Berlinale 2013
Inhalt
 

Publikumstag
17. Februar 2013
Von Astrid Mathis

Panorama
The Broken Circle Breakdown
(flämisch)

Der beste Film

Am Ende schaffe ich es doch noch, den besten Film der Berlinale zu sehen. Es ist der Panorama-Publikumspreis. Radioeins-Moderator Knut Elstermann schwärmt schon vorher, die Zuschauer hätten so viel geweint und gelacht in dem Film "The Broken Circle Brakdown". Er gratuliert dem Hauptdarsteller Johan Heldenbergh, der außerdem ein grandioser Musiker ist. Und sehr bescheiden. Nie hätte er gedacht, auf der Berlinale einen Preis zu gewinnen mit dieser Geschichte um den Tod eines krebskranken Mädchens. Weil ihn das Publikum gewählt hat, ist es für ihn der wichtigste Preis überhaupt. "Und was ist das Hauptthema, würdest du sagen?" hakt Knut Elstermann nach, "Liebe?" - "Dass du Trauer nicht teilen kannst", erwidert Johan oder anders gesagt - er zitiert den Titel eines Liedes - "If I needed you would you come to me" (Wenn ich dich brauche, kommst du dann zu mir?).

Der Film gewinnt allein wegen seiner besonderen Struktur. Er beginnt mit Countrymusik, zeigt Didier inmitten seiner Band. Im Krankenhaus, Didier (Johan Heldenbergh) und Elise (Veerle Baetens) werden zum Arzt gerufen, ihre Tochter Maybelle lacht indessen über eine Kindersendung. Was der Arzt mitteilt, ist nicht zu hören. Elise sagt hinterher: "Geweint wird zu Hause, im Krankenhaus sind wir positiv." Mein Gott, ist diese Frau stark! Schnitt zur offensichtlich ersten Nacht zwischen dem Liebespaar. Elise läuft im Morgengrauen hinter ein paar Hühnern her auf diesem Hof des Countrysängers und teilt mit ihm später das Bett. Unter der Decke tuscheln sie: Warum spielt er Banjo? Warum hat sie so viele Tattoos? Die Antwort bleibt sie erst mal schuldig. Elise fährt auch nur weg, um wiederzukommen. Hinter den Tattoos verstecken sich übrigens ehemalige Liebhaber, die sie generös selbst übersticht. Wieder Krankenhaus. Elise schenkt ihrer Tochter eine Kette mit einem Kreuz, die sie von ihrer Mutter hat und die Maybelle einmal ihrer Tochter geben soll. Didier steht mit den Tränen kämpfend trotzig daneben. Er glaubt nicht an Gott, aber das erfahren wir erst später, nachdem wir gesehen haben, dass er weggelaufen ist, als er von der Schwangerschaft erfuhr und nachdem Maybelle verzweifelt weinend einen schwarzen Vogel in den Händen hält, der gegen das Terranda-Dach flog und verstarb. Didier tut sich schwer damit, ihr in dem Moment zu sagen, dass die Seele jetzt im Himmel ist. Was tot ist, ist tot. Die Chemotherapie hat nicht geholfen. Maybelle braucht neue Stammzellen, muss dafür aber vorher einer noch schlimmeren Chemotherapie ausgesetzt werden. Die Chancen stünden gut, behauptet der Arzt.

Trotzdem schafft sie es nicht. Elise war auch nur die Starke, solange sie ihre Tochter in den Arm nehmen konnte. Ab jetzt springt die Geschichte zwischen dem Moment, in dem Didier hinter dem Krankenwagen mit Elise herfährt, Konzertausschnitten der beiden Countrysänger und der Zeit der Trauer, die sie nicht bewältigen können, die sie einander nicht ertragen lässt. "Und wenn ich glaube, dass mir meine Tochter in einem Vogel wiederbegegnet oder in einem Schmetterling auf meiner Schulter oder in einem Frosch, dann ist das so", erklärt Elise wütend. Da nennt sie sich längst "Alabama" und hat das Tattoo "Didier" mit einer Waffe überstochen. Am Ende sitzt Didier am Feuer vor seinem Haus und sieht dem Hund zu, wie er hinter den Hühnern herjagt. Musik und Schluss.

"Ich kann noch immer nicht das Ende sehen", erzählt Johan Heldenbergh. Seit 11 Jahren hat er ein Kind und damit erfahren, dass er nicht nur für sich selbst Verantwortung trägt, sondern auch, wie groß die Angst um das geliebte Wesen ist. Die Countrymusik versteht er als ehrliches Genre, das meist traurige Geschichten erzählt, von dem Verlust der Mutter oder von einer unglücklichen Liebe. Die CD zu diesem Film ist seit Wochen auf Platz 1. Zu recht.

Nun muss man aber endlich mal sagen, dass dieser Film kein reiner Heulfilm ist. Die Geschichte hat auch ihre heiteren Episoden und nimmt den Zuschauer mit auf die Reise einer ganz großen Liebe. So mitgenommen zu werden, das hat man selten.

FAZIT

In 23 von 42 Berlinale-Filmen, die ich gesehen habe, ist jemand gestorben, und das waren meistenteils die stärksten Filme.

 

Zehnter Tag
16. Februar 2013
Von Astrid Mathis

Was habe ich mich aus dem Bett gequält nach der Teddy-Party in der Station am Gleisdreieck! Wo ich Martha Wainwright noch zu ihrer tollen Dokumentation "Sing me the songs that say I love you" für ihre verstorbene Mutter gratuliert und Klaus Wowereits Anzug gestreift habe. Es ist zehn nach halb neun. Für den Publikumstag morgen brauchen die Journalisten Tickets, doch - Schreck lass nach - das System funktioniert nicht. Nirgendwo. Die Schalterfrau sagt ehrlich, sie wisse nicht mal, ob es heute überhaupt wieder hinhaut. Es gehen die wenigsten. Ich halte eine halbe Stunde im Stehen durch, dann setze ich mich mit meiner Zeitungssammlung auf den Boden. Ein Schaltermann kommt vorbei und verteilt selbstgebackene Kekse, ein Mädel bringt Schweizer Schokolade. Ich überlege, ob ich nicht doch das Warten sein lasse und mich an den Computer setze, da schlägt es zehn Uhr, und der Ticketverteilung steht nichts mehr im Wege.

Perspektive Deutsches Kino
"Einzelkämpfer"

Sandra Kaudelka war Turmspringerin, als fünfjähriges Mädchen herausgefischt für den DDR-Spitzensport. Ihre Bilder gehen jedem gleichaltrigen Zuschauer unter die Haut. Es sieht erst mal alles so friedlich aus, wie der Chor singt. Sie hat vier Sportler gefragt, ob sie ihr bei der Arbeit an ihrem DFFB-Abschlussfilm helfen. Warum sie alle mitmachten, weiß sie nicht genau. "Ich glaube, sie haben mich unterschätzt." Kugelstoßer Udo Beyer auf jeden Fall. Er meinte: "Klar helfe ich dir, Kleene. Kommste mal vorbei in meinem Reisebüro." Er hatte meist nur eine Stunde Zeit, aber das half. Brita Baltus war ihr Vorbild im Turmspringen. Marita Koch wollte sie unbedingt - die einstige Spitzensportlerin hält bis heute den Rekord über 400 Meter. Für sie lief es doch gut. Sie stellte aber von vornherein klar, dass Doping kein Thema in der Doku sein sollte. Nur so viel: Nach der Premiere gab sie preis, ihr sei etwas angeboten worden, das sie nicht angenommen habe. Sprinterin Ines Geipel teilt die Erfahrung des Drills mit der Regisseurin. Kaudelka hatte sogar im Sportinternat mal gestreikt. "Aber wir waren junge Mädchen und haben das nicht lange durchgehalten."
Der Moderator im Colosseum an der Schönhauser Allee ist tief bewegt, seine Stimme zittert. Sandra Kaudelka hat viele bewegt und ein starkes Stück Doku-Filmgeschichte geschrieben.

Preisverleihung

Es gewinnt "Child's Pose" (Die Stellung des Kindes), der Montagmorgen-8 -Uhr-30-Film, und das ist keine große Überraschung. Auch alle anderen Filme, von denen ich etwas halte, haben einen Preis bekommen. Nur den Alfred-Bauer-Preis verstehe ich nicht. Dieses Frauen-Bärenfallen-Drama, das einem der Regisseur hinwirft wie Knochen von verschiedenen Tieren, die man zusammensetzen soll. Begründungen gibt es keine mehr, nur "sie haben was gewagt". Na, danke. Bisher hat diesen Preis immer der beknackteste Film bekommen. Die Berlinale bleibt sich treu. Auch mit einem Jury-Präsidenten wie Wong Kar Wai. Wenigstens konnte die Kanadierin Anne-Christine Roger mal richtig aus sich rausgehen, als während der Live-Übertragung im Cinemaxx 3 der "Vic und Flo haben einen Bären gesehen"-Film einen Preis absahnte. Absolutes Stillschweigen von ihren Kollegen, während sie ihre Haare warf, die Arme nach oben riss, aufsprang und wie verrückt kreischte. "Der Titel war Konzept", meinte Regisseur Denis Côte knapp. Ja, der Titel war das Beste.

Frenetischen Jubel gab es allerseits erst, als Regisseur Andreas Dresen freudestrahlend den Preis an die beste Schauspielerin, nämlich Paulina Garcia, weiterreichte, die ablolute Sympathieträgerin des Festivals.

 

Neunter Tag
15. Februar 2013
Von Astrid Mathis

Wettbewerb
"The Croods"
(Animationsfilm/USA/außer Konkurrenz)

"The Croods", eine Vorvariante der Feuerstein-Familie, habe ich nicht gesehen, weil der Film eh in die Kinos kommt. Doch in die Pressekonferenz habe ich schon mal reingelauscht. Emma Stone erklärte, diese Geschichte hätte einfach alles, sie wäre lustig und herzergreifend, erzähle von alltäglichen und besonderen Dingen. Wichtig bzw. auffallend sei, das bemerkte Nicolas Cage, dass die Szenen, in denen geschwiegen wird genauso lang sind wie die, in denen gesprochen wird. Ein Journalist fragt ihn, was er machen würde, wenn jetzt die Welt unterginge. Gegenfrage: "Singen und Tanzen vielleicht. - Was habe ich noch nicht gemacht?" Uwe Ochsenknecht meint, er hoffe, er hätte noch ein, zwei Jahre.

Pressekonferenz "The Croods",
u.a. mit Emma Stone, Nicolas Cage, Uwe Ochsenknecht und Kostja Ullmann

Wettbewerb
"Elle s'en va"
(französisch)

"On my way" oder "Ich bin dann mal weg"

Catherine Deneuve spielt eine Restaurantbesitzerin, die mit ihrer äußerst agilen Mutter zusammenlebt. Und fast möchte man sich wundern, wie so was möglich ist, wenn die Tochter die 60 erreicht hat, da fangen die beiden schon einen Streit wie aus dem Nichts an. Am Ende flüchtet Bettie (Catherine Deneuve) ins nächste Zimmer und raucht heimlich. Schuld daran ist ja nur, dass ihr Geliebter sie verlassen hat. Am nächsten Tag verabschiedet sich Bettie zum Zigarettenholen, aber sie tritt zu Musik von Rufus Wainwright ("I don't know where I'm going when I don't know that I'm walking") aufs Gas. In einem Dörfchen fragt sie einen alten Mann nach Zigaretten. Er bittet sie in die Küche und dreht ihr eine. Aber wie lange er dafür braucht?! Es ist die wohl schönste Szene im Film. Bettie wartet aufgeregt und bewundernd zugleich, sie hört auf die Liebesgeschichte des Mannes, der erzählt, seine Liebste wäre mit 21 an Tuberculose gestorben. Danach hätte er auf ihren Rat hin ein ruhiges Leben geführt.

Bettie will aber offensichtlich kein ruhiges Leben. So landet sie zuerst in einer Bar und zu guter Letzt im Bett eines Typen, der ihr Sohn sein könnte und ihr ein tolles Kompliment macht: "Du warst sicher mal wunderschön." Sie war Miss Bretagne, klärt sie ihn auf. Dann flieht sie zurück auf die Landstraße, holt ihren Enkel von ihrer Tochter ab, zu der sie ein unterkühltes Verhältnis zu haben scheint. Doch immerhin, Enkel und Oma werden bald warm miteinander. Bettie fährt mit ihm sogar zum Treffen ehemaliger Miss-Wahl-Siegerinnen von 1969. Eine ganz typisch französische Komödie, die sehr unterhaltsam ist.

