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Publikumstag
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17. Februar 2013
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Von
Astrid Mathis
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Panorama
The
Broken Circle Breakdown
(flämisch)
Der
beste Film
Am Ende
schaffe ich es doch noch, den besten Film der Berlinale zu sehen.
Es ist der Panorama-Publikumspreis. Radioeins-Moderator Knut
Elstermann schwärmt schon vorher, die Zuschauer hätten
so viel geweint und gelacht in dem Film "The Broken Circle
Brakdown". Er gratuliert dem Hauptdarsteller Johan Heldenbergh,
der außerdem ein grandioser Musiker ist. Und sehr bescheiden.
Nie hätte er gedacht, auf der Berlinale einen Preis zu
gewinnen mit dieser Geschichte um den Tod eines krebskranken
Mädchens. Weil ihn das Publikum gewählt hat, ist es
für ihn der wichtigste Preis überhaupt. "Und
was ist das Hauptthema, würdest du sagen?" hakt Knut
Elstermann nach, "Liebe?" - "Dass du Trauer nicht
teilen kannst", erwidert Johan oder anders gesagt - er
zitiert den Titel eines Liedes - "If I needed you would
you come to me" (Wenn ich dich brauche, kommst du dann
zu mir?).
Der Film
gewinnt allein wegen seiner besonderen Struktur. Er beginnt
mit Countrymusik, zeigt Didier inmitten seiner Band. Im Krankenhaus,
Didier (Johan Heldenbergh) und Elise (Veerle Baetens) werden
zum Arzt gerufen, ihre Tochter Maybelle lacht indessen über
eine Kindersendung. Was der Arzt mitteilt, ist nicht zu hören.
Elise sagt hinterher: "Geweint wird zu Hause, im Krankenhaus
sind wir positiv." Mein Gott, ist diese Frau stark! Schnitt
zur offensichtlich ersten Nacht zwischen dem Liebespaar. Elise
läuft im Morgengrauen hinter ein paar Hühnern her
auf diesem Hof des Countrysängers und teilt mit ihm später
das Bett. Unter der Decke tuscheln sie: Warum spielt er Banjo?
Warum hat sie so viele Tattoos? Die Antwort bleibt sie erst
mal schuldig. Elise fährt auch nur weg, um wiederzukommen.
Hinter den Tattoos verstecken sich übrigens ehemalige Liebhaber,
die sie generös selbst übersticht. Wieder Krankenhaus.
Elise schenkt ihrer Tochter eine Kette mit einem Kreuz, die
sie von ihrer Mutter hat und die Maybelle einmal ihrer Tochter
geben soll. Didier steht mit den Tränen kämpfend trotzig
daneben. Er glaubt nicht an Gott, aber das erfahren wir erst
später, nachdem wir gesehen haben, dass er weggelaufen
ist, als er von der Schwangerschaft erfuhr und nachdem Maybelle
verzweifelt weinend einen schwarzen Vogel in den Händen
hält, der gegen das Terranda-Dach flog und verstarb. Didier
tut sich schwer damit, ihr in dem Moment zu sagen, dass die
Seele jetzt im Himmel ist. Was tot ist, ist tot. Die Chemotherapie
hat nicht geholfen. Maybelle braucht neue Stammzellen, muss
dafür aber vorher einer noch schlimmeren Chemotherapie
ausgesetzt werden. Die Chancen stünden gut, behauptet der
Arzt.
Trotzdem
schafft sie es nicht. Elise war auch nur die Starke, solange
sie ihre Tochter in den Arm nehmen konnte. Ab jetzt springt
die Geschichte zwischen dem Moment, in dem Didier hinter dem
Krankenwagen mit Elise herfährt, Konzertausschnitten der
beiden Countrysänger und der Zeit der Trauer, die sie nicht
bewältigen können, die sie einander nicht ertragen
lässt. "Und wenn ich glaube, dass mir meine Tochter
in einem Vogel wiederbegegnet oder in einem Schmetterling auf
meiner Schulter oder in einem Frosch, dann ist das so",
erklärt Elise wütend. Da nennt sie sich längst
"Alabama" und hat das Tattoo "Didier" mit
einer Waffe überstochen. Am Ende sitzt Didier am Feuer
vor seinem Haus und sieht dem Hund zu, wie er hinter den Hühnern
herjagt. Musik und Schluss.
"Ich
kann noch immer nicht das Ende sehen", erzählt Johan
Heldenbergh. Seit 11 Jahren hat er ein Kind und damit erfahren,
dass er nicht nur für sich selbst Verantwortung trägt,
sondern auch, wie groß die Angst um das geliebte Wesen
ist. Die Countrymusik versteht er als ehrliches Genre, das meist
traurige Geschichten erzählt, von dem Verlust der Mutter
oder von einer unglücklichen Liebe. Die CD zu diesem Film
ist seit Wochen auf Platz 1. Zu recht.
Nun muss
man aber endlich mal sagen, dass dieser Film kein reiner Heulfilm
ist. Die Geschichte hat auch ihre heiteren Episoden und nimmt
den Zuschauer mit auf die Reise einer ganz großen Liebe.
So mitgenommen zu werden, das hat man selten.
FAZIT
In 23 von
42 Berlinale-Filmen, die ich gesehen habe, ist jemand gestorben,
und das waren meistenteils die stärksten Filme.
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Zehnter Tag
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16. Februar 2013
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Von
Astrid Mathis
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Was
habe ich mich aus dem Bett gequält nach der Teddy-Party
in der Station am Gleisdreieck! Wo ich Martha Wainwright noch
zu ihrer tollen Dokumentation "Sing me the songs that say
I love you" für ihre verstorbene Mutter gratuliert
und Klaus Wowereits Anzug gestreift habe. Es ist zehn nach halb
neun. Für den Publikumstag morgen brauchen die Journalisten
Tickets, doch - Schreck lass nach - das System funktioniert
nicht. Nirgendwo. Die Schalterfrau sagt ehrlich, sie wisse nicht
mal, ob es heute überhaupt wieder hinhaut. Es gehen die
wenigsten. Ich halte eine halbe Stunde im Stehen durch, dann
setze ich mich mit meiner Zeitungssammlung auf den Boden. Ein
Schaltermann kommt vorbei und verteilt selbstgebackene Kekse,
ein Mädel bringt Schweizer Schokolade. Ich überlege,
ob ich nicht doch das Warten sein lasse und mich an den Computer
setze, da schlägt es zehn Uhr, und der Ticketverteilung
steht nichts mehr im Wege.
