diaz wird ermordet, und Lauren übernimmt seine Zeitung in Ciudad Juarez. Ende der Geschichte. Die Flashbacks in Laurens Kindheit haben sie nicht besser gemacht. Mal abgesehen von etlichen Ungereimtheiten.
 
Szenenapplaus gab es, zwar keine gute Unterhaltung, aber Unterhaltung. Wenn Jennifer Lopez aus einem Meer von Flammen und Aschefetzen auftaucht, als wäre sie eben frisch geschminkt worden, kann man sich vor Lachen einfach nicht halten. Auf der Pressekonferenz darf sie natürlich so schön aussehen, wie sie ist. Die weiblichen Journalistinnen konzentrieren sich deshalb auch auf das Make-up. "Das wurde bestimmt mit der Airbrush-Technik aufgetragen", munkeln die Frauen neidisch. Im Film sollte J Lo Zugpferd sein, glaubwürdig war sie nicht. Ohne die amerikanische Glasur hätte "Bordertown" ein richtig guter Film werden können.

Doch der Ernst der Sache lässt die Journalisten im Pressekonferenzraum schweigen. Kein Buh, keine Pfiffe. Jeder weiß ja, wie schlecht der Film ist, aber der Sache gegenüber will man Respekt zeigen. Am Abend zuvor wurde die Schauspielerin schließlich von Amnesty International für ihren Kampf gegen Gewalt gegen Frauen geehrt. Trotzdem die erste Frage recht provokant: "Sie machen sicher mit dem Film viel Geld. Werden Sie es spenden?" Jennifer Lopez erzählt, wie sie vor zehn Jahren das erste Mal auf die Situation an der Grenze aufmerksam wurde. Zehn Jahre dauerte es und ihren Namen brauchte es, um das Projekt überhaupt zustande zu bringen. Die Produzenten hoffen, dass sie keine Verluste machen. Dass "Bordertown" in den USA bis dato keinen Verleih hat, ist nicht allein der Qualität des Films geschuldet. Niemand will sich damit auseinander setzen, dass in Ciudad Juarez seit knapp 15 Jahren Frauen, vorwiegend Arbeiterinnen, vergewaltigt, ermordet und verscharrt werden. Als Norma Andrade anfängt zu sprechen, wird die Pressekonferenz endgültig zu einem Tribunal gegen das Unrecht in der Welt. Das Bild, das sie krampfhaft festhält, zeigt ihre Tochter. Eine Journalistin bittet die Mexikanerin, von sich zu erzählen. Es werden zehn lange Minuten, in denen jeder im Raum stumm lauscht, ob mit oder ohne Kopfhörer. Ihre Tochter verschwand, wurde erwürgt. 17 Jahre war sie alt, 2001 kam sie von der Spätschicht nicht nach Hause. Norma Andrade laufen die Tränen heiß die Wangen herunter. Die Produzentin Barbara Martinez Jitner wischt sich die nassen Augen. Während der Dreharbeiten wurden Filmaufnahmen und Kameras aus dem Hotel gestohlen, erinnert sie sich. Man wollte keinen Film über Ciudad Juarez. Danach werden keine Fragen mehr gestellt. Antonio Banderas kam nicht zu Wort.
 
Die Tränen und ernsten Worte helfen nicht darüber hinweg, dass Regisseur Gregory Nava einen zweitklassigen Film gedreht hat und Dieter Kosslick, der nach dem starken "Road to Guantanamo" auf der Berlinale 2006 gleich zwei Schritte zurückgeht, diesen Film in den Wettbewerb schickte.


Magnum in Motion
Bilder wie Gedichte

In Love and War
"He liked people, that´s whay, they liked him"

Ich habe keine Ahnung, wer Robert Capa ist, als ich mit zwei Fotografen meine Kaffeepause beginne, aber ich weiß es hinterher. Beide sind neidisch, weil ich Karten für die Dokumentation über ihn habe, während sie am roten Teppich das Airbrush verwöhnte Gesicht von Jennifer Lopez fotografieren müssen. Ja, sie schwärmen sogar davon, was Robert Capa für ein schöner Mann war. Keine Sekunde wäre mir eingefallen, im Laufe des Films von Anne Makepeace die Augen zu schließen. Die Bilder sind einmalig, es sind seine Bilder, entweder von ihm oder mit ihm. Manchmal werden Zeitgenossen interviewt - das reicht. Dieser Mann braucht keinen Schnickschnack. 1947 gründete er mit Henri Cartier-Besson, George Rodger und David Seymour Magnum Photos, um ihre Kunst- und Reportagefotografie unabhängig produzieren und ohne Verluste von Urheberrechten vertreiben zu können. Anlässlich des 60. Geburtstages von Magnum Photos würdigt die Berlinale die Fotografen, von denen etliche auch Filmemacher waren, mit einer besonderen Reihe.
 
1913 wurde Robert Capa als Andre Erno Friedmann in Budapest geboren. Zwischen 1931 und 1933 studierte er in Berlin Politikwissenschaften. 1933 fotografierte er Trotzky. Kurz darauf emigrierte er auf Grund seiner jüdischen Herkunft nach Paris, wo er die Fotografin Gerta Taro kennen lernte. Die Zwei wurden ein Paar und erfanden "Robert Capa", dessen Bilder sie verkaufen sollten. Als der Schwindel aufflog, blieb Friedmann der Name, der ihn weltberühmt machte.1936 ging Capa nach Spanien, um dort den Bürgerkrieg zu dokumentieren. Dass seine Lebensgefährtin 1937 bei der Verteidigung von Brunete ums Leben kam, erfuhr er aus der Zeitung. "Das hat ihn verändert", sagen nahestehende Freunde. 25 Jahre war er alt, als man ihn zum größten Kriegsfotografen der Welt erklärte. 1939 siedelte er in die USA über, um wenig später zu sagen: "Hollywood ist die größte Scheiße, in die ich je getreten bin." Zumindest wird ihm hier eine Affäre mit Ingrid Bergman nachgesagt, ansonsten machen seine wenigen Techtelmechtel kaum Schlagzeilen.1954 widmete er sich erneut der Kriegsberichterstattung - in Indochina. Das letzte Foto von Robert Capa zeigt ihn inmitten seiner Begleiter, bevor ihn eine Landmine zerfetzte.
 
70000 Negative sind von ihm geblieben, Magnum Photos, ein Mythos und ein Zitat:

"Wenn deine Bilder nicht gut genug sind, warst du nicht genug dran."
 

Siebenter Tag
14. Februar
Von Astrid Mathis

Mystische Frauen und große Helden

Panorama

Away from her

Sarah Polley muss Julie Christie sehr lieben. Der neue Film der gerade einmal 28-Jährigen über die Alzheimer-Krankheit ist mit einer Schauspielerin besetzt, die das Vergessen mit einer ungreifbaren Grazie spielt und sie dadurch schöner und tragischer denn je erscheinen lässt.
 
Fiona (Julie Christie) und Grant (Gordon Pinsent) führen ein Leben, von dem alle Paare am Hochzeitstag träumen. Sie laufen gemeinsam Ski, genießen Spaziergänge, lesen einander aus Büchern vor und kuscheln sich nachts an den anderen, als wären gerade die Flitterwochen vorbei. Doch das Glück der 44 Ehejahre ist vorbei. Wenn Fiona durch die verschneite Landschaft Kanadas Ski fährt, ist ihr Blick nicht mehr in der Gegenwart. Und eines Tages findet sie nicht zurück. Sie legt die Bratpfanne in den Eisschrank und sagt komische Sachen. Grant stört es nicht, aber Fiona weist sich eines Tages selbst in ein Altenheim ein, obwohl der Gedanke für Grant unerträglich ist. Es kommt schlimmer als erwartet. Fiona entwickelt Gefühle für Aubrey, einen Mann im Rollstuhl im Altenheim, und sieht in Grant nur jemanden, den sie wohl einmal kannte. Mühsam findet Grant sich mit der Situation ab. Immer wieder versucht er, seine Frau in die Wirklichkeit zurückzuholen. Ausgerechnet als er sich jemand Neuem zuwendet - nicht, weil er Fiona nicht mehr liebt, sondern, weil er sie nicht mehr erreicht - macht sie ihm eine Liebeserklärung, umarmt hingebungsvoll diesen Mann, der ihr durch seine Besuche ans Herz gewachsen ist.
 
Julie Christie verkörpert Fiona, die ihrem zerbrechlichen Geist ausgeliefert ist, so sensibel und unsentimental heiter, dass man nach dem Taschentuch greift, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt.


Wettbewerb

Yella

Christian Petzold hat eine Schwäche für Wittenberge. 2001 zog es den Regisseur zu den Dreharbeiten von "Toter Mann" erstmals in das kleine Städtchen an der Elbe. Ein Bahnhof, eine Siedlung - viel mehr ist es nicht. Hier lebt Yella mit ihrem Vater. Die Elbauenlandschaft verspricht zwar eine traumhafte Idylle, aber Arbeit gibt es in dem Ort nicht. Zeit für Yella, alles zu verlassen. Hier kann sie nicht mehr glücklich werden. Die Firma ihres Mannes ist kaputt gegangen und die Liebe gleich mit. Sie eilt die Straße entlang, erträgt es nicht einmal, dass Ben auf derselben Seite gehen will wie sie. "Du hast einen Job", sagt er, "ich sehe das". Yella zieht ihre Schultern hoch und geht jetzt noch schneller. Zu Hause auf dem Hof fällt sie ihrem Vater in die Arme. Sie hat tatsächlich einen Job, allerdings in Hannover, zwei Stunden entfernt. Statt des Taxis wartet am nächsten Morgen Ben vor der Tür, und derweil man sich noch fragt, warum sie um alles in der Welt in seinen Wagen steigt, ist es schon passiert: Ben bringt ein "Ich liebe dich" hervor, dann lenkt er das Auto gegen die Elbbrücke. Der Wagen geht unter, doch beide können sich ans Ufer retten. Sogar Annas Reisetasche wird angeschwemmt, und so geht sie mit ihrer Tasche und nassen Kleidern am Leib Richtung Bahnhof. Die Reise beginnt. Diesen Anfang sollte man sich merken, bei Petzold hat jede Absurdität seine tiefere Bedeutung. Ironie des Schicksals für Yella, dass sich der vermeintliche Job im Westen auf dem Expo-Gelände als Fehlanzeige herausstellt, aber Yella hat Glück. In einem Hotel am Rande der Stadt begegnet sie Philipp, der für eine Private Equity Firma unterwegs ist, und begleitet ihn zu seinen Geschäftsterminen. Yella bewährt sich als Buchhalterin und findet Gefallen an den Spielregeln des Kapitalismus. Ben verfolgt sie, jedoch der neue Traum, mit Philipp nach Irland zu gehen, ist größer als die Angst vor der Vergangenheit. Selbstbewusst versucht sie, nun für ihr neues Glück an der Seite von Philipp zu kämpfen und geht zu weit. Nicht ohne Grund greift sie sich von Zeit zu Zeit an den Kopf und blickt geistesabwesend, ja verstört in die Ferne. Das Rauschen der Weiden hält die Zeit an. Oder ist es etwa das Glucksen des sinkenden Fahrzeugs? Ein mystischer Film ist es, ein echter Petzold. Und Nina Hoss lehrt jeden das Gruseln.