Pressekonferenz

Die Deneuve raucht heute nicht. Nein, das hat sie sich abgewöhnt, seitdem sie gesehen hat, dass das einzige Bild in der Zeitung dann eins mit einer Zigarette ist. Sie ist eine Diva. Sie darf alles, auch nicht rauchen. Die Regisseurin des Films Emmanuelle Bercot himmelt sie an. Nur weil die Deneuve die Deneuve ist, gibt es überhaupt diesen Film. Einer der Journalisten will sich mit dieser Antwort nicht zufrieden geben und hakt nach, ob nach Hanekes Erfolg mit "Liebe" das Thema Liebe im Alter ein Thema geworden sei. Er redet nun auch noch von Senilität und archäologischen Museen. Die Bercot lacht sich einen Ast, und die Deneuve meint, bei "Museen" und "senil" könne sie ihm nicht mehr folgen. Wahrscheinlich war das der Moment, in dem sie sich spätestens eine Kippe angesteckt hätte. Aber die Fragen werden leichter. Warum sie einen BMW fahre zum Beispiel. Das wollte die Regisseurin, etwas Solides und Zuverlässiges. Dafür seien die Deutschen doch bekannt, nicht wahr? Nächste Frage: "Finden Sie es schwierig zu altern - als Frau und als Schauspielerin?" Ja, das findet Catherine Deneuve sehr schwierig, gibt sie unumwunden zu, und natürlich hält sie die Liebe im Alter für möglich. Die meisten Glücksmomente datiert sie aber auf ihre Kindheit, "weil man sorglos ist als Kind." Später seien es weniger Augenblicke. Nicht, dass ein falscher Eindruck entsteht, sie ist durch und durch Optimistin und freute sich, einen humorvollen Film zu drehen. Wetten, dass sie sich nach der Pressekonferenz eine Zigarette angesteckt hat?

Retrospektive
"
To be or not to be" - "Sein oder Nichtsein"
(USA, Regie: Ernst Lubitsch)

Ein Juwel. Nach Chaplins "Diktator" und "To be or not to be" (1942) kommt erst mal ganz lange nichts, was man als würdige vergleichbare Parodie über Hitler bezeichnen könnte. Die Komödie, die an Sarkasmus und Ernsthaftigkeit nicht zu überbieten ist, lebt von ihrem Tempo. Theaterregisseure bemühen sich seit Jahren, einen Hauch von diesem Film auf die Bühne zu katapultieren. Vergebens.

Dabei beginnt die Geschichte ziemlich simpel im Jahre 1939 in Warschau. Dort probt das Theaterensemble ein antifaschistisches Stück, bis es aus Angst vor dem Hitlerregime durch "Hamlet" ersetzt wird. Die Hauptrolle spielt Joseph Tura, dessen Ehefrau Maria auf den Flirt eines jungen Fliegers, Stanislaw Sobinski, eingeht und ihn bittet, den Saal zu verlassen, sobald ihr Mann sagt: "Sein oder Nichtsein". Das Verschwinden des Fliegers aus der 2. Reihe wiederum betrachtet Joseph Tura als Respektlosigkeit. Und das ist erst der Anfang. Letzten Endes spielt das gesamte Ensemble Besatzer, und wie die Akteure aus der Geschichte lebend rauskommen, muss man auf der Leinwand einfach gesehen haben.

Forum
"Vaters Garten - Die Liebe meiner Eltern"
(Schweiz)

Als Peter Liechti seinen Vater 2010 zufällig beim Einkaufen traf und beide nicht wussten, wie sie reagieren sollten, kam ihm die Idee einer Dokumentation. Sohn und Eltern war vermutlich nicht klar, auf was sie sich da eingelassen hatten. Jahre filmte Liechti seine Eltern im Alltag. Die Interviews ließ er von Hasen-Handpuppen nachspielen. Dabei erzählen sie von ihren Auffassungen: Der Vater hat seinen Garten gern ordentlich. (Er führt täglich Protokolle, aber mit 90 will er das Gärtnern sein lassen, weil das nicht normal wäre.) Die Mutter findet Ablenkung im Gemeindekreis, wohin er zu Anfang nur ihr zuliebe mitging. Ihre Freiheit habe sie über den Glauben gefunden und so auch die Depression überwunden. Sie seien ganz verschieden, stellt die Mutter fest und betont immer wieder, wie gern sie ihren Mann hat. Der meint, Frauen könnten leichter über Gefühle reden als Männer. Die Mutter, die gern liest und gern gereist wäre auf der einen Seite, der Vater, der gern in Gesellschaft und am liebsten zu Hause ist auf der anderen. Wenn er sagt, dass kein Griff an die Wanne muss, weil mit den zwei Löchern die Nachmieter Ärger machen würden, dann ist das so, auch wenn die Mutter schon mehrmals ausgerutscht ist. Er trägt auch zeitlebens dieselbe Frisur. Mit seiner Weltsicht ist er klar für die komischen und bitteren Momente im Film verantwortlich, mehr als seine Frau. "Er ist vor meinen Ansprüchen geflohen", sagt sie. Und er findet: "Die Frau darf ihre Meinung sagen, aber der Mann hat das Sagen."

Wenn es um Gott geht oder seine Schwester zu Besuch kommt oder ihm richtig was zusetzt, lässt Peter Liechti schräge Töne eines Saxophons erklingen. Zum Beispiel, wenn er seine Mutter und Schwester fragt, wo er denn hinkäme, wenn die beiden in den Himmel kämen. Blicke. "Ich bete, du kommst auch in den Himmel", meint die Mutter schließlich.

Eine sehr humorvolle und einfühlsame Studie über ein Paar, das 65 Jahre verheiratet ist.

 

Achter Tag
14. Februar 2013
Von Astrid Mathis

Wettbewerb
"Uroki Garmoni"
(kasachisch)

Von harmonischen Unterrichtsstunden kann nicht die Rede sein, aber das kann man sich schon denken, wenn das erste, was man sieht, ein Junge ist, der im tiefsten Winter einem Schaf nachrennt, es dann schlachtet und ausnimmt. Der Held des Films - Aslan - lebt bei seiner Großmutter und quält Kakerlaken so, wie seine Schulkameraden ihn quälen. Nach einem gemeinen Streich während der Schuluntersuchung lassen sie ihn zwar in Ruhe, aber seine Klassenkameraden werden von einer Schülermafia gezwungen, ihn zu meiden. Deren Anführer ist Bolat. Das ist dem Neuen aus der Stadt egal, er setzt sich zu ihm und wird sein Verbündeter. Nach einem Streit, bei dem die beiden zusammengeschlagen werden, weil sie ihr Geld nicht abgeben wollen, findet die Polizei den Anführer tot auf. Einer von ihnen muss es getan haben. Mit brutalen Mitteln versuchen die Polizisten, herauszufinden, wer der Täter ist, und setzen damit die Mafiazustände fort. Doch die Jungen schweigen. Ein starker Film mit einer außergewöhnlichen Kameraarbeit.

Retrospektive
"Ein Sommernachtstraum"
(USA: Max Reinhardt / William Dieterle)

Jetzt mal ehrlich: Nach so viel schwer Verdaulichem muss ein Klassiker her. Und was für ein Geschenk aus dem Jahr 1935 hat die Berlinale mit diesem Film allen Kinogängern gemacht! Olivia de Havilland gibt als Hermia ihr Leinwanddebüt, weil die eingeplante Gloria Stuart (die erst als alte Rose in James' Camerons "Titanic" 1997 zu Weltruhm gelangte) erkrankt war. 20000 Menschen hatten das Stück gesehen, das dieser Verfilmung vorausging. Alle Charaktere legen ihre Einstellung zueinander schon beim Einstieg in den Gesang bloß. Die Spezialeffekte sind reizend, die Kostüme ein Traum (das Schlangenkleid von Hippolyta ist Wahnsinn), das Tempo ist sagenhaft, die Musik Rhythmus gebend. Ist ja auch Felix Mendelssohn zu verdanken. Das sind noch richtig gute Regieeinfälle. Nie hätte ich gedacht, über den Auftritt der Handwerker beim Hochzeitsfest von Hippolyta und Theseus nach unzählig gesehenen Varianten so lachen zu können. Als Thisbe nach einem Schwert ruft, um sich selbst zu töten, suchen ihre Handwerkerkollegen hinter der Bühne nach einem eben solchen, während der längst verstorbene Pyramus ihr seines sehr lebendig zureicht. Das ist ein Schwert zu viel. Sehenswert ist der Film außerdem wegen der energiegeladenen Darstellung des Puck. Mickey Rooney, der aus einer Artistenfamilie stammt und später an der Seite von Liz Taylor und Judy Garland brillierte, spielt sich damals 15-jährig in die Herzen der Zuschauer. Gucken!

Panorama
"Reaching for the Moon"
(englisch/portugiesisch)

Ein Frauengemälde

Dieser Film macht eindeutig Werbung für Rio de Janeiro, was allein die minutenlang eingeblendeten Sponsoren belegen. Aber er macht Rio auch noch aus einem anderen Grund interessant. Denn in diesem Film erfahren wir nicht nur, wer die amerikanische Lyrikerin Elizabeth Bishop zu ihren Gedichten inspirierte, sondern auch die Vorgeschichte zum Bau des Parque do Flamengo, der heute noch zu bewundern ist. Doch der Reihe nach.

Elizabeth Bishop (wunderbar vielschichtig gespielt von Miranda Otto) besucht 1951 ihre Schulfreundin Mary (Tracy Middendorf) in Rio, die mit ihrer großen Liebe, der Architektin Lota de Macedo Soares (Gloria Pires) zusammen ist und dafür sogar den Bruch mit ihren Eltern in Kauf nimmt. Mary spürt, dass zwei gegensätzliche Charaktere aufeinander prallen: Lota ist immer zu direkt und Elizabeth immer zu zurückhaltend. Trotz der verschiedenen Welten, die sich hier begegnen, ist klar, dass die beiden ein Paar werden müssen. Ein schwerer Schlag für Mary, die ihre einzige Chance, Nähe zu bewahren, darin sieht, auf dem Grundstück mit einem angenommenen Kind weiterzuleben. Ein Kind, für das Lota die Oma und Elizabeth die Tante spielen will. So das Angebot von Lota. Alles scheint möglich. Lota sprengt mal so eben einen Berg auf ihrem Anwesen weg, um Elizabeth einen hellen großen Raum für ihre literarische Arbeit zu geben. Und ist letztlich nicht ganz unschuldig am lyrischen Werk ihrer Geliebten, das sogar mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnet wird. Sie sagt: "Wenn ich habe, was ich will, habe ich Angst, es zu verlieren. Als Lota sich ihrem neuen Projekt, der Gestaltung des Parque do Flamengo, zuwendet und weniger Zeit mit Elizabeth verbringt, verfällt diese dem Alkohol. Schließlich geht Elizabeth zurück nach Amerika, um Literatur zu unterrichten.

Der Film von Bruno Baretto holt nicht nur die 50er Jahre auf die Leinwand, sondern rückt zwei starke Frauen ins Rampenlicht, die ihre Zeit geprägt und literarischen wie auch architektonischen Reichtum hinterlassen haben, die von Rio geprägt waren und von einer Liebe, die einfach in die Brüche gehen musste.

 

Siebenter Tag
13. Februar 2013
Von Astrid Mathis

Wettbewerb
"An Episode in the Life of an Iron Picker" -
"Eine Episode in dem Leben eines Schrottsammlers"
(bosnisch)

Ob ich die wacklige Handkamera aushalte, weiß ich anfangs noch nicht, aber was da erzählt wird, ist zu gut in seiner Schlichtheit, da nehme ich die Kamera in Kauf. Es ist Winter. Nazif und Senada leben ein bescheidenes Leben in ihrem Dorf mit ihren zwei Töchtern, dort, wo nur Roma zu Hause sind. Senada macht die Wäsche, versorgt die Kinder, Nazif zerlegt Autos und holt sich das Geld für den Schrott ab. Eines Tages bekommt Senada so starke Bauchschmerzen, dass sie ins Krankenhaus muss. Nach der Untersuchung wissen sie: Das Kind in ihrem Leib ist tot und muss dringend raus. Das kostet aber 950 Euro ohne Versicherung, und weil die beiden die Summe nicht aufbringen können, werden sie weggeschickt. Zu Hause leidet Senada still auf dem Sofa, während Nazif nach einer Lösung sucht, Müllhalden durchstöbert, im Verein für Roma-Frauen vorspricht. Noch einmal fahren sie ohne Geld ins Krankenhaus, als es Senada schlechter geht. Wieder nichts. Überall bemüht sich Nazif, letztlich rettet eine geliehene Versicherungskarte. Ein Betrug. Roma wird nicht geholfen.