Perspektive
Deutsches Kino
"Einzelkämpfer"
Sandra Kaudelka
war Turmspringerin, als fünfjähriges Mädchen
herausgefischt für den DDR-Spitzensport. Ihre Bilder gehen
jedem gleichaltrigen Zuschauer unter die Haut. Es sieht erst
mal alles so friedlich aus, wie der Chor singt. Sie hat vier
Sportler gefragt, ob sie ihr bei der Arbeit an ihrem DFFB-Abschlussfilm
helfen. Warum sie alle mitmachten, weiß sie nicht genau.
"Ich glaube, sie haben mich unterschätzt." Kugelstoßer
Udo Beyer auf jeden Fall. Er meinte: "Klar helfe ich dir,
Kleene. Kommste mal vorbei in meinem Reisebüro." Er
hatte meist nur eine Stunde Zeit, aber das half. Brita Baltus
war ihr Vorbild im Turmspringen. Marita Koch wollte sie unbedingt
- die einstige Spitzensportlerin hält bis heute den Rekord
über 400 Meter. Für sie lief es doch gut. Sie stellte
aber von vornherein klar, dass Doping kein Thema in der Doku
sein sollte. Nur so viel: Nach der Premiere gab sie preis, ihr
sei etwas angeboten worden, das sie nicht angenommen habe. Sprinterin
Ines Geipel teilt die Erfahrung des Drills mit der Regisseurin.
Kaudelka hatte sogar im Sportinternat mal gestreikt. "Aber
wir waren junge Mädchen und haben das nicht lange durchgehalten."
Der Moderator im Colosseum an der Schönhauser Allee ist
tief bewegt, seine Stimme zittert. Sandra Kaudelka hat viele
bewegt und ein starkes Stück Doku-Filmgeschichte geschrieben.
Preisverleihung
Es gewinnt
"Child's Pose" (Die Stellung des Kindes), der Montagmorgen-8
-Uhr-30-Film, und das ist keine große Überraschung.
Auch alle anderen Filme, von denen ich etwas halte, haben einen
Preis bekommen. Nur den Alfred-Bauer-Preis verstehe ich nicht.
Dieses Frauen-Bärenfallen-Drama, das einem der Regisseur
hinwirft wie Knochen von verschiedenen Tieren, die man zusammensetzen
soll. Begründungen gibt es keine mehr, nur "sie haben
was gewagt". Na, danke. Bisher hat diesen Preis immer der
beknackteste Film bekommen. Die Berlinale bleibt sich treu.
Auch mit einem Jury-Präsidenten wie Wong Kar Wai. Wenigstens
konnte die Kanadierin Anne-Christine Roger mal richtig aus sich
rausgehen, als während der Live-Übertragung im Cinemaxx
3 der "Vic und Flo haben einen Bären gesehen"-Film
einen Preis absahnte. Absolutes Stillschweigen von ihren Kollegen,
während sie ihre Haare warf, die Arme nach oben riss, aufsprang
und wie verrückt kreischte. "Der Titel war Konzept",
meinte Regisseur Denis Côte knapp. Ja, der Titel war das
Beste.
Frenetischen
Jubel gab es allerseits erst, als Regisseur Andreas Dresen freudestrahlend
den Preis an die beste Schauspielerin, nämlich Paulina
Garcia, weiterreichte, die ablolute Sympathieträgerin des
Festivals.
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Neunter Tag
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15. Februar 2013
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Von
Astrid Mathis
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Wettbewerb
"The
Croods"
(Animationsfilm/USA/außer Konkurrenz)
"The
Croods", eine Vorvariante der Feuerstein-Familie, habe
ich nicht gesehen, weil der Film eh in die Kinos kommt. Doch
in die Pressekonferenz habe ich schon mal reingelauscht. Emma
Stone erklärte, diese Geschichte hätte einfach alles,
sie wäre lustig und herzergreifend, erzähle von alltäglichen
und besonderen Dingen. Wichtig bzw. auffallend sei, das bemerkte
Nicolas Cage, dass die Szenen, in denen geschwiegen wird genauso
lang sind wie die, in denen gesprochen wird. Ein Journalist
fragt ihn, was er machen würde, wenn jetzt die Welt unterginge.
Gegenfrage: "Singen und Tanzen vielleicht. - Was habe ich
noch nicht gemacht?" Uwe Ochsenknecht meint, er hoffe,
er hätte noch ein, zwei Jahre.
Pressekonferenz
"The Croods",
u.a. mit Emma Stone, Nicolas Cage, Uwe Ochsenknecht und Kostja
Ullmann
Wettbewerb
"Elle
s'en va"
(französisch)
"On
my way" oder "Ich bin dann mal weg"
Catherine
Deneuve spielt eine Restaurantbesitzerin, die mit ihrer äußerst
agilen Mutter zusammenlebt. Und fast möchte man sich wundern,
wie so was möglich ist, wenn die Tochter die 60 erreicht
hat, da fangen die beiden schon einen Streit wie aus dem Nichts
an. Am Ende flüchtet Bettie (Catherine Deneuve) ins nächste
Zimmer und raucht heimlich. Schuld daran ist ja nur, dass ihr
Geliebter sie verlassen hat. Am nächsten Tag verabschiedet
sich Bettie zum Zigarettenholen, aber sie tritt zu Musik von
Rufus Wainwright ("I don't know where I'm going when I
don't know that I'm walking") aufs Gas. In einem Dörfchen
fragt sie einen alten Mann nach Zigaretten. Er bittet sie in
die Küche und dreht ihr eine. Aber wie lange er dafür
braucht?! Es ist die wohl schönste Szene im Film. Bettie
wartet aufgeregt und bewundernd zugleich, sie hört auf
die Liebesgeschichte des Mannes, der erzählt, seine Liebste
wäre mit 21 an Tuberculose gestorben. Danach hätte
er auf ihren Rat hin ein ruhiges Leben geführt.