Nina Hoss und Christian Petzold

Als Christian Petzold den Film plante, stand schnell für ihn Wittenberge als Drehort fest. Die Stadt im Osten, im südlichsten Brandenburg gelegen, hat Charme und spiegelt zugleich Hoffnungslosigkeit wider. Über 50 Prozent Arbeitslosigkeit hinterlassen ihre Spuren. Natürlich hätte der Film auch in einer anderen Gegend mit hoher Arbeitslosigkeit spielen können, im Ruhrgebiet zum Beispiel, gibt Petzold zu. Gespenstische Buntheit wollte er in seinem Film, grüne Elbauen hier, die rote Bluse von Yella da. Die Mondscheinsonate sollte Yella verändern, aber die Melodie über Lautsprecher einzuspielen, war schwerer als gedacht. Irgendwann gelang es. Ansonsten hält sich Petzold nicht mit Musik auf. Damit werde ohnehin zu viel Schindluder getrieben. Ob die rote Coladose im Fluss ein politisches Statement sei? Nein, die hatte einer vergessen. Während sich der Kameramann nachträglich über die Nachlässigkeit ärgerte, fand der Regisseur die Dose passend. Gespenstisch bunt.
 
"Sind Männer so aggressiv und unbeherrscht?" will ein Journalist wissen. "Sind wir das?" erwidert Devid Striesow (Philipp) und sieht zu seinem Kollegen Hinnerk Schönemann (Ben). "Ich fand dich schon manchmal sehr unbeherrscht", schiebt er nach und lacht herzlich. Der Schauspieler, der schon in "Die Fälscher" angenehm auffiel, stammt aus Mecklenburg-Vorpommern. Ein Ossi, der einen Wessi spielt und umgekehrt - geht das? Für Petzold funktionierte es. Zwischen ihnen stimmte einfach die Energie. Auch er lernte die Herangehensweise des Regisseurs zu schätzen, von der Nina Hoss seit drei gemeinsamen Filmen schwärmt: "Man hat den Eindruck, man verbringt eine Zeit miteinander, und am Ende kommt ein Film raus." Für die Schauspielerin ist ganz offensichtlich, dass Yella nicht weg will, weil sie Ben nicht mehr liebt, sondern, weil sie so nicht weiterleben kann. Als sie das zweite Mal mit Ben auf die Brücke zurast, greift sie nicht ein - schicksalsergeben und mit Würde. So sieht Nina Hoss ihre Rolle. Und Petzold ergänzt: "Man kann nicht denken, ohne über das Schicksal nachzudenken." Da sprechen in der Tat Zwei dieselbe Sprache. Die letzte Zusammenarbeit zwischen Hoss und Petzold war das bestimmt noch nicht.


Hinnerk Schönemann und Devid Striesow

Einen Tag später verrät Nina Hoss im Radio Eins Studio: "Bilanzen - davon verstehe ich nichts. Dass so hinzukriegen, dass man weiß, was man gesagt hat, war schwer." Als Barbara Auer im Film auftaucht und Yella zischend mit "Geh weg" abweist, ist eindeutig: Sie ist die falsche Frau am falschen Platz. Gottseidank macht Nina Hoss nicht in Finanzen, sondern in Schauspiel.


Nina Hoss und Christian Petzold zu Gast bei Knut Elstermann.
Gastkritiker war Andreas Dresen (links im Bild).


Außer Konkurrenz

300

Man möchte meinen, der Film sei so unwirklich, dass er schon fast wieder gut ist. Wie aus einer fernen Zeit. Der Regisseur Zack Snyder erzählt die Geschichte von 300 Spartanern im Kampf gegen ein übergroßes Heer der Perser, die sich um 480 vor Christus zugetragen haben soll, besagt die Legende. Gerard Butler alias Leonidas metzelt als König über Sparta einen Haufen Perser nieder und denkt nicht daran, alles zu retten, indem er vor Xerxes (Rodrigo Santoro, den man schon nicht mehr als metrosexuell durchgehen lassen kann) auf die Knie geht. So richtig wirklich ist die Schlacht von Thermopylae sowieso nicht. Nach der Comic-Vorlage von Frank Miller war ohnehin mit dem ständigen Wechsel von Frosch- und Vogelperspektiven zu rechnen. Das Celluloid scheint in Goldstaub gefallen zu sein. Ein bisschen hat der Regisseur wohl auch bei den Filmen "Gladiator" und "Herr der Ringe" abgeguckt, aber wer die nicht kennt, kann sich über den Film freuen. Mal kein Problemfilm, sondern einer mit der klaren Struktur eines Comics.
 
Wer damit nichts anzufangen wusste, konnte ja wegsehen oder gehen. Merkwürdigerweise verließen die Wenigsten den Kinosaal, als die Köpfe rollten. Zum Aufstehen zu gut, zum Buhen gerade recht.
 
Dass weder bei der Pressekonferenz noch am roten Teppich Presse vertreten war, lag kaum am Film. Genug Diskussionsstoff hatte er offensichtlich geboten. Nur hatte Jennifer Lopez´ Ankunft in Berlin alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Die Hobbyfotografen freuten sich. So standen sie endlich mal in der ersten Reihe.


Perspektive Deutsches Kino

Aschermittwoch (25 Minuten)

Wie irre ist das denn? Karneval: Eine Polizistin erschießt aus Notwehr auf der Damentoilette einer Tankstelle einen Typen, der ein Mädchen vergewaltigen will und rennt weg. Ein Arzt gerät mit dem Freund seiner Zwillingsschwester in Streit, weil der Schuld an ihrer Drogensucht ist. Ein Handgemenge, dann liegt der Drogendealer leblos am Boden, der Täter flieht. Es kann gar nicht anders sein, als dass sich die Beiden begegnen. Ein kleines Wunder, wie glaubwürdig sie miteinander die Nacht verbringen und sich danach der Wahrheit stellen.

Zirkus is nich (43 Minuten)

Dominik ist stark. Für sein Alter übernimmt er verdammt viel Verantwortung. Zwei Geschwister hat er, auf die er aufpasst, wenn seine Mutter keine Zeit hat. Dominik ist acht Jahre alt und hat schon seine Methoden, die jüngere Schwester zu dirigieren. Am Nachmittag gehen sie oft ins Freizeitzentrum "Die Arche" am Rande Berlins, oder sie spielen Karten. Seine Mutter will, dass aus den Kindern noch etwas wird, dass sie nicht so enden wie sie. Dabei ist die Frau gerade mal um die 30, allerdings arbeitslos und alleinstehende Mutter. Sie übt mit Dominik für die Schule, aber Zirkus is nich. Sie kann nicht mit, weil sie auf die Jüngsten aufpasst; er will nicht alleine gehen. In diesem Moment wird Dominik wieder zum Kind, das zum Zirkus will, und weint herzzerreißend. Am meisten wünscht er sich, dass sein Papa zurückkommt. Was für eine tolle Dokumentation.

Sechster Tag
13. Februar
Von Astrid Mathis

Wettbewerb

Zwei Filme, ein großer Schritt
El Otro - Der Andere

Nicht schon wieder! Julio Chavez spielte im vergangenen Jahr die Hauptrolle in dem Film "Der Schatten". Ein Leibwächter macht seine Arbeit und jagt seinem Schützling am Ende selbst eine Kugel durch den Kopf, und das, nachdem man sich anderthalb Stunden gelangweilt hat. Auf der diesjährigen Berlinale ist Chavez in der Hauptrolle des spanischen Wettbewerbbeitrags "Der Andere" zu sehen. Die Geschichte lässt sich ebenso kurz zusammenfassen. Ein Mann in der Midlifecrisis (Juan) fühlt sich der Schwangerschaft seiner Frau nicht gewachsen und flieht aus der Stadt. Er quartiert sich in ein Hotel ein, probiert verschiedene Identitäten aus, schläft mit einer anderen Frau und kehrt zu seiner zurück, bereit für die bevorstehende Vaterschaft. Ja, der Film hat seine wunderbaren Momente. Gleich am Anfang zum Beispiel unterzieht sich Juan einem Augentest und muss seine Daten angeben. Brav beantwortet er die Fragen, er stockt, bevor er "verheiratet" sagt. Als er bei "Adresse" vielbedeutend in das Gesicht der Ärztin sieht, wird klar, die Beiden sind ein Paar. Gut erzählt ist außerdem der Augenblick, als Juan die Identität des ersten Anderen annimmt. Er sitzt im Bus, sieht aus dem Fenster in die traumhafte Landschaft, und neben ihm stirbt ein Mann. Eingeschlafen, tot. Juan merkt es, als er den Zug verlassen will und der Mann nicht reagiert. Im Hotel gibt er sich als der Andere aus, der Arzt war, und gerät in die Zwickmühle, als er einer alten Frau helfen soll. Mund-zu-Mund-Beatmung ist das Einzige, was ihm einfällt. Wenngleich man den üblen Geruch der Alten fast riechen kann, verfehlt die Rettungsaktion nicht ihre Wirkung. Rührend auch, wie er seinen bettlägerigen Vater pflegt, aber sonst?
 
Es ist das Verdienst von mehreren Nickerchen und Knut Elstermann, dass ich diese merkwürdig leise Erzählweise aushalte und nicht gehe, denn der sitzt am Rand, und ich will ihn nicht stören. Ich kann nicht sehen, ob er die Augen geschlossen hat. Als der Film vorbei ist, steht er auf und sagt zu seiner Kollegin: "Ich freue mich auf Marianne Faithfull". Wer das auch sei, ich freue mich auch.