Diese Geschichte ist wahr. Nur die Ärzte sind Schauspieler. Nachdem der Regisseur Danis Tanovic aus der Zeitung von dem Schicksal der beiden erfahren hatte, recherchierte er und bat dann Nazifs Familie, noch einmal durchzuspielen, was sie erlebt hat. In der Pressekonferenz hält Senada einen kleinen Jungen auf dem Arm. Regisseur Danis Tanovic hat einen wichtigen Film gemacht, der nie aufdringlich wirkt, obwohl die Ungerechtigkeit zum Himmel stinkt.

Wettbewerb
"Prince Avalanche"
(USA)

Zwei wie Feuer und Wasser

1988. Zwei Männer im Wald. In Texas hat es verheerend gebrannt, und jetzt ist es die Aufgabe von Alvin (Paul Rudd) und Lance (Emile Hirsch), die Fahrbahnmarkierung aufzuhübschen. Klingt nicht so aufregend, ist aber sehr unterhaltsam. Alvin hat Lance nämlich nur angeheuert, weil er der Bruder seiner Freundin Madison ist. Für die verdient er weit weg von daheim das Geld. Für Lance ist es eine Strafe, mit Alvin zu arbeiten, denn der hört nicht nur lieber einen Deutschsprachkurs als Rockmusik, nein, er hat auch kein Verständnis dafür, dass Lance endlich eine Frau flachlegen will und dem Wochenendspaß entgegenfiebert. Klar, dass es zwischen den Männern knallt, als Alvin herauskriegt, dass Lance einen Brief von Madison gelesen hat, in dem sie Schluss macht. Alvin muss sich nicht mehr um einen guten Ton bemühen, jetzt kommen die Karten auf den Tisch, und die Männer stellen fest, dass sie sich allerhand zu sagen haben. Sie jagen sich durch den Wald und haben merkwürdige Begegnungen, mit einem alten Trucker und einer alten Frau, die in einem niedergebrannten Haus nach ihrem Pilotenschein sucht.

Der Film von David Gordon Green ist ein Remake einer isländischen Komödie von 2011, und zwar ein gutes. Dass ihn Wim Wenders "King's of the Road" inspiriert hat, verwundert ein bisschen, vielleicht hat er Alvin deshalb auf den Deutschkurs gebracht. Diese Qualität eines Märchenwaldes, einer geisterhaften Landschaft verbindet sich mit starken Dialogen zu einem gelungenen Film.

Pressekonferenz

Emile Hirsch hat es als Naturbursche geliebt, mal so richtig nervig zu sein. Der Dreh war Gottseidank nicht so lang. Paul Rudd fühlte sich jeden Tag, als wären sie auf einem Campingplatz. Und David Gordon Green plaudert aus, dass er den Trucker entdeckte, als er eine Werbung drehte. Lance LeGould war der lauteste und hörte drei Tage nicht auf zu reden, als Green ihn ansprach. Dieser Mann spielte in 15 Filmen an der Seite von Elvis Presley und hatte keine Lust, eine Rolle vorzusprechen. "Ich sing' dir lieber ein Lied", hatte er gesagt und war so im Film gelandet. Zu schade, dass er inzwischen verstorben ist. Solche Typen braucht das Kino.

Nach der PK gab Paul Rudd Autogramme und beantwortete weiter Fragen.

Wettbewerb (außer Konkurrenz)
"Nachtzug nach Lissabon"

Was geschieht mit dem Rest?

Jeden Tag dasselbe. Aufstehen, Schachspielen, zur Schule. In dem Leben von Lateinlehrer Raimond Gregorius (Jeremy Irons) passiert nichts Aufregendes, bis er eines Morgens im Regen eine Frau auf der Brücke sieht, die kurz vor dem Absprung steht. Er nimmt sie mit in die Schule, aber kaum ist sie da, verschwindet sie. Ihren roten Mantel lässt die geheimnisvolle Fremde zurück. Darin ist ein Buch von Amadeu de Prado. Das passt zusammen. Rot der Mantel - wie die Liebe, wie die Fahne der Revolution. Dabei war Amadeu mehr ein Denker als ein Revolutionär. Raimond saugt geradezu auf, was er liest - dank Wörterbuch, und er steigt auch in den Zug nach Lissabon, für den Tickets im Buch liegen. Was verpasst er denn schon? Er will mehr über diesen Philosophen und Arzt wissen, der ihn so berührt und taucht ein in ein altehrwürdiges Lissabon, das den Zuschauer sofort gefangen nimmt. Die Schwester Adriana (Charlotte Rampling) sucht er als erstes auf. Sie erzählt von ihrem Bruder, als würde er noch leben, und zeigt ihm seinen Lieblingsraum. Alles voller Bücher.

So langweilig das Leben des Lateinlehrers bis zu der Entdeckung des Buches war, so anregend ist für ihn de Prados Frage: "Wenn wir nur einen Teil des Lebens leben, das in uns ist, was passiert dann mit dem Rest?" Raimond beschäftigt sich nicht mit seinem Leben und ist deshalb auch so vernarrt in die Geschichte um Amadeu, der an der Seite seines Freundes Jorge zum Revolutionär wird. Bei seiner Recherche stößt der Lehrer nur auf kleinen Widerstand. Martina Gedeck spielt Optikerin und Nichte von Joao, der ebenfalls der Widerstandsgruppe angehörte. Nur Jorge (Bruno Ganz), einst Amadeus bester Freund, will erst mal nicht über die Vergangenheit reden. Wie unbedeutend kommt Raimund sein Leben im Vergleich zu dem de Prados vor?! Und wie sehr muss er über sein eigenes nachdenken.

Stück für Stück setzt Gregorius das Puzzle um die Zeit vor und nach dem Sturz der Salazar-Diktatur im Revolutionsjahr 1974 zusammen, das eine Lebens- und Liebesgeschichte verbirgt, wie sie der Romanautor Pascal Mercier vorgelegt hatte.

Pressekonferenz

Bille August, Martina Gedeck und Jack Huston

Nein, Regisseur Bille August wollte keinen politischen Film machen, vielmehr einen schönen und geschichtsträchtigen, der von seinen Stars lebt. Da macht es nichts, dass die deutschen Schauspieler wie August Diehl, Bruno Ganz und Martina Gedeck Englisch mit portugiesischem Akzent reden. Es hatte drei Jahre gedauert bis zum ersten Drehtag, offensichtlich galt es eine Menge Leute zu überzeugen. August wollte die Natürlichkeit des philosophischen Stoffes bewahren und gab Textpassagen aus dem Off von Jack Huston gesprochen rein, der als poetisch-philosophischer Aufrührer überzeugt. Vielleicht liegt es an der genauen Recherche über die Zeit und die Menschen von damals, das ihm seine Rolle wie auf den Leib geschneidert zu sein scheint. Der Brite Jeremy Irons las den Roman erst, nachdem er das Drehbuch angeboten bekommen hatte, und stellte fest, dass viele seiner Freunde das Buch kannten und davon schwärmten. Endlich konnte Irons mit Martina Gedeck drehen. Ihr Part wurde vergrößert, was die Schauspielerin zugegegebenermaßen freute. Irons wiederum war es eine Freude, nach 20 Jahren wieder in Lissabon zu sein, in das er sich vor langer Zeit verliebt hat. Und gerne würde er dort weiterdrehen, "Nachtzug nach Lissabon 2" zum Beispiel. Ein offenes Ende gibt es ja praktisch nicht: "Wenn Martina fragt, ob man bleiben möchte...", sagt der Brite und muss den Satz gar nicht beenden. Es muss der Himmel sein, an der Seite von Martina Gedeck spielen zu dürfen. Vielleicht erklärte Irons den Film auch deshalb zum glücklichsten, den er seit langem hatte.

Mélanie Laurent, Jeremy Irons und Bille August

Martina Gedeck

Bille August scheint nach der PK erleichtert zu sein.

Publikumsnah - Mélanie Laurent posierte gern mit Fans

  

Sechster Tag
12. Februar 2013
Von Astrid Mathis

"Side Effects - Nebenwirkungen"
(USA)
 
Arzt in Bedrängnis

Der Regisseur Steven Soderbergh sieht irgendwie zerknirscht aus, wie er da auf dem Podium sitzt. Er merkt, dass sein Film "Side effects" die Presse nicht umgehauen hat. Enttäuschung auf beiden Seiten. Der Film handelt von einem Tablettenskandal. Eine junge Frau holt ihren Mann vom Gefängnis ab. Vier Jahre waren sie getrennt. Jetzt kommt sie mit seiner Rückkehr nicht zurecht. Nach einem Selbstmordversuch behandelt die junge Frau Jonathan Banks (Jude Law), der außerdem noch Tablettentester zu Forschungszwecken ist, und verschreibt ihr Antidepressiva, spricht mit ihrer früheren Ärztin Victoria Siebert (Catherine Zeta-Jones). Emily steht immer öfter völlig neben sich, schlafwandelt und tötet letztlich ihren Mann (Channing Tatum) dabei. Jude Law steht in ihrer Schuld, seine Patientin gilt als unzurechnungsfähig, und er hat seinen guten Ruf und den Job als Tester verloren, für den es extra Geld gab. Seine Kollegen sind mit in Verruf geraten. Seine Frau schiebt die Besessenheit von dem Fall auf Laws Faszination für das Mädchen. Doch er ahnt, es steckt mehr dahinter. Er soll Recht behalten.

Der psychologische Thriller mit einer Vielzahl von Wendungen nimmt einen schon mit auf die Reise, zuerst aus Emilys Blickwinkel, dann aus dem des Arztes. Überraschungseffekte sind bei den Nebenwirkungen ja zu erwarten, und unterhaltsam ist der Film allemal. Nur der Knalleffekt bleibt aus.

Die Pressekonferenz

Vor zehn Jahren begann Steven Soderbergh mit der Recherche zu dem Film in verschiedenen psychiatrischen Einrichtungen in New York. Zum fünften Mal ist er Gast auf die Berlinale. Seine größte Herausforderung bei dem Film waren die ersten 45 Minuten. "Den 1. Akt aufzubauen." Die Hauptdarstellerin Rooney Mara weiß auf die Frage nach Herausforderungen während der Dreharbeiten keine Antwort, zuckt die Schultern, wirkt gleichgültig. "Es gab keine", sagt sie noch. Dann kommentiert Soderbergh: "Offensichtlich diese Pressekonferenz." Danach hat keiner mehr Lust, Rooney Mara noch irgendwas zu fragen. Als der Thriller an Hitchcock angelehnt erklärt wird, meint Soderbergh, es sei immer die Schuldfrage das Interessanteste und in diesem Fall die Übertragung der Schuld von einem auf den anderen. Jede Veränderung des Blickwinkels bildet den Auftakt für einen neuen Akt. Einem der Journalisten lässt es jetzt doch keine Ruhe, Jude Law, der mit seinen unterschiedlichen Gesichtsausdrücken für Unterhaltung sorgt, in die Geschichte so wehrlos hineingezogen zu sehen. "Sie sind zu ruhig", behauptet er, woraufhin Law charmant "sorry" erwidert. Wie seine Erfahrung mit Tabletten ist, das heißt, mit dem Umgang in Amerika und England, mal so zum Vergleich, will einer wissen. Da könne er nicht mitreden, erklärt er: "Ich nehme nicht mal Kopfschmerztabletten." In Vorbereitung auf den Film traf er sich mit Ärzten und Patienten. Seine größte Herausforderung war es eben, Dr. Banks zu werden.

Ach Jude, sei doch einfach du selbst.