Bettie will
aber offensichtlich kein ruhiges Leben. So landet sie zuerst
in einer Bar und zu guter Letzt im Bett eines Typen, der ihr
Sohn sein könnte und ihr ein tolles Kompliment macht: "Du
warst sicher mal wunderschön." Sie war Miss Bretagne,
klärt sie ihn auf. Dann flieht sie zurück auf die
Landstraße, holt ihren Enkel von ihrer Tochter ab, zu
der sie ein unterkühltes Verhältnis zu haben scheint.
Doch immerhin, Enkel und Oma werden bald warm miteinander. Bettie
fährt mit ihm sogar zum Treffen ehemaliger Miss-Wahl-Siegerinnen
von 1969. Eine ganz typisch französische Komödie,
die sehr unterhaltsam ist.
Pressekonferenz
Die Deneuve
raucht heute nicht. Nein, das hat sie sich abgewöhnt, seitdem
sie gesehen hat, dass das einzige Bild in der Zeitung dann eins
mit einer Zigarette ist. Sie ist eine Diva. Sie darf alles,
auch nicht rauchen. Die Regisseurin des Films Emmanuelle Bercot
himmelt sie an. Nur weil die Deneuve die Deneuve ist, gibt es
überhaupt diesen Film. Einer der Journalisten will sich
mit dieser Antwort nicht zufrieden geben und hakt nach, ob nach
Hanekes Erfolg mit "Liebe" das Thema Liebe im Alter
ein Thema geworden sei. Er redet nun auch noch von Senilität
und archäologischen Museen. Die Bercot lacht sich einen
Ast, und die Deneuve meint, bei "Museen" und "senil"
könne sie ihm nicht mehr folgen. Wahrscheinlich war das
der Moment, in dem sie sich spätestens eine Kippe angesteckt
hätte. Aber die Fragen werden leichter. Warum sie einen
BMW fahre zum Beispiel. Das wollte die Regisseurin, etwas Solides
und Zuverlässiges. Dafür seien die Deutschen doch
bekannt, nicht wahr? Nächste Frage: "Finden Sie es
schwierig zu altern - als Frau und als Schauspielerin?"
Ja, das findet Catherine Deneuve sehr schwierig, gibt sie unumwunden
zu, und natürlich hält sie die Liebe im Alter für
möglich. Die meisten Glücksmomente datiert sie aber
auf ihre Kindheit, "weil man sorglos ist als Kind."
Später seien es weniger Augenblicke. Nicht, dass ein falscher
Eindruck entsteht, sie ist durch und durch Optimistin und freute
sich, einen humorvollen Film zu drehen. Wetten, dass sie sich
nach der Pressekonferenz eine Zigarette angesteckt hat?
Retrospektive
"To
be or not to be" - "Sein oder Nichtsein"
(USA, Regie: Ernst Lubitsch)
Ein Juwel.
Nach Chaplins "Diktator" und "To be or not to
be" (1942) kommt erst mal ganz lange nichts, was man als
würdige vergleichbare Parodie über Hitler bezeichnen
könnte. Die Komödie, die an Sarkasmus und Ernsthaftigkeit
nicht zu überbieten ist, lebt von ihrem Tempo. Theaterregisseure
bemühen sich seit Jahren, einen Hauch von diesem Film auf
die Bühne zu katapultieren. Vergebens.
Dabei beginnt
die Geschichte ziemlich simpel im Jahre 1939 in Warschau. Dort
probt das Theaterensemble ein antifaschistisches Stück,
bis es aus Angst vor dem Hitlerregime durch "Hamlet"
ersetzt wird. Die Hauptrolle spielt Joseph Tura, dessen Ehefrau
Maria auf den Flirt eines jungen Fliegers, Stanislaw Sobinski,
eingeht und ihn bittet, den Saal zu verlassen, sobald ihr Mann
sagt: "Sein oder Nichtsein". Das Verschwinden des
Fliegers aus der 2. Reihe wiederum betrachtet Joseph Tura als
Respektlosigkeit. Und das ist erst der Anfang. Letzten Endes
spielt das gesamte Ensemble Besatzer, und wie die Akteure aus
der Geschichte lebend rauskommen, muss man auf der Leinwand
einfach gesehen haben.
Forum
"Vaters
Garten - Die Liebe meiner Eltern"
(Schweiz)
Als Peter
Liechti seinen Vater 2010 zufällig beim Einkaufen traf
und beide nicht wussten, wie sie reagieren sollten, kam ihm
die Idee einer Dokumentation. Sohn und Eltern war vermutlich
nicht klar, auf was sie sich da eingelassen hatten. Jahre filmte
Liechti seine Eltern im Alltag. Die Interviews ließ er
von Hasen-Handpuppen nachspielen. Dabei erzählen sie von
ihren Auffassungen: Der Vater hat seinen Garten gern ordentlich.
(Er führt täglich Protokolle, aber mit 90 will er
das Gärtnern sein lassen, weil das nicht normal wäre.)
Die Mutter findet Ablenkung im Gemeindekreis, wohin er zu Anfang
nur ihr zuliebe mitging. Ihre Freiheit habe sie über den
Glauben gefunden und so auch die Depression überwunden.
Sie seien ganz verschieden, stellt die Mutter fest und betont
immer wieder, wie gern sie ihren Mann hat. Der meint, Frauen
könnten leichter über Gefühle reden als Männer.