Irina Palm

Sie ist zum Verlieben - Marianne Faithfull als Irina Palm. Doch bevor sie "Irina Palm" wird, ist sie Maggie, eine ältliche Frau, die alles tun würde, um das Geld für die lebensrettende Operation ihres Enkels Ollie aufzutreiben. In ihrem Alter gibt es nun mal keine Arbeit. So stellt sie sich ahnungslos für einen Job bei Miki vor, der einen Sexclub in Soho betreibt. Sie hat in dem Laden nichts zu suchen, aber ihre Hände ... die gefallen Miki. Also bietet er ihr an: "Handflächen mit Gleitmittel einschmieren, erst langsam, dann immer schneller reiben - fertig. Wenn sie nach fünf, sechs Minuten nicht kommen, komme ich. 600 Pfund die Woche." Natürlich ist es das Letzte, was sie machen wollte: Geld verdienen, indem sie Männern reihenweise einen runterholt. Trotzdem sagt sie zu - dem Geld zuliebe - und wird "die beste rechte Hand von London". Ihr Künstlername wird Irina Palm. Sie ist die "wichsende Witwe", die 6000 Pfund rücken in greifbare Nähe. Maggie macht ihren Job ordentlich, für sie ist es auch nur ein Job. Sie zieht sich ihre Kittelschürze an, stellt ihre Thermoskanne auf den Tisch und hängt zu guter Letzt noch ein Bild einer kitschigen Landschaft auf. Ihr Arbeitsplatz ist eingerichtet, und die Kunden sehen ja nicht, wer sich hinter der Wand verbirgt, weil ein Loch für Anonymität sorgt. Es ist ein Vergnügen, zuzusehen, wie sich Maggie in eine selbstbewusste, willensstarke Frau verwandelt, die ihren tratschenden Pseudo-Freundinnen ins Gesicht sagt, dass sie "die wichsende Witwe" sei, dass sie darin die Beste ist. Nein, den Arm hat sie sich nicht gebrochen. "Penisarm" lautet die Diagnose, deshalb trägt sie ihn in einer Schlinge. Nach so viel herzerfrischender Komik scheint der Bruch unweigerlich, als Maggies Sohn Tom hinter ihr Geheimnis kommt.
 
Regisseur Sam Garbarski beschenkt die Berlinale-Besucher mit einer außergewöhnlichen Geschichte, die einen derart starken Tiefgang und Humor hat, dass sich alle einig sind: Das ist der erste Anwärter für den Goldenen Bären. Und wenn nicht der Film, dann soll wenigstens Marianne Faithfull einen Preis bekommen.

Sie hat kaum den Pressekonferenzraum betreten, da hält es die Journalisten nicht mehr auf den Sitzen. Frenetischer Jubel, wie man ihn danach nicht mehr erleben wird. Marianne Faithfull hat die Kittelschürze von Maggie abgelegt und ihren Haaren das schimmernde Blond einer Diva verliehen. Als sie anfängt zu reden, möchte man jedes ihrer Worte schlucken. Einmalig dunkel und fast aristokratisch artikuliert sie, der Saal hängt an ihren Lippen. "Danke für den ersten frischen Wind in diesem Festival", beginnt ein Journalist und fragt: "Wie kamen Sie auf Marianne Faithfull?" Sam Garbarski erzählt: Ursprünglich sollte der Film in Brüssel spielen, denn so stand es im Skript seines Freundes Philippe Blasband, doch mit einem Mal lag es klar auf der Hand. Der Film musste seinen Mittelpunkt einfach in England haben, weil die Atmosphäre ohnehin eine britische war. Das Skript wurde von Martin Herron umgeschrieben. Und schließlich meinte der Produzent des Films Sebastien Delloye: "Was hältst du denn von Marianne Faithfull?" Alle kannten sie aus ihrer Arbeit mit Sofia Coppola ("Marie Antoinette"), fehlte nur noch die Zusage der Sängerin. Die kam. Lust, endgültig in das Schauspielfach zu wechseln, hat sie nicht: "Wissen Sie, ich bekomme eine Menge Müll zugeschickt, aber ich habe diese Karriere nicht gemacht, um mich im Alter von 60 Jahren mit `Bullshit´ zu degradieren."
 
Die nächste Frage scheint allen auf der Zunge zu brennen. Man sieht wohlbemerkt während des Films nicht ein einziges Mal männliche Genitalien. "Was haben Sie benutzt beim Runterholen?" traut sich jemand zu fragen. Das Lachen der beiden Schauspielerinnen zieht der Situation den peinlichen Stachel. "Plastik-Dildos", antwortet Marianne Faithfull, "es war ein schmutziger Job, aber irgend jemand musste ihn tun." - "Wir waren beide angeekelt", erinnert sich Dorka Gryllus, die Maggie anlernt. Noch während sie lacht, wird sie rot. "Es geht um die Familie", betont Marianne. Endlich geht eine Frage an ihren Filmsohn Kevin Bishop. Mutter-Sohn-Beziehung, ein Statement bitte. In den Charakter konnte er sich gut hineinversetzen. Söhne wollen immer ihre Mütter beschützen, darum ginge es doch. Er wüsste nicht, wie er reagieren würde, wenn seine Mutter so einen Job hätte. Bishop hatte ja bereits einen Schock, als seine Eltern eines Tages erklärten: "Wir bekommen ein Baby." Da war er 18 und dachte nur: "Oh mein Gott, meine Eltern haben noch Sex."

Im Radio Eins Studio im Cinemaxx am Potsdamer Platz spricht Knut Elstermann am Abend begeistert mit Dorka Gryllus über "Irina Palm". Zu Wort kommt die Schauspielerin, die vor zwei Jahren Shootingstar auf der Berlinale war, jedoch kaum. Was sie und Marianne Faithfull auf der Leinwand genau machen, verschweigt sie. Einzig "Sexworkerin" kommt ihr über die Lippen. Den Rest erzählt der Moderator, und zwar mit einem solchen Herzblut, dass jeder Zuhörer weiß: Wenn Marianne Faithfull auf Tour geht, ist er dabei. Und wir, wir lieben sie auch. Den Anderen ("El Otro") hat er sicher längst vergessen.

Fünfter Tag
12. Februar
Von Astrid Mathis

Wettbewerb

Sharon Stone kriegt die Krise
When a Man falls in the Forest

Redet man so in Extremsituationen? Ist man da zu solchen Dialogen in der Lage? Der Filmemacher Ryan Eslinger zeigt Menschen in der Krise. Sharon Stone als frustrierte Hausfrau Karen gehört zu ihnen und lässt in den Geschäften gern etwas mitgehen, um wenigstens ein bisschen Nervenkitzel in ihren Alltag zu bringen. Ihr Mann Gary, gespielt von Timothy Hutton, sieht sie schon lange nicht mehr an. Nur im Supermarkt weichen ihre harten Gesichtszüge auf, als sie sich kurz an die schönen Zeiten mit Gary erinnert, in denen sich noch alle Leute nach ihr umdrehten. Die Bitterkeit hat sich in sie hineingefressen und kommt schlagartig zurück. "Siehst du hier irgendwen, der mich anschaut?" fragt Karen. "Das hat aufgehört, als du aufgehört hast, mich anzusehen." Danach ist keine Kommunikation mehr möglich.
 
In seiner eigenen Welt lebend fällt es auch Bill (Dylan Baker) schwer, mit anderen zu kommunizieren. Ausgerechnet ihm begegnet Gary, als er gerade in einem Großraumbüro Staub saugt. Er hört Opernarien und nimmt Gary erst wahr, nachdem dieser den Stecker aus der Dose gezogen hat. "Mensch, du bist doch Bill, oder?" - "Ja."- "Hast du gerade hier angefangen zu arbeiten?" - "Nein, ich arbeite seit acht Jahren hier." - "Wow, das ist super." Damit endet die Konversation zwischen ihnen.
 
Überhaupt wird in diesem Film wenig gesagt. Die Redensart "In der Kürze liegt die Würze" würde ich hier nicht unterschreiben. Als Gary bei einem Überfall stirbt, ist man erleichtert. Das Elend hat ein Ende.

Sie hat es wohl gehofft, aber um die "Basic Instinct"-Frage kommt Sharon Stone auf der Pressekonferenz doch nicht herum. Wie sie das finde, dass man sie immer mit einer Szene aus "Basic Instinct" in Verbindung bringen wird, will eine asiatische Journalistin wissen. Die Schauspielerin überlegt einen Moment. Das macht sie öfter. Man ist fast überrascht, dass sie letztendlich doch noch antwortet. Eine Chance wäre das gewesen, ihr Durchbruch, der ihr viele Türen geöffnet hat. Als sie auf den Film zu sprechen kommt, behauptet sie: "Wir sind alle schon solchen Charakteren begegnet wie im Film." Mehr noch: "Vergesst nicht, wir leben nicht in einer Männerwelt. Wir verlieren nur manchmal unser Gefühl dafür, in der Welt zu sein."
 
Ich höre jemanden flüstern, der Film hätte ihn an "American Beauty" erinnert. Zumindest die Machart. Dazu nur so viel: Diese beiden Filme können unmöglich in einem Atemzug genannt werden, denn "American Beauty" berührt auf zauberhafte Weise trotz aller Tragik und wegen all der Tragik. Bei "A Man falls in the Forest" ist man einfach froh, wenn es vorbei ist.


Wenn nichts mehr hilft
Die Zeugen

Wie eine Besessene hämmert Sarah (Emmanuelle Béart) auf die Schreibmaschine ein. Sie muss etwas sehr Wichtiges schreiben in ihrer roten Wohnung. Das Gelb des Sommers, das Blau des Meeres, die rote Wohnung - die Farben haben etwas Unwirkliches an sich. Das Glück scheint vollkommen. Sarah und ihr Freund Mehdi (Sami Bouajila) haben gerade ein Kind bekommen, die offene Beziehung zwischen ihnen wirkt selbstverständlich. Sarahs Freund Adrien (Michel Blanc), der nebenbei bemerkt Arzt ist, hat sich in den jungen Manu (Johan Liberéau) verliebt. Dessen Schwester (Julie Depardieu) wohnt mit ihm zusammen und träumt von einer Karriere als Opernsängerin. Es könnte nicht schöner sein, die starken Farben des Films unterstreichen Harmonie und Wonne. Da beginnt Manu eine Affäre mit Mehdi. Es wird Herbst, als Manu die Beziehung mit Adrien beendet und Adrien bei seinem Ex-Geliebten Aids feststellt. Winter. Bis dahin fließt der Film nur so darin, man verliebt sich beinahe selbst in Manu. Mit dem Winter kommt die Eisschicht. Man wird nicht mehr in das Drama hineingezogen. Man sieht machtlos zu, wie Manu stirbt. Sarah will Zeugnis ablegen und die Geschichte Manus, die er vor seinem Tod auf Band aufzeichnete, aufschreiben. "Wofür?"schreit Mehdi.
 
Der Regisseur André Téchiné hatte viele homosexuelle Freunde, die er in den 80er Jahren durch Aids verlor. Der Film ist Zeugnis dieses Zeitabschnitts, gibt der Regisseur auf der Pressekonferenz Auskunft.


Zwei, die sich das Wasser reichen können
Tagebuch eines Skandals (Außer Konkurrenz)

Langweilig ist das Leben der Lehrerin Barbara Covett (Judi Dench). Da taucht die junge und schöne Sheba (Cate Blanchett) auf und wird ihre Kollegin. Sheba fliegen die Herzen nur so zu, auch das von Barbara. Sie möchte Sheba unbedingt als ihre Freundin gewinnen, vertraut sie ihrem Tagebuch an. Als Barbara ihr hilft, eine Prügelei zwischen zwei Schülern zu beenden, ist der Moment da, die Freundschaft beginnt. Immer häufiger wird sie in das Leben von Sheba miteinbezogen, die verheiratet ist und zwei Kinder hat. Etwas, was Barbara fehlt - eine Familie.
 