Grimassenschneider Jude Law:

Fleißig beim Schreiben von Autogrammen:



Jude Law

Steven Soderbergh


Wettbewerb
"Camille Claudel 1915"
(französisch)

Von der Sehnsucht nach Freiheit

Ihre Haare sind zerzaust, sie hat dem Zuschauer den Rücken zugewandt und wird im nächsten Moment ins Bad gezerrt. Zwei Schwestern waschen sie. Schon der erste Blick von Juliette Binoche, die in die Rolle von Camille Claudel schlüpft, verrät ihre Trauer und ihre Aufruhr allem gegenüber, das ihr widerfährt. Sie darf in den Mauern dieser Irrenanstalt keine selbstbestimmte Frau mehr sein. Ihre Liebe zu Rodin, der sie schon 20 Jahre zuvor verlassen hat, die Angst vor Neidern und einer Vergiftung haben sie da hingebracht, wo sie jetzt ist. Noch dazu als Frau. Mit schäbiger Kleidung, mit keinem Anrecht auf Privatsphäre, mit wenigen Besuchern. Wie sie auf den knorrigen Baum starrt, der seine Äste nach oben reckt, lässt uns ahnen, aus diesem Gefängnis kommt sie nie raus. Doch Camille weiß das noch nicht, sie ist stolz und ungebrochen, bittet um Freilassung. Sie fragt den Arzt immer wieder nach dem Grund ihres Aufenthaltes, ob es ein Verbrechen gewesen sei, als Frau allein zu leben. Ihr einziger Lichtblick ist ihr Bruder Paul, der seinen Besuch angekündigt hat. Sie betet: "Mach, dass es aufhört" und geht mit einem beschwingten "Halleluja" aus der Kirche. Um sie herum sind behinderte Menschen, die sie annehmen wollen, aber sie will gar nicht dazugehören. Rührend die Szene, in der sie die Probe zweier Patienten beobachtet. In einem Moment kann sie darüber lachen, im nächsten bricht sie in Tränen aus. So ist dieser Film ein Leidensfilm, so gut Juliette Binoche auch spielen mag. Besonders leidvoll wird es, als ihr Bruder auftaucht, zu dem sie eine innige Verbindung gehabt haben soll, der aber in seiner übertriebenen und arroganten Art des Glaubens unerträglich unsympathisch wirkt. Er holt sie da nicht raus. 29 Jahre nicht, bis sie stirbt.

Die Pressekonferenz

Man hat dem Film angemerkt, dass Juliette Binoche groß rauskommen soll. Die vielen Nahaufnahmen, das Leiden. Man weiß auch, dass sie einen sofort rührt mit ihrem verlorenen Blick, aber ihr letzter Film auf der Berlinale ("Elles") hatte mehr, war dezenter. Juliette Binoche mochte die Geschichte von Camille Claudel. Und der Regisseur wollte lieber ein einfaches Motiv, eine simple Geschichte, in der nicht viel passiert, die aber von Juliette Binoche getragen wird. Ihre einzige Freude waren eben die Besuche ihres Bruders. Juliette Binoche wollte immer schon die einstige Geliebte des Bildhauers Rodin spielen. Sie hat alle Bücher gelesen, verrät sie in der PK. Das Verlassen zu verstehen, nicht mehr bildhauerisch tätig zu sein, nicht mehr zu sprechen, das hat die Binoche empfinden lassen, was Camille Claudel damals empfunden haben muss. Den Film drehte Bruno Dumont in einer echten französischen Anstalt. Die Schauspielerin verbrachte Stunden mit den Menschen dort und mit den Psychiatern, um Verbindung aufzunehmen, wissend, dass Camille anders war, zwischen Kunst und Wahnsinn. Sie wollte unbedingt diese Geschichte erzählen, von der Ungerechtigkeit, mit der Außenwelt nicht kommunizieren zu dürfen. Ihr erstes Buch über die Künstlerin las sie mit 16 Jahren. "Auch wenn der Wahnsinn mir Angst macht, man lebt in einem Zustand der Erkundung", reflektiert die Schauspielerin. Der Bruder hatte keine schöne Rolle, weil er sehr extravagant war in seiner Liebe zu Gott und in seinem Dichtertum und er seiner Schwester nicht half, obwohl ein Arzt empfahl, sie zu entlassen. Trotzdem waren sich die Geschwister sehr nah. Dass ausgerechnet das Jahr 1915 ausgewählt wurde, erklärt der Regisseur sehr einfach. Als Camille ihr Talent auslebt und sich in Rodin verliebt, ist sie 18. Das Alter sollte mit dem Juliette Binoches allerdings in etwa übereinstimmen. "Warum hat sie sich nicht umgebracht?" fragt einer der Journalisten schließlich. "Sie wollte leben", antwortet Juliette Binoche, "sie sah im Selbstmord keine Möglichkeit, auszubrechen. Das Schreiben war ihre Flucht. Außerdem wusste sie ja nicht, dass sie nicht rauskommen würde. Sie hat es immer gehofft."

Berlinale Special
"The best Offer" - "Das beste Angebot"
(Regie: Guiseppe Tornatore)

Das Geheimnis der Frauen

Mann, ist der eitel! Er färbt sich die Haare, er hat eine Kollektion Handschuhe wie andere Leute Schuhkollektionen, er ist unnachgiebig sauer, wenn sein Angestellter Billy (Donald Sutherland) sich ein Gemälde wegbieten lässt. Dieser Mann ist ein Könner im Fach Auktion. Virgil Oldman (Geoffrey Rush) hat seine Welt, in der er die schönsten Frauengemälde hinter einer Tresortür verschließt. Eines Tages gerät diese Welt in Unordnung. Mrs. Claire Ibbotson (Sylvia Hoeks) will den Nachlass ihrer Eltern verkaufen lassen, erfindet aber 100 Ausreden, warum sie bei dem Auktionär nicht auftauchen kann. "Sie sind der Beste", sagt sie in den Telefonhörer. Damit hat sie ihn. Und auch mit der Musik und der Kameraführung hat der Film den Zuschauer sofort. Man will wissen, wer diese Frau in dem großen Haus ist, was daraus werden soll und giert nach jedem neuen Detail im Puzzle. Eine seltene Krankheit namens Agoraphobie zwingt die junge Frau dazu, in ihrem Zimmer zu bleiben. Das berührt den abgeklärten Auktionär. Er will, dass Claire Ibbotson ihm vertraut und muss ihr dafür sein eigenes Vertrauen schenken. Bei dem Tüftler Robert (Jim Sturgess), den er sehr mag, holt er sich Ratschläge, wie er sich dem Mädchen gegenüber verhalten soll. Natürlich, ohne zuzugeben, dass er in dieser Situation steckt, von der er erzählt. Er wird geradezu reizend, beobachtet sie heimlich und wird tatsächlich ihr Vertrauter. Allerdings leidet die Glaubwürdigkeit darunter, denn es widerspricht ihrem Charakter, nach Jahrzehnten ohne menschlichem Kontakt, nachzugeben. Dazu kommt noch: Geoffrey findet Teile eines Gerätes, vielleicht eines Roboters aus dem 18. Jahrhunder, den Robert zusammenbauen soll. Doch Geoffrey erfährt von Roberts Freundin, dass er nur noch von einer Claire spricht.

Der Thriller ist bis zur letzten Sekunde spannend, die Bilder sind ein Genuss, die Schauspieler klasse, die Musik ist vom Altmeister Ennio Morricone. Und das Ganze spielt in Wien. Besser geht's nicht.

Tornatore kratzt sich aufgeregt die Nase - es gibt gar keinen Grund dazu.

Geoffrey Rush zwischen Regiemeister und Musikmeister

Während der Pressekonferenz erzählt Jim Sturgess bewundernd, welche Aura Geoffrey Rush hat. Wenn er den Raum betrete, seien ihm alle erlegen. Die Frauen sowieso. Und dass ausgerechnet er, Jim Sturgess, der privat ein sehr schüchternes Wesen habe, wie er bemerkt, im Film den Ratgeber für Geoffrey Rush geben sollte, das war schon was. Aber Rush machte es grandios, den Ahnungslosen spielen wie ein Teenager vor seinem ersten Date. Er kann eben auch alles.

Im Friedrichstadtpalast:

Geoffrey Rush

Regisseur Guiseppe Tornatore

Komponist Ennio Morricone

Sylvia Hoeks

Jim Sturgess

 

Fünfter Tag
11. Februar 2013
Von Astrid Mathis

Wettbewerb
"Child's Pose"
(rumänisch)

Eigentlich haben sie sich nicht viel zu sagen, Mutter und Sohn. Sie kann seine Frau nicht leiden und lässt das junge Eheglück durch ihre Haushaltshilfe bespitzeln. Doch dann geschieht ein Unglück. Ihr Sohn überfährt ein Kind, und sie eilt mit ihrer Schwester zur Polizeistation. Ihm ist nichts passiert, das Kind ist tot. Als sie das Protokoll aufnehmen, feilscht die Mutter um die Geschwindigkeit. Könnte man nicht einfach schreiben, dass er nur 110 km/h gefahren sei anstelle von 140 km/h? Sie will ihr Kind beschützen, das ist klar. Nicht wahrhaben, was geschah. Sie spricht mit einem Anwalt, ist zur Bestechung bereit, sie spricht mit ihrer Schwiegertochter und erfährt, dass sie ihre Ehe am Ende sieht, nachdem sie vergebens versucht haben, ein Kind zu bekommen. Sie streitet mit ihrem Sohn, der sie nicht mehr sprechen will, weil sie einfach alles bestimmt. Es ist ein langer Weg, bis Mutter, Sohn und Schwiegertochter im Auto sitzen und vor dem Haus der Familie parken, die ihr Kind verloren hat. Die Mutter geht mit ihrer Schwiegertochter vor. Er sei ein guter Junge, sagt sie und erzählt. Und auch die Eltern des verstorbenen Jungen reden über ihr Kind. Zurück im Wagen bleibt die Zeit stehen. Schließlich stellt sich der Täter der Situation und tritt dem Vater gegenüber, um für sein Vergehen Verantwortung zu übernehmen. Nicht, um eine Absolution zu erhalten. Denn darum geht es ja in dem Film: Wie geht man mit so einer Schuld um? Und wie, verdammt noch mal, löst man sich von einer so dominanten Mutter?

"Es ist ein Privileg der Oberschicht, sich scheußlich anzuziehen"

Als Horst Evers am Abend als Gastkritiker in der Radioeins-Lounge am Potsdamer Platz vor Knut Elstermann steht, sagt er genau diesen Satz. Denn dieses Fazit konnte er nach dem Film leicht ziehen. Erst einmal bemerkte er aber, dass er es verstörend findet, den rumänischen Beitrag um 8.30 Uhr zu gucken, noch dazu mit englischen Untertiteln. Das macht er sonst nicht. Er guckt ja sonst auch nicht so früh Filme und beschreibt deshalb ausführlich das Prozedere der Journalisten und Gastkritiker. Zuerst muss man durch das ganz, ganz kalte Berlin, im Berlinale-Palast ist es dann ganz, ganz warm, weshalb sich alle so schnell wie möglich ausziehen. Dann wird es dunkel, die Sterne fallen beim Berlinale-Trailer herunter, und man will sich schon ergeben. Gesteht sogar Knut Elstermann. Nicht so Horst Evers.

Der fragt sich, ob ein Film Erfolg haben kann, wenn keine Figur sympathisch ist. Dann ist es auch noch die meiste Zeit dunkel im Film. Dazu die hässlichen Klamotten. Das ist schon schwer fürs Auge. "Die tragen in einer Konsequenz Pelze, beim Autofahren und überall, das muss man mögen", stellt Evers fest und kriegt nun nach zehn Minuten Aufdröselung der Garderobe und nötigen Abstands zwischen Mutter und Sohn die direkte Frage vorgeknallt: "Hat er dir denn gefallen?" - "Ja." - "Na, sag das doch gleich!" Es gewinnen, so schiebt Elstermann nach, übrigens immer diese frühen Filme was. Immer. Deshalb quälen sich auch alle ins Kino, um den Sieger ja nicht zu verpassen.