Die Mutter, die gern liest und gern gereist wäre auf der
einen Seite, der Vater, der gern in Gesellschaft und am liebsten
zu Hause ist auf der anderen. Wenn er sagt, dass kein Griff
an die Wanne muss, weil mit den zwei Löchern die Nachmieter
Ärger machen würden, dann ist das so, auch wenn die
Mutter schon mehrmals ausgerutscht ist. Er trägt auch zeitlebens
dieselbe Frisur. Mit seiner Weltsicht ist er klar für die
komischen und bitteren Momente im Film verantwortlich, mehr
als seine Frau. "Er ist vor meinen Ansprüchen geflohen",
sagt sie. Und er findet: "Die Frau darf ihre Meinung sagen,
aber der Mann hat das Sagen."
Wenn es
um Gott geht oder seine Schwester zu Besuch kommt oder ihm richtig
was zusetzt, lässt Peter Liechti schräge Töne
eines Saxophons erklingen. Zum Beispiel, wenn er seine Mutter
und Schwester fragt, wo er denn hinkäme, wenn die beiden
in den Himmel kämen. Blicke. "Ich bete, du kommst
auch in den Himmel", meint die Mutter schließlich.
Eine sehr
humorvolle und einfühlsame Studie über ein Paar, das
65 Jahre verheiratet ist.
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Achter Tag
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14. Februar 2013
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Von
Astrid Mathis
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Wettbewerb
"Uroki
Garmoni"
(kasachisch)
Von harmonischen
Unterrichtsstunden kann nicht die Rede sein, aber das kann man
sich schon denken, wenn das erste, was man sieht, ein Junge
ist, der im tiefsten Winter einem Schaf nachrennt, es dann schlachtet
und ausnimmt. Der Held des Films - Aslan - lebt bei seiner Großmutter
und quält Kakerlaken so, wie seine Schulkameraden ihn quälen.
Nach einem gemeinen Streich während der Schuluntersuchung
lassen sie ihn zwar in Ruhe, aber seine Klassenkameraden werden
von einer Schülermafia gezwungen, ihn zu meiden. Deren
Anführer ist Bolat. Das ist dem Neuen aus der Stadt egal,
er setzt sich zu ihm und wird sein Verbündeter. Nach einem
Streit, bei dem die beiden zusammengeschlagen werden, weil sie
ihr Geld nicht abgeben wollen, findet die Polizei den Anführer
tot auf. Einer von ihnen muss es getan haben. Mit brutalen Mitteln
versuchen die Polizisten, herauszufinden, wer der Täter
ist, und setzen damit die Mafiazustände fort. Doch die
Jungen schweigen. Ein starker Film mit einer außergewöhnlichen
Kameraarbeit.
Retrospektive
"Ein
Sommernachtstraum"
(USA: Max Reinhardt / William Dieterle)
Jetzt mal
ehrlich: Nach so viel schwer Verdaulichem muss ein Klassiker
her. Und was für ein Geschenk aus dem Jahr 1935 hat die
Berlinale mit diesem Film allen Kinogängern gemacht! Olivia
de Havilland gibt als Hermia ihr Leinwanddebüt, weil die
eingeplante Gloria Stuart (die erst als alte Rose in James'
Camerons "Titanic" 1997 zu Weltruhm gelangte) erkrankt
war. 20000 Menschen hatten das Stück gesehen, das dieser
Verfilmung vorausging. Alle Charaktere legen ihre Einstellung
zueinander schon beim Einstieg in den Gesang bloß. Die
Spezialeffekte sind reizend, die Kostüme ein Traum (das
Schlangenkleid von Hippolyta ist Wahnsinn), das Tempo ist sagenhaft,
die Musik Rhythmus gebend. Ist ja auch Felix Mendelssohn zu
verdanken. Das sind noch richtig gute Regieeinfälle. Nie
hätte ich gedacht, über den Auftritt der Handwerker
beim Hochzeitsfest von Hippolyta und Theseus nach unzählig
gesehenen Varianten so lachen zu können. Als Thisbe nach
einem Schwert ruft, um sich selbst zu töten, suchen ihre
Handwerkerkollegen hinter der Bühne nach einem eben solchen,
während der längst verstorbene Pyramus ihr seines
sehr lebendig zureicht. Das ist ein Schwert zu viel. Sehenswert
ist der Film außerdem wegen der energiegeladenen Darstellung
des Puck. Mickey Rooney, der aus einer Artistenfamilie stammt
und später an der Seite von Liz Taylor und Judy Garland
brillierte, spielt sich damals 15-jährig in die Herzen
der Zuschauer. Gucken!
Panorama
"Reaching
for the Moon"
(englisch/portugiesisch)
Ein
Frauengemälde
Dieser Film
macht eindeutig Werbung für Rio de Janeiro, was allein
die minutenlang eingeblendeten Sponsoren belegen. Aber er macht
Rio auch noch aus einem anderen Grund interessant. Denn in diesem
Film erfahren wir nicht nur, wer die amerikanische Lyrikerin
Elizabeth Bishop zu ihren Gedichten inspirierte, sondern auch
die Vorgeschichte zum Bau des Parque do Flamengo, der heute
noch zu bewundern ist. Doch der Reihe nach.
Elizabeth
Bishop (wunderbar vielschichtig gespielt von Miranda Otto) besucht
1951 ihre Schulfreundin Mary (Tracy Middendorf) in Rio, die
mit ihrer großen Liebe, der Architektin Lota de Macedo
Soares (Gloria Pires) zusammen ist und dafür sogar den
Bruch mit ihren Eltern in Kauf nimmt. Mary spürt, dass
zwei gegensätzliche Charaktere aufeinander prallen: Lota
ist immer zu direkt und Elizabeth immer zu zurückhaltend.