Eines Abends macht Barbara eine schockierende Entdeckung: Sheba hat eine Affäre mit einem minderjährigen Schüler. Sie stellt Sheba zur Rede und verspricht, nichts zu sagen, wenn die Affäre sofort endet. Barbara weiß, dass Sheba in ihrer Schuld steht, und Sheba weiß, dass sie aufhören muss, kann aber nicht. Statt dessen lässt sie zu, wie Barbara immer mehr Teil ihrer Familie wird und sie auf Schritt und Tritt verfolgt. Für Shebas Mann Richard (Bill Nighy) ist das ein unerträglicher Zustand. Barbara erpresst Sheba mit ihrem Schweigen und versteckt ihre krankhafte Besessenheit gegenüber Sheba hinter dem Mantel der Freundschaft, bis sie dahinterkommt, dass Sheba sich nach wie vor mit dem Schüler trifft. Die Situation eskaliert.

Welch ein Glanz im Pressekonferenzsaal, als Cate Blanchett und Dame Judi Dench den Raum betreten! Zwei großartige Schauspielerinnen nehmen an einem Tisch Platz und sprechen einander ihre Verehrung aus. Seit dem Film "Schiffsmeldungen" kennen sie sich, jetzt tragen sie den Spielfilm "Notes on a Scandal", der auf der Berlinale außer Konkurrenz läuft. Cate Blanchett sah das Buch bei Patrick Marber liegen, hatte es selbst gerade gelesen. Der erzählte, er wolle ein Drehbuch dazu schreiben. Er wüsste schon einen Part für sie. "Ich hoffte, Judi würde mitspielen", erklärte Cate Blanchett. Auch Patrick Marber sah von Anfang an beim Schreiben nur die beiden Schauspielerinnen in den Rollen. "Ich habe das Drehbuch gelesen, und als ich erfuhr, dass Cate Sheba ist, sagte ich zu", ergänzte Judi Dench. Sie selbst würde jemanden wie Barbara nicht um sich haben wollen, obwohl diese ältliche einsame Frau einem leid tun kann. Schließlich ist es ein Weg, der zu ihrem Verhalten führt und viel Selbstzerstörung in ihrem Charakter. Im Buch wird die Geschichte komplett aus der Sicht von Barbara erzählt. Bei Patrick Marber ist Shebas Sicht mit dabei, nachdem sie Barbara die Affäre gestanden hat. Beide haben etwas Unschuldiges auf ihre Art. Lady Macbeth sei ja im Grunde ebenfalls eine nette Person. Sheba rutscht in die Affäre hinein, und auch Barbara kann sich nicht stoppen, erklärt Judi Dench. "Erinnern Sie sich an die Szene, in der ich in der Wanne liege? Eine der Besten in meinem Leben, obwohl es zu spät dafür ist", merkt die Schauspielerin an. "Sie tragen den Titel `Dame´ - was bedeutet das für Sie?" fragt ein Journalist. "Nun. Eine Dame ist in Amerika ja etwas anderes (ein Slangausdruck für "Weib", Anmerkung der Redaktion). Ich versuche, mich einfach wie eine in England zu verhalten."
 


 

Andrew Simpson, der den Schüler spielt, mit dem Sheba eine Affäre hat, sitzt zwischen den beiden Damen. Ein bisschen verloren fühlt er sich. Dann kommt endlich eine Frage für ihn. Er konnte es sich schon denken. Viele träumen davon, einmal Cate Blanchett nahezukommen, und er hat mit seinen fast 18 Jahren sogar Sexszenen mit ihr gedreht. "Wie war das für Sie?" - "Ich hatte Angst. Aber alle waren so freundlich zu mir. Wir waren wie eine große Familie, Cate und Judi Dench waren für mich nicht mehr nur großartige Schauspielinnen, sondern Freunde", beschreibt er. "Ich muss zugeben, mein Vater hat sich mehr über meine Rolle gefreut als meine Mutter. Nächstes Mal soll ich jedenfalls etwas anderes machen."

Zu später Stunde erscheint der deutsche Schauspieler Joachim Król im Radio Eins Studio der Maxx Bar am Potsdamer Platz. Sein Kommentar zu dem Film: "Wie bekomme ich Schaupielunterricht von Judi Dench?"

 

Perspektive Deutsches Kino

Aus dem Leben gegriffen
AlleAlle

Spätestens seit dem Berlinale-Erfolg von "Netto" ist Milan Peschel in der Kinolandschaft kein Unbekannter mehr. In diesem Jahr spielte er in dem Film "AlleAlle" die Hauptrolle. Eine Kollegin fragt mich vor dem Film, ob ich auch zu "Allé Allé" ginge. Ich betreibe Aufklärungsunterricht, sage ihr, dass sei ein Ausdruck dafür, wenn nichts mehr da ist. "Ach, so", erwidert sie irritiert. Deutsche Sprache, schwere Sprache. Jetzt überlegt man schon bei deutschen Titeln, wie sie ausgesprochen werden.

Pepe Panitzer drehte den Film nach einer Vorlage von Oliver Bukowski. Der Autor ist geradezu prädestiniert, lebensnahen Filmstoff zu liefern. Hagen (Eberhard Kirchberg), ein etwas tolpatschiger Riese, ist geistig zurückgeblieben und auf der Suche nach seinem Onkel. In Dohmühl (Milan Peschel) glaubt er, ihn gefunden zu haben, und Dohmühl ist viel zu betrunken, um zu begreifen, wen er sich da in seine Wohnung geholt hat. Ina (Marie Gruber) ist gerade aus dem Gefängnis zurück und wohnt im selben Haus. Die Gegend erweckt einen verlassenen Eindruck. Niedergörsdorf hat abgesehen von einem Getränkemarkt und einer Tankstelle nichts zu bieten. "Altes Lager" nennt sich der frühere sowjetische Militärstützpunkt, den Dohmühl von seinem Vater erbte, der das Ganze für eine Mark erstand. Er kann damit ebenso wenig anfangen wie mit der geerbten Gerüstbaufirma. Bei Ina scheinen die Chancen aussichtslos, und außerdem hat er noch Hagen am Hals. Alles ziemlich trostlos. Dennoch gelingt es Panitzer, den Stoff so zu verfilmen, dass man über weite Strecken des Films herzlich lachen kann. Er zieht das Publikum direkt in die Situation hinein - da ist keine Distanz mehr zwischen Zuschauer und Leinwand. Das ist nach den zahlreichen distanzierten Filmen direkt eine Wohltat. Ein Beispiel: Dohmühl schreit Hagen an, als er alles verloren glaubt: "Es ist nichts mehr da. AlleAlle, Mann!" Da schaut Hagen auf seine geliebte Ratte, geht damit in die Toilette und schließt die Tür hinter sich. Dohmühl braucht einen Moment, um zu begreifen, was Hagen vor hat. Dann springt er auf: "Nein, mach nicht", brüllt er. Er weiß, wie viel ihm das Tier bedeutet. Zu spät. Hagen öffnet die Tür, hält Dohmühl seine bloßen Hände entgegen und sagt: "Hagen auch allealle".

Dass sie diesen Film machen werden, stand für Milan Peschel und Pepe Panitzer schon lange fest. Nach der Premiere von "Netto" war das Projekt nur eine Frage der Zeit. Ein bisschen enttäuscht war Panitzer dann doch, dass Milan Peschel nach dem ersten Drehtag kein Wort über die Arbeit verlor, sondern etwa drei Stunden vom Catering schwärmte. Der Mundelkoch war Grund für Peschels gute Laune. Und dass bei gutem Essen ein sehr guter Film herauskommen kann, das beweist "AlleAlle". Unglaublich, dass dieser Film noch keinen Verleih hat.

Vierter Tag
11. Februar
Von Astrid Mathis

Wettbewerb

Oh, mein Gott
In Memory of myself

Man kann darüber spekulieren, warum dieser Film am Sonntag um 9 Uhr gezeigt wurde, aber es ist zu offensichtlich. Zeit, in die Kirche zu gehen.
 
Der junge Andrea ist auf der Suche nach sich selbst und hofft, in einem Noviziat statt Zerrissenheit eine Heimstatt zu finden. Soweit kommt man noch mit. Dann sieht man nicht mehr durch. Lange weiße Flure, schwarz gekleidete Männer, die pathetisch Dinge erzählen, von denen sie wohl selbst nicht wissen, was sie bedeuten sollen. Schon in der Mitte eines Satzes kann man sich nicht mehr an den Anfang erinnern. Einzuschlafen ist hier unvermeidlich. Und wer hier nicht einschläft, hat längst das Kino verlassen. Wenn da nur nicht diese unerträgliche bombastische Musik wäre, die einen immer wieder aus dem Schlummer reißt.. Ein ärgerlicher Film. Zu schade, dass auch ich unter Narkose stand und verpasste, rechtzeitig zur Vorführung von Julie Delpys "2 Days in Paris" zu wechseln. An "Memory of myself" werden sich jedenfalls die Wenigsten erinnern. Amen.


Habe die Ehre, Mr. President
Goodbye Bafana

Dennis Haysbert spielt in der Serie "24" an der Seite von Kiefer Sutherland einen Präsidenten, zu dem man gerne aufsieht. Er hat so etwas charismatisch Gutes an sich, dass er wie geschaffen scheint, einen der größten Männer dieser Zeit zu verkörpern. Einen Humanisten. In "Goodbye Bafana" schlüpft er in die Rolle von Nelson Mandela. Vorher las und sah er alles von und über ihn, was er in die Hände bekommen konnte. Selbst am Set hatte er einen Sprachtrainer bei sich, um sich seinem Charakter so weit wie möglich anzunähern.
 
Bille Augusts Film handelt von der Geschichte des Gefängniswärters James Gregory (Joseph Fiennes), der Xhosa spricht und Nelson Mandela überwachen soll. Doch je näher er ihn kennen lernt, um so mehr versteht er ihn und ergreift Partei für das Manifest, das Mandela verfasst hat. "Wir wollen nur gleiche Rechte. Weiße und Schwarze können friedlich miteinander leben." 27 Jahre begleitet ihn Gregory, am Ende sogar in die Freiheit. Was für einen interessanten Stoff die Memoiren von James Gregory auch immer hergeben, der Film hat etwas märchenhaft Verklärtes, das ihn hinter der Realität zurückstehen lässt. Die hätte durch den Film sichtbar gemacht werden sollen, denn so glatt, wie sich diese Geschichte erzählt, können sich die Ereignisse nicht zugetragen haben. Sie bleiben hinter einem Schleier verborgen.