Knut Elstermann im Gespräch mit Horst Evers
 

Wettbewerb
"Before Midnight"
(USA) außer Konkurrenz

Am Anfang war das Wort

Ach, es ist herrlich. Jesse (Ethan Hawke) und Céline (Julie Delpy) streiten wieder. Seit Richard Linklater sie 1995 in dem Film "Before Sunrise" zusammengeführt hat, ist viel passiert. Diese magischen Momente, die sie in Wien erlebt haben, wie sie sich ineinander geredet und verliebt haben, sie machen klar, das hier ist eine ganz große Liebesgeschichte, die keine Zeit hat, die enden muss. Wie "Romeo und Julia". Davon gab es nie einen zweiten Teil. Doch das Autoren-Trio Linklater, Hawke und Delpy wollte wissen, wie es weitergeht und machte daraus 2004 "Before Sunset" mit einer Begegnung in Paris zwischen den beiden, in der sie sich um Kopf und Kragen reden. Wir wissen doch alle, wohin das führt. Jesse hat sie schließlich gesucht mit seinem Buch, in dem er seine eigene Liebesgeschichte zum Thema gemacht hat, denn in seiner Ehe hat er nie gefunden, was er mal an Zauber in Wien hatte. Und dann sind sie durch die Straßen von Paris gelaufen, und das Knistern war zu spüren, weil Jesse zum Flieger musste und die Zeit nur so weglief. Bis in der Wohnung von Céline das Happy End passiert. Denken wir uns. Es kann keine Fortsetzung geben. Wo bliebe die Romantik, von der die Geschichte lebt? Sie können nicht aufhören und machen mit "Before Midnight" weiter. Man kann sich dem dritten Teil ihrer Romantik-Serie nicht entziehen, sich nicht sagen: "So, den gucke ich jetzt nicht. Ich will mir die Illusion nicht zerstören, dass die Zwei etwas Einmaliges hatten." Man guckt ihn doch, den Fortsetzungsfilm. Zu neugierig. Wie aus dem Leben gegriffen haben Linklater, Delpy und Hawke eine Geschichte geschrieben, wie sie wortreicher nicht sein könnte.

Neun Jahre sind vergangen. Jesse ist der Einladung seines Professors gefolgt, mit seiner Familie sechs Wochen Sommerurlaub in Griechenland zu machen. Die Atmosphäre ist geschaffen für alles, tausende Jahre Geschichte haben etwas Bezauberndes. Jesse steht am Flughafen und verabschiedet sich unbeholfen von seinem Sohn Henry. Der ist 14 und lebt bei seiner Mutter in Chicago, von der sich Jesse scheiden ließ, um mit Céline zusammen zu sein. In Paris. Henry sagt nicht viel und Jesse müht sich ab, dass es fast nicht zu ertragen ist, eine Konversation zum Abschied hinzukriegen, irgendein Gefühl von seinem Sohn einzufangen. Er will für ihn da sein, weiß aber, er verpasst so viel. Die Szene ist anrührend und ehrlich. Am Ausgang wartet Celine mit den Zwillingstöchtern. Die Mädchen wollen die Ruinen sehen, schlafen ein. Lehre fürs Leben: "Wer pennt, verpasst was." Währenddessen fangen Jesse und Céline an zu streiten. Celine wünscht sich einen besseren Job, Jesse mehr Zeit mit seinem Sohn. Umzug nach Amerika? Daraus muss ja kein Drama werden, und deshalb sitzen sie später friedlich am Tisch des Gastgebers, erzählen ihre Liebesgeschichte und spielen vor, wie es klingt, wenn Céline ein Dummchen wäre, das diesen berühmten Autoren trifft. Sie lieben die Neckereien, die auch schnell zu ernsten Sticheleien werden. "Wir sind auf Durchreise wie der Sonnenaufgang", sagt einer und meint das Leben an sich. Darauf lohnt es sich zu trinken. Jesse und Céline reisen wie üblich, sie reden und reden - von der romantischen Liebe und von der des Internetzeitalters, in der alles über Skype läuft. Sie gehen in Peleponnes spazieren, und alles könnte so schön sein wie in dem Moment, als Jesse Céline in der kleinen Kapelle küsst. Sie haben nicht geheiratet, das ist eigentlich schon Romantik genug. Vielleicht ist es das einzige Stück Romantik, das sie sich erhalten haben, denn der Alltag hat auch sie erwischt. Céline hat sich um die Kinder gekümmert, während Jesse auf Lesereise war. Ihre Freunde wollen ihnen im Urlaub etwas Gutes tun und schenken ihnen eine Nacht im Hotelzimmer. Céline würde darauf lieber verzichten, vielleicht, weil sie sich zu gut kennt, weil sie das Zeug zu Penthesilea hat, aber sie tun das Unvermeidliche. Und wenn es nicht so tragisch wäre, würde man noch viel mehr lachen. Als Céline zum zweiten Mal rausrennt, bleibt Jesse wie gelähmt sitzen. Da ist noch der Teebeutel in ihrer Tasse, das unbenutzte Bett, der ungetrunkene Wein. Es ist nach einem dieser vielen Momente, in denen er weiß, egal, was er sagt, er kann nur verlieren. Er kann einem leid tun, sie auch und man selbst sich sowieso, denn diese Geschichte mit ihren endlosen Dialogen, sie ist unsere eigene. Immerhin... solange sich die Zwei noch was zu sagen haben, besteht Hoffnung.

Ein wahrhaftiger und wahrhaft romantischer Film, der berührt und optimistisch ist, lustig und nachdenklich. Er trifft den Zeitgeist auf den Punkt.

Die Pressekonferenz

Ethan Hawke hat wasserstoffblonde Haare! Irgendwie sieht er aus wie eine Komikfigur, aber ich kann ihn verstehen. Er spielt derzeit einen alternden Rockstar und wollte sich damit von der Figur distanzieren. Er hat's geschafft. Dass er auch noch Brecht macht mit diesen Haaren, na ja, modernes Theater. Doch nun zum Film.
Einen Charakter wieder besuchen zu können, ist ein schönes Privileg sagt Julie Delpy in der Pressekonferenz. "Gibt es eine ortsetzung?" will ein Journalist ungeduldig wissen. Alle sechs Jahre haben sich die Drei getroffen, Regisseur Richard Linklater, Ethan Hawke und Julie Delpy. In ihren Gesprächen fragten sie sich, ob es etwas Neues in ihrer Geschichte zu erzählen gibt. Im Moment sei alles gesagt, meint Ethan Hawke. Er schlägt aber lachend einen pornographischen Teil vor. "Ich widerstehe", antwortet Delpy gelassen. Am besten, wenn sie 80 ist, ergänzt sie bissig. Da geht es schon wieder los. Ethan Hawke erklärt, Julie sei die schlaueste in seiner Generation gewesen, als er sie kennen lernte. Fast 20 Jahre habe er sich bemüht, sie einzuholen und sie jetzt überholt. Eine Mentor-Student-Beziehung hätten sie irgendwie gehabt. Wer weiß.

An den Dialogen haben sie jedenfalls zu dritt gearbeitet. Jeder hätte in den Zeilen des anderen mitgemischt, und im Film sei nur, was am wenigsten abgelehnt wurde, bemerkt Ethan Hawke. Das war keine Männer-Frauen-Sache, da wurde gemixt, um ihre Charaktere zu präsentieren. Da griffen alle in gewisser Weise aus ihrem Leben. Letztlich gab es keine Diskussion. "Ich gewinne", behauptet Delpy resolut. Das ist leicht zu glauben, wie sie das so sagt. Sie hatten den Luxus der Zeit, schrieben Jahre daran. Schließlich vertrauen sie einander und kennen sich persönlich sehr gut. Beim Schreiben wurden keine Gefühle verletzt. Die Kampfszene am Schluss des Films, so Hawke, habe seiner Ansicht nach auch etwas Hoffnungsvolles.Es geht ja weiter. Und sie sind im wunderschönen Griechenland, wo solche Dialoge zur Tragödie passen.

Nun aber noch mal Klartext, Mr. Hawke. Einem Journalisten lässt es keine Ruhe: "Ich kann mir nicht vorstellen, dass so ein intelligenter Mann wie Sie an Bimbo-Girls denkt..." Der US-Schauspieler grinst, Julie Delpy kommentiert: "Vielleicht möchte mal irgendein Mädchen eine dumme Frage an ihn richten und gucken, was passiert." Hawke verteidigt seinen Charakter: "Ich glaube, die Sache mit dem Bimbo-Girl, das ist die Angst der Frauen, dass Männer denken, dass wir so einen Typ wollen." Delpy versteht die Szene eher als passiv-aggressiven Moment. Natürlich will sie damit provozieren im Film. Das sei kein Männer-Frauen-Ding, sie würden heutzutage vom Job aufgefressen, von der Verantwortung für die Kinder, und wenn man dann zur Ruhe kommt, kann man sich nur fragen: Wer bin ich? So schildert Ethan Hawke das Thema.

Und nachdem sie zu dritt Jahre getüftelt haben, um so einen flüssigen Dialog zustande zu bringen, kommt der Moment der Wahrheit. "Oh, mein Gott, Rick will es mit einem Take drehen, dann wird rigoros gekürzt", erzählt Julie Delpy. Sie vergleicht dieses Lernen des Textes mit ihren Proben für das Klarinettespiel. Sie übte, bis die Lippen bluteten, für das eine große Konzert. So sei es für den Dreh.

Wie haben sie sich verändert seit dem ersten Dreh vor 18 Jahren?, fragt ein Journalist. Ethan Hawke dazu: "Man denkt immer, man würde sich sehr verändern, weil man heranwächst und reift und viele Veränderungen passieren, aber letztlich bleibt man sich doch sehr ähnlich." July Delpy erwidert nur knapp: "Ich habe an Gewicht zugelegt." Und fügt dann doch hinzu, dass sie den Reifeprozess oder das Älterwerden nicht als beängstigend empfindet. Irgendwie fühle sie sich jetzt mehr geerdet. Davon abgesehen sei sie nie in der Lage, so schlagfertig zu sein wie im Film. Sie wünschte, sie könnte in bestimmten Situationen so argumentieren, aber es geht nicht. Gottseidank ist sie auch nur ein Mensch.
 


Bilder vom roten Teppich:

Julie Delpy im Interview

Ethan Hawke auch

alle

Und dann kommt noch Shooting-Star Mikkel Boe Folsgaard,
der letzten Jahr mit "Die Königin und der Leibarzt" den Bären als bester Darsteller gewann:

Unter sein Bild schrieb Ethan Hawke:
"I've always believed in myself, but I fear I've become an atheist."

("Ich habe immer an mich geglaubt, aber ich fürchte, ich bin Atheist geworden.")


 

Panorama
"Meine Schwestern"

Gehen lassen

Die Krankentrage ist mit einem weißen Tuch abgedeckt. Sofort ist alles klar. Der Weg führt zu den anderen, deren Zehen sich schon verfärbt haben, die dort liegen wie in einer Lagerhalle. "Im Krankenhaus möchte ich nie sterben", durchfährt es den Zuschauer. Linda (Jördis Triebel) spricht aus dem Off: "Der Tod kam für mich nicht überraschend." Sie hatte schon als Baby wegen ihres Herzfehlers kaum Überlebenschancen. Dass sie 30 wurde, sei ein Geschenk. Sie wäre lieber eingeschlafen bei ihrer Familie an einem schönen Ort oder einfach umgefallen, in die Arme eines geliebten Menschen. "Am wichtigsten ist, was vorher war", sagt sie und erzählt dann, was vorher war.

Es sollte eine OP wie so oft werden, eine Leben verlängernde. Ihre Schwester Katharina vertröstet sie auf Dienstag, aber Linda fühlt es, fährt zu ihrer kleinen Schwester Clara, packt sie ein und stellt Katharina vor vollendete Tatsachen. Als ihr Linda von ihrer Angst erzählt, es nicht zu schaffen, willigt sie ein, lässt ihren Mann und ihre drei Kinder bei ihm. Linda ist auch abgehauen von ihrem Mann. Der betrügt sie längst mit einer, die nicht krank ist. Auf geht es nach Tating. Dort waren sie in ihrer Ferienwohnung doch mal so glücklich.Claras Enthusiasmus ist gewichen. Katharina die Große und sie die Kleine können nicht miteinander. Clara fühlt sich hinten angestellt, weil sie mitbekommen hat, dass sich Linda mit den wirklich ernsten Themen nur mit Katharina austauscht. Es geht ihr nicht gut, seit zwei Jahren hat sie nicht einen Kurs in Philosophie besucht. Sie würde gern zum Onkel nach Paris, verrät sie Linda vor der Tür der Dorfdisko. Immer dünner wird die Haut der drei Schwestern. Katharina will abreisen. Linda setzt sich durch, zu dritt nach Paris zu fahren, auch wenn das über ihre Kräfte geht und Katharina schreit: "Immer bin ich das Kindermädchen! Soll ich zugucken, wie du dich kaputt machst? Willst du hier sterben? Da mache ich nicht mit." Linda hat es sich in den Kopf gesetzt, die zarte (Lisa Hagmeister) und die harte Schwester (Nina Kunzendorf) näher zusammenzubringen. Ihre Schwäche, das Husten und Erbrechen, das langsame Aufstehen, es ist für ihre Schwestern kaum mit anzusehen. Sie erzählt ihnen die Geschichte von einem Jungen mit einem Herzfehler wie ihrem. Drei Mal holten sie ihn zurück, dann sagte er, dass sie ihn jetzt gehen lassen müssen. Nach Lindas Aufstieg zum Sacré Coeur, bei dem sie ihrem Todesengel folgt, wacht sie ein letztes Mal auf.