Trotz der verschiedenen Welten, die sich hier begegnen, ist
klar, dass die beiden ein Paar werden müssen. Ein schwerer
Schlag für Mary, die ihre einzige Chance, Nähe zu
bewahren, darin sieht, auf dem Grundstück mit einem angenommenen
Kind weiterzuleben. Ein Kind, für das Lota die Oma und
Elizabeth die Tante spielen will. So das Angebot von Lota. Alles
scheint möglich. Lota sprengt mal so eben einen Berg auf
ihrem Anwesen weg, um Elizabeth einen hellen großen Raum
für ihre literarische Arbeit zu geben. Und ist letztlich
nicht ganz unschuldig am lyrischen Werk ihrer Geliebten, das
sogar mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnet wird. Sie sagt: "Wenn
ich habe, was ich will, habe ich Angst, es zu verlieren. Als
Lota sich ihrem neuen Projekt, der Gestaltung des Parque do
Flamengo, zuwendet und weniger Zeit mit Elizabeth verbringt,
verfällt diese dem Alkohol. Schließlich geht Elizabeth
zurück nach Amerika, um Literatur zu unterrichten.
Der Film
von Bruno Baretto holt nicht nur die 50er Jahre auf die Leinwand,
sondern rückt zwei starke Frauen ins Rampenlicht, die ihre
Zeit geprägt und literarischen wie auch architektonischen
Reichtum hinterlassen haben, die von Rio geprägt waren
und von einer Liebe, die einfach in die Brüche gehen musste.
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Siebenter Tag
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13. Februar 2013
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|
Von
Astrid Mathis
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Wettbewerb
"An Episode in the Life of an Iron Picker" - "Eine
Episode in dem Leben eines Schrottsammlers"
(bosnisch)
Ob
ich die wacklige Handkamera aushalte, weiß ich anfangs
noch nicht, aber was da erzählt wird, ist zu gut in seiner
Schlichtheit, da nehme ich die Kamera in Kauf. Es ist Winter.
Nazif und Senada leben ein bescheidenes Leben in ihrem Dorf
mit ihren zwei Töchtern, dort, wo nur Roma zu Hause sind.
Senada macht die Wäsche, versorgt die Kinder, Nazif zerlegt
Autos und holt sich das Geld für den Schrott ab. Eines
Tages bekommt Senada so starke Bauchschmerzen, dass sie ins
Krankenhaus muss. Nach der Untersuchung wissen sie: Das Kind
in ihrem Leib ist tot und muss dringend raus. Das kostet aber
950 Euro ohne Versicherung, und weil die beiden die Summe nicht
aufbringen können, werden sie weggeschickt. Zu Hause leidet
Senada still auf dem Sofa, während Nazif nach einer Lösung
sucht, Müllhalden durchstöbert, im Verein für
Roma-Frauen vorspricht. Noch einmal fahren sie ohne Geld ins
Krankenhaus, als es Senada schlechter geht. Wieder nichts. Überall
bemüht sich Nazif, letztlich rettet eine geliehene Versicherungskarte.
Ein Betrug. Roma wird nicht geholfen.
Diese Geschichte
ist wahr. Nur die Ärzte sind Schauspieler. Nachdem der
Regisseur Danis Tanovic aus der Zeitung von dem Schicksal der
beiden erfahren hatte, recherchierte er und bat dann Nazifs
Familie, noch einmal durchzuspielen, was sie erlebt hat. In
der Pressekonferenz hält Senada einen kleinen Jungen auf
dem Arm. Regisseur Danis Tanovic hat einen wichtigen Film gemacht,
der nie aufdringlich wirkt, obwohl die Ungerechtigkeit zum Himmel
stinkt.
Wettbewerb
"Prince
Avalanche"
(USA)
Zwei
wie Feuer und Wasser
1988. Zwei
Männer im Wald. In Texas hat es verheerend gebrannt, und
jetzt ist es die Aufgabe von Alvin (Paul Rudd) und Lance (Emile
Hirsch), die Fahrbahnmarkierung aufzuhübschen. Klingt nicht
so aufregend, ist aber sehr unterhaltsam. Alvin hat Lance nämlich
nur angeheuert, weil er der Bruder seiner Freundin Madison ist.
Für die verdient er weit weg von daheim das Geld. Für
Lance ist es eine Strafe, mit Alvin zu arbeiten, denn der hört
nicht nur lieber einen Deutschsprachkurs als Rockmusik, nein,
er hat auch kein Verständnis dafür, dass Lance endlich
eine Frau flachlegen will und dem Wochenendspaß entgegenfiebert.
Klar, dass es zwischen den Männern knallt, als Alvin herauskriegt,
dass Lance einen Brief von Madison gelesen hat, in dem sie Schluss
macht. Alvin muss sich nicht mehr um einen guten Ton bemühen,
jetzt kommen die Karten auf den Tisch, und die Männer stellen
fest, dass sie sich allerhand zu sagen haben. Sie jagen sich
durch den Wald und haben merkwürdige Begegnungen, mit einem
alten Trucker und einer alten Frau, die in einem niedergebrannten
Haus nach ihrem Pilotenschein sucht.
Der Film
von David Gordon Green ist ein Remake einer isländischen
Komödie von 2011, und zwar ein gutes. Dass ihn Wim Wenders
"King's of the Road" inspiriert hat, verwundert ein
bisschen, vielleicht hat er Alvin deshalb auf den Deutschkurs
gebracht. Diese Qualität eines Märchenwaldes, einer
geisterhaften Landschaft verbindet sich mit starken Dialogen
zu einem gelungenen Film.
Pressekonferenz
Emile Hirsch
hat es als Naturbursche geliebt, mal so richtig nervig zu sein.
Der Dreh war Gottseidank nicht so lang. Paul Rudd fühlte
sich jeden Tag, als wären sie auf einem Campingplatz. Und
David Gordon Green plaudert aus, dass er den Trucker entdeckte,
als er eine Werbung drehte. Lance LeGould war der lauteste und
hörte drei Tage nicht auf zu reden, als Green ihn ansprach.
Dieser Mann spielte in 15 Filmen an der Seite von Elvis Presley
und hatte keine Lust, eine Rolle vorzusprechen. "Ich sing'
dir lieber ein Lied", hatte er gesagt und war so im Film
gelandet. Zu schade, dass er inzwischen verstorben ist. Solche
Typen braucht das Kino.