"Was hat ihnen der Film gegeben?", fragt ein Journalist auf der Pressekonferenz. "Hoffnung", erwidert Dennis Haysbert. Zwei Minuten hatte er gebraucht, um zu entscheiden, ob er die Rolle des Freiheitskämpfers Nelson Mandela annehmen sollte. Gregory lernte er nicht mehr kennen, er war ein paar Jahre vor der Produktion gestorben, aber seine Frau erzählte viel von ihm. Das half Diane Krüger, sich in die Frau des Gefängniswärters hineinzuversetzen. Trotzdem gab es für sie Momente, in denen sie dachte: "Ich weiß nicht, wie ich das spielen soll." Zum ersten Mal in ihrer Karriere ist ihr Part der einer Frau, die noch lebt. "Ich wollte Afrika nicht betrügen. Ich wollte es richtig machen, denn ich habe ja eine Verantwortung dem Land gegenüber." Dass sie in der Rolle der Gloria eine Frau spielt, die aus der Mittelschicht stammt wie sie selbst, war ebenfalls eine Herausforderung für die Schauspielerin, die sie zeitgleich mit Gloria verband.
 
"Ich war noch nie vorher in einem Gefängnis. Als wir dort drehten, hieß es: Passkontrolle, kein Augenkontakt. Türen schlossen sich hinter uns, noch bevor Türen vor uns geöffnet wurden", erinnert sich Dennis Haysbert an die Dreharbeiten. Da konnte einem schon mulmig zumute werden, gab er zu. Er konnte den Drehtag nie leicht hinter sich lassen. Erst auf der Pressekonferenz sagte er zu seinen Kollegen: "Ich kam oft nach Hause, trank ein Glas Wein und begann zu weinen." Zögerlicher Applaus. Man ist gerührt. Applaus wohl für den Mut, das öffentlich zuzugeben. Jemanden zu spielen, der sein Land so liebt wie Nelson Mandela, war für ihn eine verantwortungsvolle Aufgabe, die ihn unmöglich kalt lassen konnte. Dennis Haysbert wollte ihm gerecht werden.
Es dauerte Jahre, um das Geld für den Film zusammenzubekommen. Vier Länder sind an der Finanzierung beteiligt. Ein Beweis dafür, wie schwierig es bis heute ist, dieses Thema anzufassen. Getraut haben sich Europäer, darin zu investieren. Das allein sagt schon alles. Dabei hätte der Film noch mehr provozieren können. Für amerikanische Verhältnisse tut er es wahrscheinlich ausreichend. Nur langsam gehe die Entwicklung in Südafrika vorwärts, berichteten die Schauspieler. Es gab Restaurants, in denen nur Schwarze bedienten und Weiße Gäste waren. Haysbert als einziger Gast, dessen Hautfarbe Schwarz ist.
 
Ob er sich nach der Rolle als Präsident in "24" und Nelson Mandela, der ebenfalls eine Führungspersönlichkeit ist, nicht zutraue, selbst in die Politik einzusteigen und Präsident zu werden? "Ich glaube, ich habe als Schauspieler mehr zu sagen denn als Präsident", erwidert Haysbert. Er lächelt.


Perspektive Deutsches Kino

Ey, Story, oder was?
Prinzessinnenbad

Da will man sich einen schönen gemütlichen Sonntagabend machen. Und dann das! Merkwürdige Gestalten betreten das Cinemaxx am Potsdamer Platz. Wie aus einem 68er-Jahre-Film tauchen ein paar Leutchen auf, die sogleich die volle Aufmerksamkeit auf sich lenken. Das kann man mit Fug und Recht behaupten. Schließlich ist das Berlinale-Publikum deutlich zu erkennen. Und nach dieser Gruppe drehen sich hier alle um, die nicht so aussehen. Die Kamera ist auf sie gerichtet. Die müssen wohl wichtig sein, denke ich noch, da werde ich in den Kinosaal geschoben. Heiß begehrt waren die Karten, keine Ahnung, was mich erwartet.
 
Das Prinzenbad in Kreuzberg ist für die Regisseurin des Dokumentarfilms das Prinzessinnenbad. Hier treffen sich ihre Filmheldinnen im Sommer, um abzuhängen. Drei 15-jährige Mädels aus Kreuzberg erzählen von ihrem Alltag. Sie packen richtig aus, erklären vor der Kamera, wie sie die Schule vernachlässigen und nichts mit Deutschen anfangen können, weil sie sich am besten mit Türken verstehen. Sie telefonieren mit wildfremden Jungs, um sie zu beschimpfen: "Bist du `n Ossi, oder was? Oder bist du aus Reinickendorf, du Muschi?" "Ey, Story, oder was?" werfen sie ein, wenn sie meinen: "Du spinnst wohl" oder: "Merkst du`s noch?" Sie sind selbstbewusst, nehmen kein Blatt vor den Mund und rauchen Kette. Dabei regen sie sich über Achtjährige auf, die sie mit Zigarette erwischen. Ihre Mütter nehmen es mit den Regeln nicht so genau. Es gibt nur zwei: kein Heroin und nicht schwanger werden.
 
Häh? Witzig finde ich das nicht, doch der Applaus gibt der Filmemacherin Recht, etwas ganz Tolles geschaffen zu haben. Stolz präsentieren sich die Mädchen mit ihren Müttern und deren Lebensgefährten. "Es ist absolut authentisch", sagt eine der Mütter. Alle Mädchen ohne Vater, das war fast schon klar. Wofür der Beifall? geht es mir durch den Kopf. Für den Mut, sich so offen zu präsentieren? Oder ist das Ausdruck der Freude darüber, dass wieder etwas Hippes in Kreuzberg entstanden ist? Oder sind die Applaudierenden einfach froh, nicht dort zu wohnen und erleichtert, dass sie in ihrer Jugend ein paar Regeln mehr aufgestellt bekamen? Oder weil es ein cooles Zeitdokument ist, über das man wunderbar ablachen kann?
 
Im Scheinwerferlicht wirken die drei Filmheldinnen verunsichert. Manches hätten sie dann doch lieber für sich behalten.
 
Was hier heiter rüberkommt, ist nämlich eine verdammt traurige Angelegenheit.
 

Dritter Tag
10. Februar
Von Astrid Mathis

Wettbewerb

Von Schafen, Hirten und Fälschern
Tuyas Ehe

Die Geschichte spielt in der Mongolei. Fast wie ein Märchen beginnt sie, so fremdartig erscheinen Farben und Landschaft. Eine junge Frau in pinkfarbenen Gewändern stürzt aus einer Hütte und geht zwischen die streitenden Jungen. "Er sagt, ich hätte zwei Väter", schreit einer von ihnen. Die Frau kehrt in die Hütte zurück und weint. Es ist Tuya. Sie lebt mit ihrem kranken Mann Bater und ihren zwei Kindern allen Widrigkeiten zum Trotz in der mongolischen Steppe. Sie hütet jeden Tag 100 Schafe, niemand hilft - sie hat im wahrsten Sinne des Wortes die Hosen an. Als Tuya krank wird, weiß sie sich nur einen Rat. Sie muss heiraten, und zwar jemanden, der ihren Mann akzeptiert und mitversorgt. Die Suche beginnt. Ausgerechnet Senge, der immer trinkt und über seine Frau schimpft, erobert ihr Herz. Doch obwohl Bater damit einverstanden scheint und Senge sich scheiden lässt, ist noch kein Happy End in Sicht.

Sensibel und humorvoll ist die Geschichte über Tuyas Ehe. Die Kamera in den Händen Lutz Reitemeiers schafft etwas Besonderes. Bei Radio Eins zu nächtlicher Stunde kann auch der Moderator Knut Elstermann nicht umhin, die eindrucksvollen Bilder hervorzuheben. Der Regisseur Wang Quan`an hält sogar einen Vergleich zu Fassbinders Film "Die Ehe der Maria Braun" für möglich. Dass eine Frau einen Mann sucht, der ihren Noch-Ehemann akzeptiert und pflegt, findet die Hauptdarstellerin Yu Nan jedenfalls nicht abwegig. Fünf Monate lang verwandelte sie sich von einer Chinesin in eine Mongolin.

Der gute Hirte

Wie weit kann man gehen, um seinem Land zu dienen und seine Familie zu schützen? Regisseur Robert de Niro weiß in seinem Film "The Good Shepherd" die Antwort darauf: verdammt weit. Seinen Anfang nimmt die Geschichte in den Gründungsjahren der CIA. Matt Damon spielt den guten Hirten Edward Wilson, der auf den ersten Blick unscheinbar, in seiner Routine gefangen wirkt. Selbst wenn er Folterungen veranlasst, kann man kaum glauben, dass er als Agent arbeitet. Darin liegt sein Geheimnis, auch Matt Damons Geheimnis. Er macht fast nichts und das sehr gut.
 
Der Selbstmord seines Vaters ist Jahre her, als er in der Universität in Yale in die Geheimgesellschaft "Skull & Bones" einsteigt. Hier wird er zum guten Hirten erzogen, alle sind hier "Brüder fürs Leben". Und natürlich kommt die Grußformel "Skull & Bones" noch vor dem Tischgebet. Es ist letztendlich nur ein kleiner Schritt zur CIA. De Niro spinnt das Netz um Wilson sehr genau: so komplex die Erzählweise ist, so interessant ist die Geschichte, die sich dahinter verbirgt. Alles dreht sich letztendlich um die Operation "Schweinebucht", die gescheiterte US-Invasion in Kuba im Jahr 1961. In Rückblenden erfährt der Zuschauer über Edward Wilsons Leben. Seine Ehe mit Margarete (Angelina Jolie) bestand von Anfang an nur auf dem Papier. Unzählige Reisen und Wilsons strenge Geheimhaltung versetzen ihr den Todesstoß, Margarete zieht zurück zu ihrer Mutter. Wilsons Sohn hingegen hat noch nicht aufgegeben, seinen Vater zu erreichen. Er will nicht einsehen, dass er ihm fremd bleibt. Lieber will er Mitglied in der CIA werden. Beinahe möchte man Wilson sagen: "Siehst du, die Geschichte wiederholt sich. Auch dein Vater stand allein in der Welt, ohne Familie trotz Familie, da." Man weiß, es würde nichts nützen, denn Edward Wilson leidet nicht. Das tut fast noch mehr weh. Am Ende sind Geheimdienste laut Film nur "Stiefelhalter für Könige".