Der Regisseur des Films Lars Kraume hatte einen Cousin, der an seinem Herzfehler starb. Er hätte kein Sterbedrama mit Männern drehen können. "Das wäre zu nah gewesen", bemerkt er nach der Vorstellung. Schon lange wollte er die drei Hauptdarstellerinnen, die er aus verschiedenen Produktionen mit ihm kannte, zusammenbringen. Man fragt, warum bei ihm immer Frauen die Starken seien. Darauf hat Kraume eine einfache Antwort: "Ich finde Frauen stark und Männer schlapp. Ich mag Frauen eben gern."

Für die Dreharbeiten hatte er sich in einem Krankenhaus umgesehen, erfahren, wo die Leichen bleiben. Erschreckend. Das Ende wollten sie gar nicht zeigen. Es sollte letztlich an den Anfang, um es besser zu ertragen.

Ein Wochenende am Meer hatten sie improvisiert, Lars Kraume und die Frauen. Das war der Anfang des Dramas. Auf der Leinwand überzeugen jetzt drei glaubwürdige Frauen mit ihrem eindringlichen, existenziellen Spiel und ihrem ganz eigenen Humor.

 

Vierter Tag
10. Februar 2013
Von Astrid Mathis

"Frauentag"

Wettbewerb
Gloria
(spanisch)

Die Geschichte spielt in Chile. Gloria ist Ende 50 und will noch was vom Leben. Als geschiedene Frau lebt sie in Freiheit, pflegt die Beziehung zu ihren Kindern und weint bitterlich, als ihre Tochter in den Flieger steigt. Gloria tanzt gern und zieht schließlich genau den Mann an, der ihr gefällt. Doch der etwas ältere Auserwählte hat auch Familie, und die Kinder seiner Ex-Frau haben ein einnehmendes Wesen. Damit kommt Gloria nicht klar. Sie will Liebe und Sex und eine schöne Zeit verbringen. Dieser Widerspruch ist für den Mann ihrer Träume nicht leicht, hin- und hergerissen schwanken die beiden zwischen heiteren Wortgefechten, dem Ausleben ihrer Lust und ernsthaften Auseinandersetzungen. Am Ende tanzt die Heldin des Films ausgelassen zu dem Hit "Gloria" - und zwar allein. Paulina Garcia, die Gloria verkörpert, ist übrigens auch der Hit. Endlich ein Lichtblick im Berlinale-Alltag.

Wettbewerb
Die Nonne
(französisch)

Ihre Familie meint es nicht schlecht mit Suzanne, als sie ins Kloster geschickt wird. Die Hochzeiten ihrer Schwestern haben genug gekostet und verlängern ihren Aufenthalt. Aber da ist noch etwas: Ihre Mutter (Martina Gedeck) gesteht ihr, dass sie die Frucht einer großen Liebe ist, die sie nicht leben durfte. Sie reißt sich diese Liebe aus dem Herzen wie ihre Tochter. Dank des liebevollen Zuspruchs der Mutter Oberin kann Suzanne sich auf den Handel einlassen, aber als diese stirbt, beginnt für sie ein Leben voller Qual. Die neue Mutter Oberin lässt sie über Glasscherben gehen und hungern. Nur die Mutter einer Freundin gewährt ihr einen Lichtblick. Sie schickt einen Anwalt, der Suzannes Aufzeichnungen weiterleitet. Endlich wird die Mutter Oberin ihres Amtes erhoben und Suzanne in ein anderes Kloster gegeben. Suzanne beschäftigt aber nur ein Gedanke: Sie will raus. Erst recht, als sie merkt, dass die dortige Mutter Oberin (Isabelle Huppert) sich nach Zärtlichkeiten von ihr sehnt. Letztendlich gelingt ihr die Flucht in die Arme ihres leiblichen Vaters, der kurz darauf stirbt.

Die Pressekonferenz

Der Roman von Denis Diderot spielt im 18. Jahrhundert und hat den Regisseur schon seit seiner Jugend beschäftigt, beginnt er. Mit seiner Tochter hat er darüber gesprochen, ob das Thema noch aktuell sei. Und diese erwiderte tatsächlich, sie empfinde es so, dass sich nicht viel am Bild der Frau weiterentwickelt hat. Diderot richtet sich laut nicht gegen die Kirche, vielmehr gegen fanatische Religion. Als nächstes wird Isabelle Huppert gefragt, warum sie die Rolle annahm. Da ist zum einen der Regisseur Guillaume Nicloux zu nennen, mit dem sie arbeiten wollte, zum anderen mochte sie ganz einfach die Rolle. "Das ist so eine, bei der man sich davor hüten muss, sie zur Karikatur werden zu lassen." Sie spiele eine Mutter Oberin, die Gott sehr fern ist, indem sie menschlich und natürlich handelt. Für Martina Gedeck bestand die Herausforderung darin, mit einer Körpersprache umzugehen, die nicht heutig ist und sehr zurückhaltend. Das schaffe eine Atmosphäre von Enge in der Familie, die der Film braucht. Die junge Hauptdarstellerin Pauline Etienne beschreibt den Dreh als sehr intensive Zeit. Suzanne habe eine unglaubliche Kraft, sich aufzulehnen. Auch die Schichten ihrer Kleidung hätten ihr etwas auferlegt, mit dem sie sonst nicht zu tun hatte. "Ich habe erlebt, was Suzanne gelebt hat", beschreibt sie ihre Filmerfahrung. Auf die Kerkerszene habe sie sich nicht vorbereitet, sie sei in den Kerker geworfen worden, und das war's. Louise Bourgoin spielt die sadistische Oberin und wird schließlich auf diese Grausamkeit angesprochen. "Ich bin einfach so", behauptet sie und lacht dann. Ihre Rolle war freundlich angelegt, um die Perversität noch mehr herauszustellen. "Das hat Spaß gemacht", bemerkt sie abschließend. So, so.

Panorama
Maladies
(USA)

James Franco spielt in diesem Film den arbeitslosen Schauspieler James. Man merkt sofort, dass mit ihm etwas nicht stimmt. Er sitzt am Meer und spricht mit sich selbst, das heißt mit einer Stimme aus dem Off, die ihn begleiten wird. Und er spricht nicht nur so vor sich hin, sondern philosophisch. Das passt zur Geschichte, die eine Poesie in sich trägt, als wäre sie ein Gedicht oder ein Essay. Kapitelüberschriften unterstreichen diesen Charakter noch.

James hat seine Fernsehkarriere beendet und plant ein Buch, in dem seine Gedanken Platz finden. Gedankenverloren streift er durch den Raum, macht einen Kunstakt daraus, zwei Gläser Wasser zu holen oder in der Apotheke etwas einzukaufen. Nur wenn er den Telefonhörer in die Hand nimmt und das beruhigende Freizeichen vernimmt, fühlt er sich sicher. An seiner Seite hat er zwei Frauen, seine malende Schwester Patricia und die mütterliche Freundin Catherine, die ebenfalls der Malerei verschrieben ist und ihm versprochen hat, sein künstlerisches Werk zu beenden, wenn er vor ihr stirbt. Dazu gehört ein guter Freund der Familie, der öfter als Retter auftaucht und James verehrt.

Dieser Film von dem Allroundkünstler Carter aus New York hat etwas so Besonderes, dass man ihn allein an einem Tag genießen muss, weil er inmitten von Berlinale-Filmen untergeht. Denn es passiert ja nicht viel, außer dass James uns an seinen Gedanken teilhaben lässt, lustigen und verqueren, traurigen und sprungartigen.Dazu die tolle Kameraführung.

Als James Francos Filmschwester Fallon Goodson nach der Premiere mit Catherine Keener auf die Bühne geholt wird, ist ihr Gesicht voller Tränen, so berührt ist sie, so sehr lag ihr der Film am Herzen. Und das ist er, unglaublich berührend mit einer Prise Komik und Selbstironie.

Panorama
"The Look of Love"

Paul Raymond (Steve Coogan) ist ein bunter Vogel, trotzdem Michael Winterbottom seinen Film erst einmal in Schwarz-Weiß anfangen lässt. Das merkt man auch ohne Farbe. Sperrt Frauen oben ohne in einen Löwenkäfig und nennt das Zirkusnummer. Ja, so was wollen die Leute sehen Ende der 50er. Als Raymond erste Erfolge feiert wegen seiner außergewöhnlichen Freizügigkeit in London, geht richtig die Post ab. Seine Frau verzeiht die Betrügereien. Natürlich erzählt er jedem, dass er mit fünf Schilling angefangen und sich hochgearbeitet hat. Seiner Tochter erklärt er, warum er so viele Häuser besitzt. Für Mami und sie, denn am Ende zählen nur Immobilien. Am Ende des Films wird er diesen Satz seiner Enkeltochter erzählen. Mit seiner ersten Frau ist er da längst nicht mehr zusammen. Er hat sich in eines seiner Mädchen verliebt und gründet ein Magazin namens "Men only", lässt sie zur Ikone Fiona Richmond aufsteigen, die freizügig ist und privat auch nichts gegen eine kleine Orgie hat. Anfangs. Auch sie muss sich eingestehen, dass sich ihr Geliebter nie ändern wird und sie kein ruhiges Leben haben kann, wenn sie bei ihm bleibt. Raymonds Tochter Debbie wird ihr zur Freundin, aber Halt sucht Debbie selber. Ihre Show floppt, sie ist kein Star wie ihr Daddy und bekommt nie Anerkennung. Koks gehört für sie zum guten Ton, ihr Vater sieht darüber hinweg, schnupft selber. Irgendwann kann sie nicht mehr.

Der Film ist knallbunt und wie ein Rausch, zum Lachen gibt es einiges, zum Weinen ebenso, aber dazu kommt es nicht. Der Film bleibt so oberflächlich, wie Raymond selbst lebte. Von Liebe keine Spur zu merken, auch wenn Vater und Tochter sich das zumindest sagen. Winterbottom geht nicht in die Tiefe, ihm gelingt die Dramödie nicht, die sie vielleicht werden sollte. Als er mit seinem Team auf die Bühne tritt und die mageren, grell geschminkten, hochhackigen Enkeltöchter Raymonds dazubittet, passt das sehr zum Film. Sie müssen sich über ihre Zukunft nicht sorgen, denn sie besitzen unzählige Immobilien. Stylish.

 

Dritter Tag
9. Februar 2013
Von Astrid Mathis

Wettbewerb
"Gold"
(deutsch)

Reden ist Silber

Der erste deutsche Beitrag im Wettbewerb kann einen schon nervös machen. Nina Hoss spielt mal wieder mit. Der Film ist von Thomas Arslan und will kein Spätwestern sein. 1898 in Kanada. Nina Hoss schlüpft in die Rolle von Emily Meier, die sich einer Gruppe von Goldsuchern anschließt. Die führt Wilhelm Laser (Peter Kurth) an, in für ihn selbst unerforschtes Gebiet. Zu dem Tross gehören solche Typen wie Joseph Rossmann (Lars Rudolph) und Müller (Uwe Bohm). Dass das nicht gutgehen kann, sieht man sofort. Und es geht auch mit dem Film nicht gut. Es sieht nicht echt aus und fühlt sich auch nicht so an. Irgendwie hat man Leute wie Uwe Bohm und Lars Rudolph schon hundertmal besser gesehen. Die ganze Geschichte, ach, das ist so vorhersehbar. Wahrscheinlich passiert noch was mit Liebe. Nach 45 Minuten stürze ich raus. Später höre ich, wie Leute erzählen, es hätte viel zu lachen gegeben wegen unfreiwilliger Komik. Auf der Pressekonferenz fehlt Nina Hoss wegen Krankheit. Bärenfallen gab es wohl außerdem - im Film. Lars Rudolph schwärmt von der schönen Ruhe in Kanada. Uwe Bohm verrät, wie anstrengend es war, reiten zu lernen. Und Thomas Arslan erzählt, wie schwierig er es fand, nicht nur 7 Schauspieler, sondern auch noch 11 Pferde zu inszenieren.Um den Spielfilm so authentisch wie möglich zu gestalten, hat er viele Tagebücher gelesen. Das merkt man, ist aber kein Garant für einen tollen Film. Leider.