Nach
der PK gab Paul Rudd Autogramme und beantwortete weiter Fragen.
Wettbewerb
(außer Konkurrenz)
"Nachtzug nach Lissabon"
Was
geschieht mit dem Rest?
Jeden Tag
dasselbe. Aufstehen, Schachspielen, zur Schule. In dem Leben
von Lateinlehrer Raimond Gregorius (Jeremy Irons) passiert nichts
Aufregendes, bis er eines Morgens im Regen eine Frau auf der
Brücke sieht, die kurz vor dem Absprung steht. Er nimmt
sie mit in die Schule, aber kaum ist sie da, verschwindet sie.
Ihren roten Mantel lässt die geheimnisvolle Fremde zurück.
Darin ist ein Buch von Amadeu de Prado. Das passt zusammen.
Rot der Mantel - wie die Liebe, wie die Fahne der Revolution.
Dabei war Amadeu mehr ein Denker als ein Revolutionär.
Raimond saugt geradezu auf, was er liest - dank Wörterbuch,
und er steigt auch in den Zug nach Lissabon, für den Tickets
im Buch liegen. Was verpasst er denn schon? Er will mehr über
diesen Philosophen und Arzt wissen, der ihn so berührt
und taucht ein in ein altehrwürdiges Lissabon, das den
Zuschauer sofort gefangen nimmt. Die Schwester Adriana (Charlotte
Rampling) sucht er als erstes auf. Sie erzählt von ihrem
Bruder, als würde er noch leben, und zeigt ihm seinen Lieblingsraum.
Alles voller Bücher.
So langweilig
das Leben des Lateinlehrers bis zu der Entdeckung des Buches
war, so anregend ist für ihn de Prados Frage: "Wenn
wir nur einen Teil des Lebens leben, das in uns ist, was passiert
dann mit dem Rest?" Raimond beschäftigt sich nicht
mit seinem Leben und ist deshalb auch so vernarrt in die Geschichte
um Amadeu, der an der Seite seines Freundes Jorge zum Revolutionär
wird. Bei seiner Recherche stößt der Lehrer nur auf
kleinen Widerstand. Martina Gedeck spielt Optikerin und Nichte
von Joao, der ebenfalls der Widerstandsgruppe angehörte.
Nur Jorge (Bruno Ganz), einst Amadeus bester Freund, will erst
mal nicht über die Vergangenheit reden. Wie unbedeutend
kommt Raimund sein Leben im Vergleich zu dem de Prados vor?!
Und wie sehr muss er über sein eigenes nachdenken.
Stück
für Stück setzt Gregorius das Puzzle um die Zeit vor
und nach dem Sturz der Salazar-Diktatur im Revolutionsjahr 1974
zusammen, das eine Lebens- und Liebesgeschichte verbirgt, wie
sie der Romanautor Pascal Mercier vorgelegt hatte.
Pressekonferenz
Bille
August, Martina Gedeck und Jack Huston
Nein, Regisseur
Bille August wollte keinen politischen Film machen, vielmehr
einen schönen und geschichtsträchtigen, der von seinen
Stars lebt. Da macht es nichts, dass die deutschen Schauspieler
wie August Diehl, Bruno Ganz und Martina Gedeck Englisch mit
portugiesischem Akzent reden. Es hatte drei Jahre gedauert bis
zum ersten Drehtag, offensichtlich galt es eine Menge Leute
zu überzeugen. August wollte die Natürlichkeit des
philosophischen Stoffes bewahren und gab Textpassagen aus dem
Off von Jack Huston gesprochen rein, der als poetisch-philosophischer
Aufrührer überzeugt. Vielleicht liegt es an der genauen
Recherche über die Zeit und die Menschen von damals, das
ihm seine Rolle wie auf den Leib geschneidert zu sein scheint.
Der Brite Jeremy Irons las den Roman erst, nachdem er das Drehbuch
angeboten bekommen hatte, und stellte fest, dass viele seiner
Freunde das Buch kannten und davon schwärmten. Endlich
konnte Irons mit Martina Gedeck drehen. Ihr Part wurde vergrößert,
was die Schauspielerin zugegegebenermaßen freute. Irons
wiederum war es eine Freude, nach 20 Jahren wieder in Lissabon
zu sein, in das er sich vor langer Zeit verliebt hat. Und gerne
würde er dort weiterdrehen, "Nachtzug nach Lissabon
2" zum Beispiel. Ein offenes Ende gibt es ja praktisch
nicht: "Wenn Martina fragt, ob man bleiben möchte...",
sagt der Brite und muss den Satz gar nicht beenden. Es muss
der Himmel sein, an der Seite von Martina Gedeck spielen zu
dürfen. Vielleicht erklärte Irons den Film auch deshalb
zum glücklichsten, den er seit langem hatte.
Mélanie
Laurent, Jeremy Irons und Bille August
Martina
Gedeck
Bille
August scheint nach der PK erleichtert zu sein.
Publikumsnah
- Mélanie Laurent posierte gern mit Fans
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Sechster Tag
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12. Februar 2013
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Von
Astrid Mathis
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"Side
Effects - Nebenwirkungen"
(USA)
Arzt in Bedrängnis
Der
Regisseur Steven Soderbergh sieht irgendwie zerknirscht aus,
wie er da auf dem Podium sitzt. Er merkt, dass sein Film "Side
effects" die Presse nicht umgehauen hat. Enttäuschung
auf beiden Seiten. Der Film handelt von einem Tablettenskandal.