Matt Damon liebt Berlin, und Berlin liebt Damon. So viel steht fest. "Nun wollen wir auch alle gute Hirten sein und aufhören zu fotografieren", meint der Moderator der Pressekonferenz Anatol Weber einleitend. Gute Hirten wollten zwar viele im vollgestopften PK-Raum nicht sein, aber sie folgten ihm aufs Wort. "Wie verbringen Sie ihre Zeit in Berlin?" will eine Journalistin von Matt Damon wissen. "Wie ich meine...Moment, wir sind in Berlin! Ich habe hier schon fünf Monate gelebt, ich liebe die Stadt", bekennt er. Robert De Niro antwortet weniger ausführlich, als ihm drei Fragen auf einmal gestellt werden. Die letzte davon lautet: "Denken Sie, dass Martin Scorsese jetzt endlich einen Oscar bekommt?" "Ich hoffe es", sagt er und lässt den Journalisten im Regen stehen. Natürlich fühlt er sich geehrt, hier zu sein und mit seiner Regiearbeit im Wettbewerb zu landen. Eine Reporterin bemerkt die Parallele zwischen schmutzigen Mafiosigeschäften und trauter Familien- und Gemeinschaftsfeste. "Ich bin froh, dass Sie in dem Film diese Rolle spielen", fügt sie hinzu. "Ich auch", erwidert Damon lachend. "Was ist die Hauptaussage des Films?" fragt ein Journalist Robert De Niro. "Ich weiß nicht. Matt?" wendet er sich hilfesuchend an seinen Filmhelden. Die gespannten Zuschauer wissen längst, dass Matt Damon nur im Film mit Worten geizt. "Wir malen das Bild, wir erklären es nicht. Wir versuchen, einzubringen, was wir denken, aber wir können unmöglich an alles denken, was die Zuschauer bei dem Film denken", antwortet er. "Danke, Matt", kommt es aus De Niros Ecke.
 
Im Film hat Martina Gedeck zwar nur vier Minuten, aber bei dem minimalen Anfahrtsweg darf auch sie auf der Pressekonferenz nicht fehlen. Was den Unterschied zwischen Filmedrehen in Amerika und Deutschland macht, ist ihr Thema. "Man fühlt sich frei am Set. Kein Zeitdruck, keine Technik. Du hast nicht dauernd das Gefühl, etwas erreichen zu müssen. Es war Luxus, den Prozess, in eine Szene reinzukommen, zu erleben. Der ganze psychologische Kram des Regisseurs fiel weg. Ein Direktor, der nicht kommentiert, ist einfach der Himmel." Und sie ergänzt: "Es ist mehr Geld da, daher mehr Zeit. Dadurch herrscht größere Gelassenheit. Film ist für die Amerikaner ein hohes Kulturgut, das, was das Theater in Deutschland ist, verkörpert in Amerika der Film. Man quatscht sich nicht gegenseitig rein, jeder macht seine Arbeit." Was dachte eigentlich Matt Damon, als er Martina Gedeck das erste Mal traf? "Heute wird ein guter Tag."
 
Das Ende der Pressekonferenz wird so unvermittelt verkündet, dass Fotografen und Presseleute nach vorne stürmen und selbst die Absperrung dem Sturm nicht stand hält. Glücklich, wer zu den Zweien gehörte, die ein Autogramm ergatterten, da die Stars sofort im Hotel verschwanden. Erst am Abend am roten Teppich konnten sich die hartnäckigen Fans freuen, doch noch eine Unterschrift zu bekommen.


Die Fälscher

"Ich hätte mich nie getraut, einen normalen KZ-Alltag zu verfilmen", erklärt der österreichische Regisseur Stefan Ruzowitzky auf der Pressekonferenz. Gerade deshalb war er froh, den Stoff für "Die Fälscher" gefunden zu haben. Adolf Burger, heute 90 Jahre alt, hat die Geschichte erlebt, die er erzählt. Gemeinsam mit anderen jüdischen Kleinkriminellen wurde Burger 1942 im KZ Sachsenhausen in eine Fälscherwerkstatt gesteckt, "Unternehmen Bernhard" war geboren. Alles hing an dem Meisterfälscher Salomon Sorowitsch. Britische Pfundnoten und amerikanische Dollars galt es, so nachzuahmen, dass sie nicht von echtem Geld zu unterscheiden wären. Damit sollte das Währungssystem der Kriegsgegner zunichte gemacht werden. Obwohl die Fälscher das Projekt verzögerten und der nachgeahmte Dollar erst sehr spät produziert wurde, ging das Projekt Bernhard als größte Fälschungsaktion in die Geschichte ein.
 
August Diehl spielt Adolf Burger, einen Widerstandskämpfer, der innerhalb der Gruppe sabotiert. Er kam wegen seiner Flugblätter ins KZ - jetzt soll er Geld machen, um einen Krieg mitzufinanzieren, den er nicht will. "Wir sind Drucker, um die Wahrheit zu verbreiten!" ist seine Meinung. Seine Prinzipien stoßen auf den Ehrgeiz Salomons (hervorragend gespielt von Karl Markovics), "den Dollar zu schaffen" und damit seinen Hals zu retten. Sympathisch wirkt er auf den ersten Blick nicht, aber das Ambivalente hat Sorowitschs Figur mit der von Burger gemeinsam. Man ist hin- und hergerissen, auf wessen Seite man sich stellen sollte oder überhaupt kann. Beide zeigen ihren Überlebenstrieb auf unterschiedliche Art.
 
Neben dem Konflikt zwischen Burger und Sorowitsch lässt der Film auch Raum für unterhaltsame Momente auf humoristische Weise, denn den Häftlingen geht es gut. Sie machen Witze, sie schlafen in weichen Betten, bekommen gutes Essen und als besondere Überraschung eines Tages eine Tischtennisplatte geschenkt, die sie im Hof aufstellen. Nebenan werden andere Juden erschossen. Ihr SS-Mann (Devid Striesow) meint es gut mit ihnen. Er weiß: "Wenn man Menschen wie Dreck behandelt, werden sie keine Leistung bringen."
 
Es hat den Anschein, als würde kein Film über den Zweiten Weltkrieg mehr ohne komödiantische Züge auskommen. Ruzowitzky bewegt sich auf sehr dünnem Eis, nicht zu sehr in die Komödie abzurutschen. Der Zuschauer bleibt außen vor und kann zwar mitlachen, aber trotz Tragik bleibt eine große Distanz zwischen Leinwand und Publikum.

"Wie es war, in einem KZ zu spielen? - Es war ein Filmset, ein Arbeitsplatz. Nach dem anfänglich komischen Gefühl war es normal, weil man ja immer einen konkreten Konflikt hatte. Nach Drehschluss ging man nach Hause", kommentiert Karl Markovics die Drehzeit. In seinen Augen sah sich Sorowitsch als Künstler. Einer, der mit seiner Kunst die Welt verändern wollte. Burger erinnert ihn daran. "Ich glaube, als Schauspieler ist es hinderlich, darüber nachzudenken, dass man in einem KZ spielt. Es geht um die nächsten Minuten und nicht ständig um das Überthema", pflichtet August Diehl seinem Schauspielkollegen bei. Jemanden zu spielen, der für seine Überzeugung sterben würde, war für ihn ein Geschenk. "Das wollte ich schon immer."

 
Panorama

Für die Liebe mach ich alles
Itty Bitty Titty Committee

Oh, mein Gott. Diese Mädels sind wirklich nicht zu stoppen. Im Panorama-Beitrag "Itty Bitty Titty Committee" geht es zur Sache. Die 18-jährige Anna trifft auf Sadie, die Anführerin der feministischen Punkgruppe CIA (Clits in Action) ist. Gerade von ihrer Freundin verlassen und gelangweilt von den Hochzeitsvorbereitungen ihrer Schwester, begegnet Anna ihr sehr aufgeschlossen und verwandelt sich schnell ebenfalls in eine kleine revolutionäre Punkerin, die Frauen nicht auf ihre Brüste degradiert sehen will. Das macht sich natürlich auch an ihrem Arbeitsplatz bemerkbar, denn sie sitzt in der Anmeldung einer Klinik für Schönheitsoperationen und rät potenziellen Kundinnen von nun an von chirurgischen Eingriffen ab. Alles ist ihr Recht, und darüber hinaus hat sie sich längst in Sadie verliebt. Die wiederum lebt mit einer Feministin mittleren Alters zusammen und denkt nicht daran, das Leben bei ihr aufzugeben. Wütend betrinkt sich Anna und wacht am nächsten Morgen neben Aggie, einer CIA-Freundin auf. Justament betritt Sadie die Wohnung. Doch sie ist nicht mehr das graue Mäuschen von der Anmeldung, sie will ihre Fehler wiedergutmachen und entschließt sich, gemeinsam mit den CIA-Mädels die Botschaft der CIA in eine Live-Sendung einzuspielen, Ernst zu machen. Rein zufällig sitzt die alternde Feministenfreundin von Sadie gerade auf der Couch der Moderatorin, als im Fernsehen zu lesen ist : "There are enough dicks in the world". Ein Phallussymbol-Denkmal ist mit einem Kondom überzogen und kippt um, zeigt der Bildschirm. Wen wundert es da noch, dass am Schluss Sadie neben Anna im Auto auftaucht und sie einander in den Armen liegen? Wenn auch überzogen, aber sehr erfrischend, diese Komödie von Jamie Babbit.

Home Song Stories

"Dieser Film hat mit einer wichtigen Zeit in meinem Leben zu tun", kündigt der Regisseur von "Home song stories" Tony Ayres an. Schön, das schon mal vor einem Film zu erfahren und nicht erst hinterher. Man sieht den Film jetzt mit anderen Augen. Joan Chen spielt darin die Hauptrolle, die seiner Mutter, einer Shanghai-Nachtclubsängerin. 1964. Rose reist mit ihrer Tochter May und ihrem Sohn Tom rastlos herum. Die Ehe mit dem Australier Bill verschlägt sie nach Victoria. Doch bald ist Bill zur See, und Rose findet in Joe ihre neue Liebe. Kaum sind sie zusammengezogen, beginnt das Drama. Joe flieht, so oft er kann und genießt die Gesellschaft von May. Krank vor Eifersucht beschuldigt Rose ihre Tochter, ihr den Mann wegzunehmen. May versucht, sich umzubringen. Auch Rose ist ihrer Verzweiflung nicht mehr gewachsen und tut es ihr gleich. So liegen beide im Krankenhaus, und May erfährt von der Jugendzeit ihrer Mutter, lernt sie verstehen. Als Rose zu Hause erwähnt, sie könnten wieder nach Shanghai gehen, wo sie sogar als Nachtclubsängerin arbeiten könnte, beschimpft Tom sie, sagt ihr, dass er sie hasst. "Ich mache alles wieder gut", verspricht sie und erhängt sich. Traurig, doch mit dem Wissen um die wahre Geschichte, um so berührender. Tom erzählt die Geschichte aus seiner Perspektive. Regisseur Tony Ayres: "Manchmal tut man bei einem Film immer mehr von sich hinein, in diesem war es anders: Ich habe mich von mir entfernt, die Distanz gesucht." Die Lebensgeschichte seiner Mutter erfuhr er erst 30 Jahre nach ihrem Tod durch seine Schwester in Vorbereitung auf den Film. Bruder und Schwester haben nach dem Selbstmord nie mehr über ihre Mutter gesprochen.
 