Panorama
"Lovelace"
(USA)

Alles für die Liebe

Die Regisseure Rob Epstein und Jeffrey Friedman strahlen um die Wette. Der Applaus zu ihrer Premiere von "Lovelace" geht runter wie Öl. Sie haben die wahre Geschichte von Linda Lovelace erzählt, räusper, sich daran orientiert. Sagen wir mal so. Der Film "Deep Throat" hat Linda Boreman berühmt gemacht, ein Pornostreifen, der in den 70ern Kult wurde und für sie der Anfang vom Ende war. Der Film erzählt davon, wie sich Linda (Amanda Seyfried) in Chuck verliebt und von ihrer Mutter (Sharon Stone) rausgeschmissen wird. Sie heiratet Chuck (Peter Sarsgaard) und scheint wie die Jungfrau zum Kinde zum Pornostreifen zu kommen. Die zweite Version ihrer Lebensgeschichte, nämlich die Leidensgeschichte, schließt sich dem blumigen Beginn an. Linda erfährt Chucks Brutalität schon gleich nach der Hochzeit. Das fehlende Geld soll Linda ausgleichen, so nötigt er sie zum Porno. Zum Sex mit ihm, zum Sex mit anderen. Nach mehreren Anläufen kann sie sich aus der Beziehung befreien und ein normales Leben führen, wie sie es sich wünscht. Sie bringt ein Buch heraus, in dem sie mit ihrer Vergangenheit aufräumt.

Das Regisseuren-Duo zeichnet ein einfühlsames Porträt, das den Zuschauer nachdenklich zurücklässt.

Die Pressekonferenz

In der Pressekonferenz ist Amanda Seyfried der Blickfang für die Reporter. Es wird eine Menge kommentiert, was für ein hübsches Lächeln sie hat usw. Einer fragt, in welcher Rolle sie sich miserabler fühlte, in "Lovelace" oder in "Les Misérables", den sie wenige Stunden später ebenfalls im Friedrichstadtpalast vorstellen würde. Les Mis, sagt sie, weil sie nicht essen und trinken durfte und auf ihre Stimme achten musste. Die Stimme vor der Welt bewahren, sozusagen. "Das war hart, nicht miserabel." Den Film "Deep Throat" hat sie gesehen - "interessant", meint Seyfried. Sie wollte Linda Lovelace eine Stimme geben, an das Ausstellen ihres Körpers hat sie dabei nicht gedacht. Peter Sarsgaard wird erst mal gar nichts gefragt. Wie er da mit seinem Vollbart sitzt und an Karl Marx erinnert, traut sich doch keiner, ihn anzusprechen. Da erbarmt sich die Moderatorin und fragt nach seinem teuflischen Charakter im Film. Er hat sich nicht viel mit ihm auseinandergesetzt, dachte an manchem Drehtag: "Nicht schon wieder", wollte seiner Partnerin lieber etwas Gutes tun. Sehen, was passiert, ist seine Methode, wenn er ans Set kommt. Am Ende will ein Journalist wissen, ob Amanda Seyfried sich zwischen zwei Abendpremieren umzieht für den roten Teppich. "Aber klar. Ich liebe Kleider."

Warum James Franco auf dem Podium sitzt, mag man sich nach dem Film leicht fragen. Wahrscheinlich wurde sein Part auf drei Minuten gekürzt. Schade. Den Bühnenauftritt nach der Premiere kneift er sich dann auch, nachdem er sich schon mit dem Begrüßungsapplaus in die Dunkelheit verabschiedet hat.

Amanda Seyfried gab Autogramme.

Peter Sarsgaard auch.

Nach der Premiere...

 

Berlinale Special Gala
Les Miserablés

Mit einem Meisterwerk hatte der britische Regisseur Tom Hooper den Friedrichstadtpalast vor zwei Jahren beehrt, mit einem Meisterwerk kommt er zurück. Nach "The King's Speech" springt er mit "Les Miserablés" in das Genre Musical und wird schon beim Einmarsch mit seinem Team wie ein König gefeiert. "Die Elenden" nach dem Roman von Victor Hugo kann beginnen.

Anne Hathaway

Hugh Jackman

Tom Hooper

 

"Und die Welt war ein Lied"
(Zitat aus "Les Misérables")

Ein gewaltiges Schiff im Wasser und ein Mann (Hugh Jackman) in Ketten reden Tacheles. Das hier wird ein Monumentalfilm wie "Ben Hur" und "Spartacus", höchstens ein bisschen moderner. Jean Valjeant ist dieser Mann, der sich vor Javert (Russell Crowe) ducken muss. Er flieht und bekommt eine zweite Chance. Als er sich freisingt, verlässt die Filmcrew im Applaus den Saal. Nur Tom Hooper bleibt sitzen, um Fantines Geschichte mitzuerleben. Anne Hathaway spielt diese Figur, eine junge Mutter, die ihr Kind versorgen will und alles dafür tut, als sie ihre Arbeit verliert: Haare abschneiden, Zähne verkaufen und schließlich ihren Körper hergeben. "Sie wissen nicht, dass sie mit einer Toten Liebe machen", sagt sie, kahl geschoren und mit billiger Schminke versehen, dann beginnt sie zart das Lied "Ich hab geträumt vor langer Zeit." Ihre Hingabe ist so überwältigend, der Gesang so bewegend, dass die Zuschauer in frenetischen Beifall ausbrechen, Tränen fließen, und es werden nicht die letzten sein. Fantine vertraut am Totenbett ihre Tochter Jean Valjeant an, der sie aus einem Streit gerettet hat. Er findet Cosette in einem Wirtshaus, wo ein zwielichtiges Pärchen den Leuten das Geld vor der Nase stiehlt (phantastisch: Sacha Baron Cohen und Helena Bonham Carter als skurile Gauner).

Schon mit ihrem Song "Master of the House" machen sie klar, dass sie perfekt zusammenpassen. Bildkomposition und Schnitte tun ihr Übriges dazu, ihre Deftigkeit zu unterstreichen. Immer wieder werden sie Cosettes Weg kreuzen und ihr Unwesen so auf die Spitze treiben, dass in diesen Szenen viel gelacht wird. Neun Jahre nach ihrer Trennung von den Wirtsleuten lernt Cosette (Amanda Seyfried) den Aufrührer Marius (Eddie Redmayne) kennen. Als sie sich begegnen, wird der Hintergrund unscharf, sie tauchen wie in ein Märchen ein. In diesem Märchen spielt Eponine, die Wirtstochter aus Kindertagen, keine Rolle, obwohl sie Marius Freundin ist. Und so legt sie alles in das Lied "On my own" ("Ganz allein"), während sie im Regen vor sich hin weint. Sie ist auf der Seite der Aufrührer wie der Junge Gavroche und gehört zu den wenigen, die Barrikaden bauen. Die Kampfszene ist ein Vorgeschmack auf die Französische Revolution, Blut fließt sinnlos, denn eine Chance hatte die Gruppe nicht. Jean Valjean rettet Marius das Leben, der als einziger von seinen Kumpanen übrigbleibt. Mit dem Titel "Leere Stühle an leeren Tischen" singt er sich ebenfalls in die Herzen des Publikums. Er bleibt mit seinen Tränen nicht allein. Das Ganze ist schließlich ein Drama, und in dem darf geweint werden. Es gibt ja auch Hoffnung, die letzte Szene prophezeit die Französische Revolution. Jean Vajean und Javert haben ihren Frieden gefunden, Marius und Cosette überleben.

Als Tom Hooper sein Team auf die Bühne bittet, hat er für jeden einen liebevollen Vers parat. Er beschreibt Amanda Seyfrieds erhellendes Wesen am Set, das große Talent von Eddie Redmayne, sagt über Anne Hathaway: "Wenn du singst, haut es mich einfach um. Heute wieder." Lobt Hugh Jackman, der durch den Film trägt. Jackman, der bei einer Oscar-Verleihung sein Talent als Moderator schon bewiesen hat, nimmt nun seinerseits das Mikrofon in die Hand und erklärt: "Moment, wenn hier einer durch den Film getragen hat, war es Tom Hooper, und zwar uns alle, und manchmal noch eine Kamera auf den Schultern, während er in der anderen seine Pommes Frites festhielt." Jeder andere hätte, so meint Jackman, nach seinem Oscar erst mal etwas Kleines, Bescheidenes gemacht, auf keinen Fall ein Musical als Film. Hooper ist nicht wie jeder andere. Wer diesen Film gesehen hat, weiß es erst recht.

Tom Hooper zittert, als er seinen Zettel auseinanderfaltet. Er hat auf Deutsch eine Rede vorbereitet. Das habe ich in 12 Jahren Berlinale nie von einem anderen erlebt. Darin dankt er dem Berliner Publikum, das so "begeistert und kenntnisreich" ist, und Dieter Kosslick für seine Einladung und für diese tolle Atmosphäre im Publikum. Ein besonderer Tag sei es, nämlich das letzte Mal, bei dem sie alle zusammen sind und den Film vorstellen. Sie strahlen ein letztes Mal ins Publikum und winken. Oscarreif.

Auf der Bühne im Friedrichstadtpalast erfreut Hugh Jackman
mit einer lustigen Anekdote über Tom Hooper seine Kollegen und das Publikum

 

Zweiter Tag
8. Februar 2013
Von Astrid Mathis

Wie viel Vaterunser braucht der Mensch?

Wettbewerb
"W Imie... - Im Namen von..."
(polnisch)

Ein katholischer Priester auf dem Dorf hat eine Gruppe heranwachsener Jungen in seiner Obhut. Die Halbstarken raufen und rauchen miteinander, hänseln einen Behinderten aus ihrem Clan und diskutieren die Vorlieben ihres Aufsehers. Der hat angeblich keine. Ewa, die sich zu ihm hingezogen fühlt, lehnt er ab. Er sei vergeben. An Gott? Aber nein, er ist verrückt nach den Jungen. Besonders Lukasz hat es ihm angetan. Als die beiden im Maisfeld Urwald spielen, scheint alles möglich und leicht. Die verrückteste Szene ist aber, wenn Pater Adam mit dem Bild des Papstes betrunken durch seine Wohnung tanzt und sein Kinn daran reibt. Ein Zugeständnis. Normalerweise rennt er durch die karge Sommerlandschaft, als könnte er vor sich fliehen.

Für den toleranten Berliner ist Homosexualität ja etwas Normales, aber wir sind in Polen, und da macht man so was nicht. Sagt auch die Schwester des Pfarrers. Die erneute Versetzung, die ihm sein Widersacher eingebrockt hat, bedeutet nicht das Ende. Der verliebte Junge bekennt sich zu ihm und bleibt da. Mitten in der katholischen Verbotszone. So erzählen es die phantastisch gedrehten Bilder von Michel Englert. Das Drama fängt also erst an.

Wettbewerb
"Promised Land"
(USA)

Steve ist ein guter Kerl. Matt Damon auch. Mensch - Vater von vier Kindern! Dem glaubt man einfach alles, in diesem Fall die Rolle des Farmersohnes, der durch Fleiß aufsteigt. Die Frage ist, in welchem Job. Er lässt die Leute auf dem Land das Einverständnis für die Förderung von Erdgas auf ihrem Boden unterzeichnen - via Fracking. Keine umweltfreundliche Methode. Es ist ihre letzte Chance. Gus Van Sant, den Damon für sein Gemeinschaftswerk mit John Krasinski für die Regie gewinnen konnte, inszeniert den Charakter ernsthaft. Steve macht Versprechungen, und die will jedermann gern glauben. Frances Mc Dormand mimt seine Kollegin Sue, die diese Arbeit als notgedrungenen Job sieht, während sie sich nach ihrem Sohn sehnt, der beim Vater lebt. Als Steve befördert wird, ist er mit ihr in einem Gebiet unterwegs, wo die Leute nicht so nachgiebig sind wie bisher. Ihre Tarnung, sich wie Einheimische zu kleiden, fliegt schnell auf und nutzt daher nichts. Zu guter Letzt gewinnt ein Umweltaktivist namens Dustin Noble (John Krasinski) die Bewohner mit erschreckenden Bildern von Folgen der Bohrungen für sich und macht Steve Konkurrenz bei der Lehrerin Alice, in die er sich verguckt hat. Ein alter Lehrer (Hal Holbrook) redet ihm ins Gewissen, dann wird es Hollywood-Kino.