Eine junge Frau holt ihren Mann vom Gefängnis ab. Vier
Jahre waren sie getrennt. Jetzt kommt sie mit seiner Rückkehr
nicht zurecht. Nach einem Selbstmordversuch behandelt die
junge Frau Jonathan Banks (Jude Law), der außerdem noch
Tablettentester zu Forschungszwecken ist, und verschreibt
ihr Antidepressiva, spricht mit ihrer früheren Ärztin
Victoria Siebert (Catherine Zeta-Jones). Emily steht immer
öfter völlig neben sich, schlafwandelt und tötet
letztlich ihren Mann (Channing Tatum) dabei. Jude Law steht
in ihrer Schuld, seine Patientin gilt als unzurechnungsfähig,
und er hat seinen guten Ruf und den Job als Tester verloren,
für den es extra Geld gab. Seine Kollegen sind mit in
Verruf geraten. Seine Frau schiebt die Besessenheit von dem
Fall auf Laws Faszination für das Mädchen. Doch
er ahnt, es steckt mehr dahinter. Er soll Recht behalten.
Der
psychologische Thriller mit einer Vielzahl von Wendungen nimmt
einen schon mit auf die Reise, zuerst aus Emilys Blickwinkel,
dann aus dem des Arztes. Überraschungseffekte sind bei
den Nebenwirkungen ja zu erwarten, und unterhaltsam ist der
Film allemal. Nur der Knalleffekt bleibt aus.
Die
Pressekonferenz
Vor
zehn Jahren begann Steven Soderbergh mit der Recherche zu
dem Film in verschiedenen psychiatrischen Einrichtungen in
New York. Zum fünften Mal ist er Gast auf die Berlinale.
Seine größte Herausforderung bei dem Film waren
die ersten 45 Minuten. "Den 1. Akt aufzubauen."
Die Hauptdarstellerin Rooney Mara weiß auf die Frage
nach Herausforderungen während der Dreharbeiten keine
Antwort, zuckt die Schultern, wirkt gleichgültig. "Es
gab keine", sagt sie noch. Dann kommentiert Soderbergh:
"Offensichtlich diese Pressekonferenz." Danach hat
keiner mehr Lust, Rooney Mara noch irgendwas zu fragen. Als
der Thriller an Hitchcock angelehnt erklärt wird, meint
Soderbergh, es sei immer die Schuldfrage das Interessanteste
und in diesem Fall die Übertragung der Schuld von einem
auf den anderen. Jede Veränderung des Blickwinkels bildet
den Auftakt für einen neuen Akt. Einem der Journalisten
lässt es jetzt doch keine Ruhe, Jude Law, der mit seinen
unterschiedlichen Gesichtsausdrücken für Unterhaltung
sorgt, in die Geschichte so wehrlos hineingezogen zu sehen.
"Sie sind zu ruhig", behauptet er, woraufhin Law
charmant "sorry" erwidert. Wie seine Erfahrung mit
Tabletten ist, das heißt, mit dem Umgang in Amerika
und England, mal so zum Vergleich, will einer wissen. Da könne
er nicht mitreden, erklärt er: "Ich nehme nicht
mal Kopfschmerztabletten." In Vorbereitung auf den Film
traf er sich mit Ärzten und Patienten. Seine größte
Herausforderung war es eben, Dr. Banks zu werden.
Ach
Jude, sei doch einfach du selbst.
Grimassenschneider
Jude Law:
Fleißig
beim Schreiben von Autogrammen:
Jude Law
Steven
Soderbergh
Wettbewerb
"Camille
Claudel 1915"
(französisch)
Von
der Sehnsucht nach Freiheit
Ihre
Haare sind zerzaust, sie hat dem Zuschauer den Rücken
zugewandt und wird im nächsten Moment ins Bad gezerrt.
Zwei Schwestern waschen sie. Schon der erste Blick von Juliette
Binoche, die in die Rolle von Camille Claudel schlüpft,
verrät ihre Trauer und ihre Aufruhr allem gegenüber,
das ihr widerfährt. Sie darf in den Mauern dieser Irrenanstalt
keine selbstbestimmte Frau mehr sein. Ihre Liebe zu Rodin,
der sie schon 20 Jahre zuvor verlassen hat, die Angst vor
Neidern und einer Vergiftung haben sie da hingebracht, wo
sie jetzt ist. Noch dazu als Frau. Mit schäbiger Kleidung,
mit keinem Anrecht auf Privatsphäre, mit wenigen Besuchern.
Wie sie auf den knorrigen Baum starrt, der seine Äste
nach oben reckt, lässt uns ahnen, aus diesem Gefängnis
kommt sie nie raus. Doch Camille weiß das noch nicht,
sie ist stolz und ungebrochen, bittet um Freilassung. Sie
fragt den Arzt immer wieder nach dem Grund ihres Aufenthaltes,
ob es ein Verbrechen gewesen sei, als Frau allein zu leben.
Ihr einziger Lichtblick ist ihr Bruder Paul, der seinen Besuch
angekündigt hat. Sie betet: "Mach, dass es aufhört"
und geht mit einem beschwingten "Halleluja" aus
der Kirche. Um sie herum sind behinderte Menschen, die sie
annehmen wollen, aber sie will gar nicht dazugehören.
Rührend die Szene, in der sie die Probe zweier Patienten
beobachtet. In einem Moment kann sie darüber lachen,
im nächsten bricht sie in Tränen aus. So ist dieser
Film ein Leidensfilm, so gut Juliette Binoche auch spielen
mag. Besonders leidvoll wird es, als ihr Bruder auftaucht,
zu dem sie eine innige Verbindung gehabt haben soll, der aber
in seiner übertriebenen und arroganten Art des Glaubens
unerträglich unsympathisch wirkt. Er holt sie da nicht
raus. 29 Jahre nicht, bis sie stirbt.