  

Zweiter Tag
9. Februar
Von Astrid Mathis

Opium fürs Volk?
Das Jahr als meine Eltern im Urlaub waren

1970. Mauro liebt Fußball, aber nur, wenn er selbst nicht spielen muss. Lieber ist ihm Tischfußball. Es ist das Jahr der Weltmeisterschaft, in dem Brasilien zum dritten Mal den Titel holt. Mauros Eltern bringen ihn zu seinem Großvater, doch der stirbt, und Mauro bleibt den Sommer über bei dessen Nachbarn Shlomo, einem Juden. Die Augen des Jungen schreiben diese Geschichte. Mauro kann nicht sehen, dass seine Eltern aus politischen Gründen verschwinden, sie vor der Militärdiktatur fliehen, die Rituale der Juden sind ihm fremd. Er fühlt sich unwohl und will nur, dass seine Eltern ihn wieder abholen. Je mehr Zeit verstreicht, um so mehr lernt er den Alten und seine Gewohnheiten schätzen. Er spielt mit den Kindern aus der Nachbarschaft und versteckt sich hinter einer Umkleidekabine, um die Kurven seines heimlichen Schwarms zu betrachten. Pünktlich zum Finale kehrt Mauros Mutter zurück. "Und Vater?" fragt der Junge. "Er war zu spät."

Als "Opium fürs Volk" bezeichnet der Regisseur des Wettbewerbbeitrags Cao Hamburger den Fußball. Euphorische Begeisterung will sich während des Films allerdings nicht einstellen. Hamburger erzählt episodenhaft und chronologisch - und sehr langsam. Damit nimmt er dem Ganzen die Spannung. Er zeigt, wie Eltern verheimlichen, was im Land passiert und wie ihr Kind mit dieser Heimlichtuerei umgeht. Opium? Dieser Film reißt nicht mit. Trotz der Livemitschnitte des Weltklassespielers Pélé.


Der Mythos der neuen Frau – Love `em and leave `em
City Girls. Frauenbilder im Stummfilm


Als es darum ging, für die Retrospektive der Berlinale Frauenbilder aus der Stummfilmzeit auszuwählen, stand es von Anfang an fest: Louise Brooks muss dabei sein. Am Kinoeingang verteilen schöne Frauen rosa Nagellack. Beigabe zum Frauenfilm? Na ja. Das wäre nichts für Louise Brooks gewesen.
 
Ein Mann von Paramount betritt den Kinosaal. Er hatte Louise Brooks persönlich gekannt und weiß, dass ihre Präsenz auf der Leinwand von ihrer Tanzkunst herrührt. Im Alter von 31 Jahren beendet die Schauspielerin ihre Karriere. Schade, denn Louise Brooks bringt mehr Frische in den Saal, als es manch zeitgenössischer Film tut.
 
Der Film wurde 1926 in den USA gedreht und basiert auf einem Theaterstück von George Abbott. Angestaubt ist er keineswegs. Allein der Einstieg! Anstatt des üblichen Berlinale-Trailers erklingen kokette Klavierimprovisationen, die auf das Meisterstück des Stummfilms einstimmen. Louise Brooks spielt das freche, freizügige Mädchen Janie, das ihre Schwester Mame (Evelyn Brent) erblassen lässt. Mame hilft ihrem Liebsten, dem Schaufensterdekorateur Bill (Lawrence Gray), derweil Janie dank einflussreicher Herren versucht, so schnell wie möglich die Karriereleiter hinaufzusteigen. Sie ist ein richtiges Luder und macht sogar dem Verlobten ihrer Schwester schöne Augen. Der weiß wiederum Mames kreative Schaufensterideen nicht zu schätzen und heimst vom Chef der Abteilung Lob ein, das ihm nicht zusteht. Gegen Ende des Films ist auch sie wie ihre Schwester eine Heldin, die sich nicht die Butter vom Brot nehmen lässt. Als Bill ihr vom Maskenball in Robin-Hood-Strumpfhosen zu Hilfe eilt, um einen Betrüger zu stellen, sagt sie zu ihm: "Zieh du erst mal deine Hosen hoch. Mach dir um mich keine Gedanken." Zum Schluss ertönt Vogelgezwitscher vom Pianisten. Dass nach so viel Ironisierung auf die eingebildete Männerwelt doch ein Happy End folgt, ist wohl den 20er Jahren geschuldet. Mame verzeiht Bill. Janie hat sich schon wieder den Nächsten geschnappt. Selten so gelacht.
   

Erster Tag
Berlinale 2007
Von Astrid Mathis

Harmonisch, harmonischer, Berlinale-Jury

Schnee in Berlin, und die Berlinale beginnt. Unfassbar. Am späten Donnerstagmorgen haben sich die Jurymitglieder aus ihren Hotelbetten gequält, wohl wissend, dass sie nach der Präsentation im Hyatt zum Mittagsschlaf ansetzen können. "La Vie en Rose" läuft schließlich am Abend im Berlinalepalast am Potsdamer Platz.
 
Sie machen einen schläfrigen, harmonischen Eindruck, wie sie da sitzen, die Sieben, die am letzten Tag den besten Film auswählen müssen. Bei ihren Antworten werden sie am Ende immer ausgeschlafener. Am verschlafensten muss allerdings zu Beginn der Moderator sein. "Bitte, auch in der 2. Reihe hinsetzen, nicht mehr fotografieren", sagt er. Dabei sitzen längst alle.
 
"Ich erwarte nicht viel Drama. Als ich 1987 das erste Mal Jurymitglied war, haben wir uns angeschrieen und beschimpft. Das wird nicht passieren", erinnert sich der Jurypräsident Paul Schrader. "Und was erwarten Sie von Paul Schrader als Jurypräsident? Sie kennen ihn als Regisseur", geht die nächste Frage an Willem Dafoe. "Ich versuche, nicht darüber nachzudenken." Er lacht und fügt hinzu: "Paul ist einer der besten Köpfe, was das Filmemachen angeht."
 
Für den Schauspieler Gael Garcia Bernal ist es das zweite Jahr in Folge, in dem er die Berlinale besucht. Beim letzten Mal präsentierte er den Film "Science of Sleep". Doch von welcher Perspektive wird er die Filme in der Jury sehen - als Schauspieler oder als Regisseur? will ein Journalist wissen. "Aus der des Zuschauers", erwidert Bernal knapp. "Ich sehe gern Filme, deshalb mache ich sie wohl auch so gerne." Für Mario Adorf liegt der Fall ganz klar. Aus künstlerischer Perspektive schaut er sich die Filme nicht an. Sie müssen vor allem eines: "Mich fesseln, mich beeindrucken." Am Ende hat jeder etwas gesagt und den Eindruck vermittelt, dass diese Jury zwar nicht mit der Lebhaftigkeit der Jury aus dem Jahr von Roland Emmerich und Franka Potente konkurrieren kann, aber dass die Entscheidung über die Bären in den richtigen Händen liegt.

Wozu bin ich Edith Piaf?!
La Vie en rose

Sie hatte es schwer, die kleine Edith. Man mag gar nicht hinschauen, als die wacklige Kamera auf das schmuddelige Kind hält, dessen Mutter auf der Straße singt und sich betrinkt. Man will auch nicht hinsehen, wenn Edith so viel trinkt, wie sie singt, besser gesagt, nur singt, um sich Alkohol kaufen zu können.
 
Der Film erzählt nicht die Lebensgeschichte der berühmtesten Chansonette Frankreichs nach, sie zeichnet das Porträt Edith Piafs in den Augen des Regisseurs Olivier Dahan. Ein Erzählstrang beginnt 1918 in Paris mit Edith als kleines Mädchen und endet bei "Non, je ne regrette rien", ein anderer zeigt den Weg von ihrem Zusammenbruch während eines Auftritts1959 in New York bis zu ihrem Tod.
 
Eine Zeitlang verbringt sie als Kind blind. Ausgerechnet in einem Bordell erfährt sie so etwas wie Mutterliebe, die ihr davor und danach verwehrt bleibt. Louis Leplee (Gerard Depardieu) entdeckt sie eines Tages an einer Straßenecke und ist die erste Stufe auf dem Weg zum Erfolg. Doch sie wird für seinen Tod verantwortlich gemacht und rutscht erneut ab, bis Raymond Asso (Marc Barbe) sie schließlich unter seine Fittiche nimmt und sie wie Professor Higgins aus "My Fair Lady" perfekte Artikulation und Ausdruck lehrt.
 
Die stärksten Momente des Films sind auch die emotionalsten. Als Edith Piaf zum ersten Mal in einer Konzerthalle singt, hört der Zuschauer kein Wort. Er sieht, wie sie die Lippen formt, wie sie sich bewegt. Erst beim Applaus setzt der Ton ein. Und dennoch ist es, als hätte man ihren eindringlichen Gesang vernommen. Genauso stark berührt der Film das Publikum, wenn die Sängerin vom Tod ihrer großen Liebe Marcel Cerdan (Jean-Pierre Martins) erfährt und tonlos wird. Eine Frau, die liebte und lebte bis zum Exzess und zudem eine Künstlerin war, die ihresgleichen an charismatischer Ausstrahlung sucht, wird in "La Vie en Rose" zum Leben erweckt. Durch Marion Cotillard. Was wäre dieser Film ohne die Hauptdarstellerin Marion Cotillard? Es ist ihr Verdienst, Edith Piaf zu erahnen, sich ihr zumindest ein wenig anzunähern, denn wie lose Fäden hängen die Episoden zusammen. Aufstieg und Fall einer Künstlerpersönlichkeit sollen die aneinandergeketteten Szenen erzählen und sind trotzdem nicht verbunden. Dadurch verliert sich auch der Sog, den die Lebensgeschichte der Piaf geradezu anbietet. Die 140 Minuten ziehen sich unnötig in die Länge. Dabei hat der Regisseur viele wichtige Details ausgelassen, zum Beispiel, dass sie drei Mal verheiratet war. Nach diesem Film zu urteilen, gab es nur einen Mann in ihrem Leben.
 
"Ich wollte keine Biographie drehen, sondern ein Porträt", verteidigt der Regisseur des Films Olivier Dahan seine Herangehensweise. "Ich wollte einen sehr persönlichen Film machen." Die Initialzündung war für ihn ein Foto der Piaf im Alter von 17 Jahren, auf dem sie "ein bisschen wie eine Punkerin" aussah. Marion Cotillard ist auf der Pressekonferenz nicht wiederzuerkennen. Erst hier wird klar, dass ihr die Rolle in Fleisch und Blut übergegangen sein muss, um die Piaf mit ihren Gesten, ihrer Sprechweise und ihren Eigenheiten derart genau zu verkörpern. Und tatsächlich gesteht die Schauspielerin: "Nach vier Monaten im Entenschritt musste ich das normale Gehen erst wieder üben. Es dauerte eine Weile, bis ich wieder ich war." Trotz der offensichtlichen Exzentrik der Piaf könnte sie sich vorstellen, heute mit ihr befreundet zu sein. Vor dem Film wusste die schöne Französin nicht viel über die Künstlerin, die vielschichtige Rolle gab ihr darin Unterricht. Eine 47-Jährige in ihrem Sterbebett zu spielen, die aussieht und vom Leben gezeichnet ist wie eine 70-Jährige, war trotz guter Recherchearbeit das Schwerste für sie.
 