Das Werk war ganz klar eine Herzensangelegenheit, erklärt Matt Damon während der Pressekonferenz. Und, ja, er ist stolz darauf und kann nicht verstehen, warum der Film in den USA nicht so gut gelaufen ist. Es ist in seinen Augen schließlich ein Film über amerikanische Identität und Gemeinschaft. Kein Stück würde er ändern, wenn er ihn ein zweites Mal drehen würde. Für das Drehbuch hat der Schauspieler jede Menge recherchiert, vor allem in Pennsylvania. Die einen schimpften über das Fracking, die anderen erklärten es für ihre Rettung. Beide Meinungen sind in dem Film vertreten. Die 15 Seiten lange Szene über das Erdgasförderungsmethode wurde radikal gekürzt, um das Tempo der Geschichte nicht zu unterbrechen. Niemand könne sagen, was über den Film in zehn Jahren erzählt werde, welche Bedeutung er dann haben könnte.

Apropos Bedeutung. Da kommt doch glatt die Frage auf das Podium geflogen, ob er denn wisse, dass Berlin einen Großflughafen plant. Matt Damon lacht. Vor zehn Jahren hatte man schon versprochen, er sei in fünf Jahren fertig. Natürlich freut er sich darauf, endlich einen Direktflug zu kriegen. In Frankfurt/Main hat er locker 100 Stunden verbracht. Es gibt kaum Direktflüge nach Berlin, doch wenn er in ein paar Wochen herkommt, um mit seinem Freund George Clooney zu drehen, auf den sich schon alle freuen, wird er in einer dieser Maschinen sitzen.


John Krasinski, Gus Van Sant und Matt Damon

… nach der Pressekonferenz

… auf dem roten Teppich

John Krasinski

… im Schnee

… am Mikrofon

… mit Festivalleiter Dieter Kosslick

Fracking-Gegner waren auch da

… und Jane Fonda

 

Wettbewerb
Paradies: Hoffnung
(deutsch)

Der österreichische Regisseur Ulrich Seidl hat seine Trilogie (Glaube, Liebe, Hoffnung) auf der Berlinale beendet mit einer Geschichte um Melanie. Ein ganz normales Mädchen in der Pubertät, außer dass sie ein bisschen mollig ist. Ihre Mutter steckt sie über den Sommer in ein Diätcamp. Dort findet sie Gleichgesinnte, die beim Rundenlaufen stöhnen und nachts mit ihr in die Küche schleichen, um zu naschen. Zur Strafe lässt der Sportlehrer sie mit ausgestreckten Armen dastehen. Das Lied "If you're happy and you know it, clap your fat" gehört zum Alltag. Als wäre das noch nicht schlimm genug, verliebt sich die 13-jährige Melanie in den Arzt und Leiter der Schule. Keine Sorge, es passiert nichts, nur ein paar verliebte und scheue Blicke von Melanies Seite, das Begehren in den Augen des Doktors. Der ihr widersteht und kein Klischee bedient, indem er seine Position ausnutzt. Nach anfänglichem Mitspielen wie gegenseitigen Abhören des Herzschlags stößt er sie zurück. Melanie betrinkt sich und entrinnt in der Dorfkneipe knapp einer Vergewaltigung. Als ihr Schwarm sie rettet, legt er sich im Vollrausch neben sie, ohne sie anzurühren. Dann ist Schluss für ihn. Melanie versucht verzweifelt, ihre Mutter zu erreichen, aber die ist in Afrika.

 

Die Pressekonferenz

Neunzig Stunden Material hat Ulrich Seidl gedreht, ein Jahr Dehzeit liegt hinter ihm. Sechs Stnden filtert er heraus und macht drei Teile. Das hatte er nicht so geplant, gesteht er. Auf diesen letzten Film hat er sich lange vorbereitet und hunderte Mädchen angesehen. Auch Melanie, die damals die Hauptschule besuchte. Ihre Freundinnen hatten ihr einen Zettel zugesteckt, auf dem stand: "Molliges Mädchen gesucht". Über ein halbes Jahr streckte sich das Casting hin. Ihre Mutter schluckte erst mal, als sie den Namen Seidl hörte. Michael Thomas, der ihr als Sportlehrer schwer zu schaffen macht, lobt die Natürlichkeit der jungen ungelernten Schauspieler. Ihm fiel es schwer, streng zu sein, kennt er doch aus seiner Kinderzeit solche Sportlehrer mit Trillerpfeiefe. Er selbst ist als zweifacher Vater eher antiautoritär. Dass es kein Drehbuch gab, war für Melanie zuerst ein Schock, aber Seidl erklärte die Situationen genau und ließ die Kamera laufen, bis er die Unterhaltung eingefangen hatte, die er brauchte. Joseph Lorenz meinte zur Technik des Regisseurs: "Das ist, als würde man ein Auto konstruieren, in dem man schon fährt." Wichtig sei zu wissen, wer man ist. Dass der Arzt die reine Liebe eines Mädchens erfährt, berührt ihn, und es macht ihm auch zu schaffen.

"Ich sehe meinen Film als sanftesten der drei Teile", sagt Melanie. Mit Verena, die im Film ihre Freundin spielt, liegt sie gleich auf einer Welle. Es hat ihr Spaß gemacht zu drehen. Zu lachen gibt es im Film tatsächlich allerhand. Ein Journalist beschreibt Seidls Handschrift als "humorvolle Gnadenlosigkeit". "Dieser Humor ist mir eigen", schließt der Regisseur die PK ab.

Panorama
Don Jon's Addiction
(USA)

Eigentlich haben wir Journalisten ein bisschen Angst vor solchen Filmen, in denen der Hautptdarsteller auch noch sein Regie-Debüt gibt. Bei Joseph Gordon-Levitt können wir aufatmen. Seine Geschichte um einen Porno süchtigen Macho, der sich verliebt, hat Drive. Scarlett Johansson bekommt als Barbara auf der Skala von 1 bis 10 von Jon eine 10. Der Aufreißer versucht alles, um sie zu kriegen, stellt sie seinen Eltern vor, besucht sogar einen Kurs und betet gern 10 Ave Marias und 10 Vaterunser, um sich von seinen Sünden freizusprechen. Doch die Pornos kann er nicht lassen, irgendwie sind die besser als echter Sex. Tief verletzt macht Barbara Schluss. Als er im Kurs Esther (Julianne Moore) kennen lernt, erfährt er endlich, warum das so ist. Die Einseitigkeit. Die Angst, sich hinzugeben und anzunehmen, wenn der geliete Mensch sich fallen lässt. Julianne Moore bekommt auf einer Skala von 1 bis 10 von mir mindestens eine 11. Sie schafft es, dem Film mit ihrer Ausstrahlung und ihrer Geschichte eine Tiefe zu geben, die manchem Drama fehlt.

 

Joseph Gordon-Levitt auf dem roten Teppich

… mit Wieland Speck

 

Erster Tag
7. Februar 2013
Von Astrid Mathis

Es geht schon mal gut los. Kurz vor 10 Uhr am Eingang, wo sich im Hyatt die Schalter zur Ausweisübergabe befinden, treffe ich zwei bekannte Fotografen und meine Freundin. Doch schon will die Schalterfrau mein Geld für die Akkreditierung. Ich bekomme wie gehabt eine Quittung und wende mich dem nächsten Schalter zu. Dort bedient mich ein junger Mann, den ich vorher noch nie gesehen habe. Prompt findet er meinen Ausweis nicht, an den Barcode-Ausdruck habe ich natürlich auch nicht gedacht. Schließlich klappt sonst immer alles. "Ja, ich gucke noch mal" höre ich und sage: "Es hat noch nicht mal angefangen, und ich bekomme schon Schweißausbrüche." Offensichtlich will er damit nichts zu tun haben und verweist mich an den mir bekannten Presseverantwortlichen Oliver Bernau. Er lächelt. Alles wird gut. "Herr Bernau, Sie müssen mich retten. Mein Ausweis ist nicht da", beginne ich. "Kann gar nicht sein", springt er auf den Zug auf, und ich mache weiter mit: "Das dachte ich auch." - "Ich gucke noch mal", wiederholt er den Vers des Neulings und kommt, na, sagen wir mal keine 20 Sekunden später mit meinem Ausweis in der Hand zu mir, will auf der Quittung abstreichen, dass ich ihn erhalten habe und stellt fest: "Der ist ja schon abgestrichen. - Gut, dass sich das heute klärt. Morgen hätte ja jeder behauptet, der Ausweis wäre schon rausgegeben worden."

Ich will nicht länger darüber nachdenken, wie viel Nerven mich die Bürokratie der Berlinale kostet, aber ich komme zu dem Schluss, dass wirklich nichts über geschultes Personal geht.

Die Jury hat Platz genommen. Wong Kar Wai ist Jurypräsident, vier Damen aus der Filmwelt sind schön zwischen den drei Herren platziert. So kommt auch glatt das Lob einer Journalistin, wie auffällig und schön es sei, dass auf der Berlinale mal was für die Frauenquote getan wird. Yeah! Tim Robbins findet das übrigens ebenfalls sehr schön mit den vielen Frauen und sagt danach nicht viel mehr, denn die Frauen haben das Sagen, und Regisseurin Susanne Bier wollte und sollte schon vor Jahren die Berlinale beehren. Nun endlich. Und Andreas Dresen freut sich als Ostdeutscher, dass viele osteuropäische Filme gezeigt werden. Na dann.

 

Wettbewerb
"The Grandmaster"
(kantonesisch/mandarin)

Wong Kar Wai darf als Jurypräsident seinen historischen Kung-Fu-Film "The Grandmaster - Der Großmeister" vorstellen. Während der Filmvorführung frage ich mich, ob es am Alter liegt, dass ich am ersten Berlinale-Tag schon so starke Ermüdungserscheinungen habe, dass ich am liebsten durchschlafen möchte. - Es liegt am Film. - Dabei hat mir doch "Hero", der vor einigen Jahren von ihm lief, sehr gut gefallen. - Ich halte trotzdem durch, eine Frage der Ehre.

Was bleibt nach zwei Stunden Wong Kar Wai? Die Erinnerung an wunderschöne Bilder, im Schnee, mit Wassertropfen, mit Gesichtern, die nicht altern. Die Gewissheit, dass ich einfach keine Kung-Fu-Filme brauche, die rasante Schnitte mit Slow-Motion koppeln. Davon tun mir die Augen weh. Die Geschichte des Films? - Hm, der Großmeister, der seine Familie verlassen muss, und eine junge Meisterin, die alles von ihrem Vater gelernt hat, verfolgen ihre Bestimmung und ergeben sich der Tradition und Landesgeschichte, lernen voneinander und überbieten sich nach jahrelanger Konkurrenz in Trauer. Soweit mal flapsig die Zusammenfassung. Wong Kar Wai ist ohne Zweifel ein Großmeister der Filmkunst, aber er lässt den Betrachter leider völlig außen vor.

Am roten Teppich schweben Stunden später haufenweise Promis vorbei, um wahrscheinlich dasselbe festzustellen.

Andreas Dresen

Tim Robbins

Wong Kar Wai

Jessica Schwarz...

...und Nadja Uhl gehören zu den letzten Schauspielern, die den Berlinalepalast entern.


Panorama
"A fold in my blanket"
(georgisch/russisch)

Im Eröffnungsfilm des Panoramas erlebe ich das Gegenteil vom Nachmittag. Keine Pracht. Minimalismus, aber auch viel Symbolismus spiegeln ein Familienbild wider, in dem sich jeder finden kann. Beim Familiengeburtstag läuft im Hintergrund Puccinis "O mio babbino caro". Die Mutter nötigt dem Vater Sahnetorte auf, die Schwester zieht ein Gesicht aus Missgunst. Die Söhne sind wie die Eltern in Kommunikationsunfähigkeit gefangen. Der Film gibt viel Raum zum Nachdenken, Distanz-Suchen und Nähe-Finden und provoziert sogar die Frage im Publikum, ob es denn in Georgien noch keine Handys gäbe. Ich zitiere an dieser Stelle gern meine Freunde, die mir auch öfter schon gesagt haben: "Das ist nur ein Film."

 

© POTZDAM 2013