Marion Cotillard versprüht auf der Pressekonferenz so viel Charme, dass ihre Schauspielkollegen kurzerhand von den Journalisten ignoriert werden. Kaum vorstellbar, dass sie eben noch auf der Leinwand krank und mit Strickzeug in der Hand zu sehen war. Ein monotones Klappern reißt meine Aufmerksamkeit an sich. Sei es die Liebe zur Piaf oder Koketterie: Wie ich mich umdrehe, sehe ich eine Reihe hinter mir eine Frau mit Wolle. Sie strickt.


Nie wieder 15 sein
Tracey Fragments

Tracey Berkowitz ist 15 Jahre alt, und das muss wirklich schlimm sein. Nicht einmal der Regisseur des Films möchte in ihrer Haut stecken. Der Eröffnungsfilm der 22. Panoramareihe auf der Berlinale bringt jeden im Saal dazu, nie wieder 15 sein zu wollen. Denn Tracey Berkowitz (Ellen Page) hat viele Teenagerprobleme. Sie hat flache Brüste, streitet sich ständig mit ihren Eltern und verliebt sich in einen Typen namens Billie Zero, der sie nach dem ersten Sex eiskalt aus dem Auto wirft. Zu guter Letzt wird sie von einem fetten Mann verprügelt, der sich eigentlich ihren Kumpel vorknöpfen will. Was diese Geschichte in dem Film zu suchen hat, bleibt ein ungelöstes Rätsel. Als wäre das noch nicht schlimm genug, lässt der Regisseur Bruce Mc Donald diesen Film neun Monate schneiden. Ein besonderer Film ist er ja unbestritten, aber die Mosaike und Bild-im-Bild-Perspektiven sind so ungewohnt, dass der Film am letzten Berlinale-Tag nur mit geschlossenen Lidern zu ertragen wäre. Sie tun weh. Eine Montage, die nicht gerade Werbung für das Teenageralter macht. Und vor allem eines nicht schafft: eine Geschichte zu erzählen, die berührt.
 

Nur die Besten sterben jung
Panorama-Dokumente
Von Astrid Mathis

Der rote Elvis

Dean Reed – wer war das gleich noch mal? Ach ja, dunkel erinnere ich mich an meine DDR-Vergangenheit. Da gab es diesen Amerikaner, der die DDR so toll fand, dass er hierherzog, um im Kessel Buntes aufzutreten und unseren Glauben an den Sozialismus zu stärken. Der Regisseur der Dokumentation Leopold Grün sagt keinem was. Nicht mal Knut Elstermann kennt ihn. Nur eines weiß der ganz sicher: den Film über Tamara Danz wird er sich nicht ansehen. Der soll schlecht sein.
 
Doch zunächst flimmert Dean Reed über die Leinwand. Rock`n´Roll, in der Hand die Gitarre, auf den Bänken FDJler. Reed ist Friedenskämpfer. Wenig später reitet er im Wilden Westen, und gleich darauf hält er eine Kalaschnikow im Arm. Er gehörte zu denen, die dachten, mit Terrorismus würde man etwas erreichen und das sei sogar mit dem Gedanken des Sozialismus vereinbar, erzählt seine erste Frau Wiebke Reed. Seine zweite Frau Renate Blume-Reed erzählt nichts. Aber wo auch immer der Regisseur die langjährige Geliebte des Sängers und Schauspielers ausfindig gemacht hat, Hut ab! Sie weiß wohl am ehesten, wie hin und hergerissen Reed sich fühlte zwischen seiner Amerikanerseele und der sinkenden Hoffnung, die DDR müsste den Traum vom wahren Sozialismus leben, nicht bloß träumen. Er ertrank in einem Berliner See nach einem Streit mit seiner Frau. Seinen Ruhm hatte er beim DDR-Publikum schon eingebüßt, da verstand er längst die Welt nicht mehr. Im Auto soll ein 10-seitiger Abschiedsbrief gelegen haben, den die STASI in Beschlag nahm. Er ist nie wieder aufgetaucht. Sein Tod bleibt ein Rätsel. Gute Recherche. Leopold Grün wird man sich merken müssen.
 
Dean Reed ist einem näher gekommen. Ganz nah hatte eine Zuschauerin mit ihm zu tun. Es war ein paar Wochen, bevor er starb. Er sah sich in Babelsberg alle seine Filme an, Tag für Tag. Und jede Stunde telefonierte er mit seiner Frau Renate Blume-Reed, sagte "Ich liebe dich" und legte auf. Die Frau, die das hörte, wollte es ihm gleich tun und rief ihren Mann an, um ihm ebenfalls eine Liebeserklärung per Telefon zu machen. Doch der erwiderte: "Biste verrückt geworden?" Heute kann sie darüber lachen.


Tamara

Der Titel stimmt nicht. So viel steht fest. Und alles Unken hatte seine Berechtigung. Das ist kein Film über Tamara Danz, der auch nur annähernd etwas von ihr als Künstlerin aufflackern lässt. Jedenfalls nicht, was man von einer Dokumentation erwartet, die "Tamara" heißt. Sie gilt schließlich als die ostdeutsche Janis Joplin, sie hat DDR-Rockgeschichte geschrieben. Uwe (Haßbecker) und Ritchie (Barton) – die zwei Männer aus ihrer Band sind auch die Männer in ihrem Leben von Silly. Sie stehen zu sehr im Mittelpunkt, selbst wenn ihre Geschichte interessiert und ihre Gefühle mit Tamara zu tun haben. Ja, wie sie aus dem nichttauglichen Haarfestiger und Trockenshampoo eine Mischung zaubert, die einmalige Frisuren schafft, ist eine nette Anekdote, reicht aber nicht, um dem Zuschauer einen Eindruck von Tamara Danz zu vermitteln. Ebenso wenig die Nahaufnahmen der Sängerin und Videoaufzeichnungen der Konzerte.
 
In der Seelower Straße wohnte sie. Hier kam Ritchie dem turtelnden Paar auf die Spur. Danach findet er sich irgendwann mit der neuen Situation ab. Am Ende geht alles sehr schnell. Sie verliert den Kampf gegen den Krebs. – Der Aufbau der Dokumentation wirkt zerfahren, um nicht zu sagen: unglücklich. Wenigstens wissen wir jetzt, warum Silly gerade mit Anna Loos auf Tour geht, obwohl zu Silly doch eigentlich nur Tamara Danz gehören kann. Sie hat es sich gewünscht. Sie hat gesagt: "Jungs, ihr müsst mit Silly weitermachen."
 
Wohlbemerkt: Der Name des Regisseurs ist vielen bekannt (Peter Kahane), doch da sieht man es wieder: Ein namhafter Regisseur muss nicht für einen guten Film stehen. Aus dem Material ließe sich mit einem anderen Aufbau allerdings noch eine wirklich gute Dokumentation machen. Vielleicht sollte das Leopold Grün übernehmen.
 

 

Wie man Clint Eastwood trifft
Pressekonferenz, Dienstag 30. Januar '07
Von Astrid Mathis

Es ist nicht so einfach, wie man vielleicht denken mag. Nicht einmal für den Berlinale-Chef Dieter Kosslick. Und doch ist es ihm gelungen, Clint Eastwood die Hand zu schütteln. Wie, das erfuhren die Journalisten auf der Pressekonferenz zu den 57. Internationalen Filmfestspielen am Dienstagvormittag. Das war auch alles, was hier interessierte: die Anekdoten, denn das Programm hat längst per Mail die Runde gemacht.

Dieter Kosslick hatte sich im Warner Filmstudio "The good German" angesehen, als das Licht anging und er seinen Freund Chip von Dreamworks zu erkennen glaubte. Erst im Näherkommen bemerkte er, dass im T-Shirt Clint Eastwood steckte. "I´m Dieter from the Berlin Film Festival", begrüßte ihn Kosslick, keine Spur verlegen. "Don´t stopp pushing me", erklärte der. "Das hab ich gemacht, und jetzt kommt er", so Kosslick. Nachdem der Hollywoodstar ihm bei "Million Dollar Baby" entwischt war, freut sich der Berlinale-Chef nun um so mehr über die Zusage.

Um eines gleich vorwegzunehmen, sein "Freund Georg" (George Clooney) kommt nicht, weil er gerade dreht. Dafür beehrt Cate Blanchett den roten Teppich in Berlin zum inzwischen 4. Mal. Jennifer Lopez, Lauren Bacall, Judi Dench, Sharon Stone, Matt Damon, Antonio Banderas – und wie sie alle heißen – haben zugesagt. Anlass genug für Dieter Kosslick zu behaupten: "Es ist genug Starpower in der Stadt." Warum die Filme dieses Jahr so spät wie nie bekannt gegeben wurden, lässt sich für ihn leicht beantworten: "5.000 Bewerbungen. 400 Filme haben wir ausgewählt. Und wir leben in Deutschland, das heißt, Eingangsstempel, Filmlagerstempel usw. Das dauert seine Zeit. Davon abgesehen, jeder von den 5.000 Bewerbern meldet sich einmal am Tag. Dazu noch die E-Mails." Man kann sich ein Bild davon machen.

Wie jedes Jahr gibt es auch auf der Berlinale 2007 einige Neuerungen. Das Kinderfilmfest heißt jetzt "Generation". Für das beste Erstlingswerk eines Regisseurs warten statt 25.000 wie im letzten Jahr 50.000 Euro auf den Gewinner. Essen und Kino gehören neuerdings zusammen. Eine Gossip Station für offiziellen Klatsch und Tratsch ist eingerichtet. Die Liste lässt sich fortsetzen. Auffällig ist in diesem Jahr vor allem, dass so viel französische Filme laufen, Deutschland jedoch nur zwei in den Wettbewerb schickt. Auch darauf weiß Dieter Kosslick sofort eine Antwort: "Ich bin vor kurzem zum Ehrenlegionär geschlagen geworden, das stand da so drin." Nein, Fakt ist für ihn, dass sich die Deutschen profiliert und deutsche Schauspieler ihren Weg in zahlreiche internationale Produktionen gefunden haben. Da fiel die Wahl leicht auf den Eröffnungsfilm "La vie en Rose", weil er ein Film zum Mitsingen sei.

Das Ende der Pressekonferenz ist eingeläutet, als Kosslick verkündet: "Schließt die Türen. Ich muss die Sponsoren noch nennen." Dann steht er auf, definiert die Farbe seines Anzugs als "Schlamm", die seines Schals als "Malve" (sprich: mo:f) und beginnt Schokolade an die Fotografen zu verteilen. "Nach Berlinale" schmeckt sie, verrät eine Fotografin. Zuletzt ein Rat vom Berlinale-Chef: "Tauschen Sie Ihre Tasche. Die vom letzten Jahr riecht immer noch."
 

© POTZDAM 2001-2007