Die
Pressekonferenz
Man
hat dem Film angemerkt, dass Juliette Binoche groß rauskommen
soll. Die vielen Nahaufnahmen, das Leiden. Man weiß
auch, dass sie einen sofort rührt mit ihrem verlorenen
Blick, aber ihr letzter Film auf der Berlinale ("Elles")
hatte mehr, war dezenter. Juliette Binoche mochte die Geschichte
von Camille Claudel. Und der Regisseur wollte lieber ein einfaches
Motiv, eine simple Geschichte, in der nicht viel passiert,
die aber von Juliette Binoche getragen wird. Ihre einzige
Freude waren eben die Besuche ihres Bruders. Juliette Binoche
wollte immer schon die einstige Geliebte des Bildhauers Rodin
spielen. Sie hat alle Bücher gelesen, verrät sie
in der PK. Das Verlassen zu verstehen, nicht mehr bildhauerisch
tätig zu sein, nicht mehr zu sprechen, das hat die Binoche
empfinden lassen, was Camille Claudel damals empfunden haben
muss. Den Film drehte Bruno Dumont in einer echten französischen
Anstalt. Die Schauspielerin verbrachte Stunden mit den Menschen
dort und mit den Psychiatern, um Verbindung aufzunehmen, wissend,
dass Camille anders war, zwischen Kunst und Wahnsinn. Sie
wollte unbedingt diese Geschichte erzählen, von der Ungerechtigkeit,
mit der Außenwelt nicht kommunizieren zu dürfen.
Ihr erstes Buch über die Künstlerin las sie mit
16 Jahren. "Auch wenn der Wahnsinn mir Angst macht, man
lebt in einem Zustand der Erkundung", reflektiert die
Schauspielerin. Der Bruder hatte keine schöne Rolle,
weil er sehr extravagant war in seiner Liebe zu Gott und in
seinem Dichtertum und er seiner Schwester nicht half, obwohl
ein Arzt empfahl, sie zu entlassen. Trotzdem waren sich die
Geschwister sehr nah. Dass ausgerechnet das Jahr 1915 ausgewählt
wurde, erklärt der Regisseur sehr einfach. Als Camille
ihr Talent auslebt und sich in Rodin verliebt, ist sie 18.
Das Alter sollte mit dem Juliette Binoches allerdings in etwa
übereinstimmen. "Warum hat sie sich nicht umgebracht?"
fragt einer der Journalisten schließlich. "Sie
wollte leben", antwortet Juliette Binoche, "sie
sah im Selbstmord keine Möglichkeit, auszubrechen. Das
Schreiben war ihre Flucht. Außerdem wusste sie ja nicht,
dass sie nicht rauskommen würde. Sie hat es immer gehofft."
Berlinale
Special
"The
best Offer" - "Das beste Angebot"
(Regie:
Guiseppe Tornatore)
Das
Geheimnis der Frauen
Mann,
ist der eitel! Er färbt sich die Haare, er hat eine Kollektion
Handschuhe wie andere Leute Schuhkollektionen, er ist unnachgiebig
sauer, wenn sein Angestellter Billy (Donald Sutherland) sich
ein Gemälde wegbieten lässt. Dieser Mann ist ein
Könner im Fach Auktion. Virgil Oldman (Geoffrey Rush)
hat seine Welt, in der er die schönsten Frauengemälde
hinter einer Tresortür verschließt. Eines Tages
gerät diese Welt in Unordnung. Mrs. Claire Ibbotson (Sylvia
Hoeks) will den Nachlass ihrer Eltern verkaufen lassen, erfindet
aber 100 Ausreden, warum sie bei dem Auktionär nicht
auftauchen kann. "Sie sind der Beste", sagt sie
in den Telefonhörer. Damit hat sie ihn. Und auch mit
der Musik und der Kameraführung hat der Film den Zuschauer
sofort. Man will wissen, wer diese Frau in dem großen
Haus ist, was daraus werden soll und giert nach jedem neuen
Detail im Puzzle. Eine seltene Krankheit namens Agoraphobie
zwingt die junge Frau dazu, in ihrem Zimmer zu bleiben. Das
berührt den abgeklärten Auktionär. Er will,
dass Claire Ibbotson ihm vertraut und muss ihr dafür
sein eigenes Vertrauen schenken. Bei dem Tüftler Robert
(Jim Sturgess), den er sehr mag, holt er sich Ratschläge,
wie er sich dem Mädchen gegenüber verhalten soll.
Natürlich, ohne zuzugeben, dass er in dieser Situation
steckt, von der er erzählt. Er wird geradezu reizend,
beobachtet sie heimlich und wird tatsächlich ihr Vertrauter.
Allerdings leidet die Glaubwürdigkeit darunter, denn
es widerspricht ihrem Charakter, nach Jahrzehnten ohne menschlichem
Kontakt, nachzugeben. Dazu kommt noch: Geoffrey findet Teile
eines Gerätes, vielleicht eines Roboters aus dem 18.
Jahrhunder, den Robert zusammenbauen soll. Doch Geoffrey erfährt
von Roberts Freundin, dass er nur noch von einer Claire spricht.
Der
Thriller ist bis zur letzten Sekunde spannend, die Bilder
sind ein Genuss, die Schauspieler klasse, die Musik ist vom
Altmeister Ennio Morricone. Und das Ganze spielt in Wien.
Besser geht's nicht.
Tornatore
kratzt sich aufgeregt die Nase - es gibt gar keinen Grund
dazu.
Geoffrey Rush zwischen Regiemeister und Musikmeister
Während
der Pressekonferenz erzählt Jim Sturgess bewundernd,
welche Aura Geoffrey Rush hat. Wenn er den Raum betrete, seien
ihm alle erlegen. Die Frauen sowieso. Und dass ausgerechnet
er, Jim Sturgess, der privat ein sehr schüchternes Wesen
habe, wie er bemerkt, im Film den Ratgeber für Geoffrey
Rush geben sollte, das war schon was. Aber Rush machte es
grandios, den Ahnungslosen spielen wie ein Teenager vor seinem
ersten Date. Er kann eben auch alles.
Im
Friedrichstadtpalast:
Geoffrey
Rush
Regisseur Guiseppe Tornatore
Komponist Ennio Morricone
Sylvia Hoeks
Jim Sturgess
|
|
Fünfter Tag
|
11. Februar 2013
|
|
Von
Astrid Mathis
|
Wettbewerb
"Child's
Pose"
(rumänisch)
Eigentlich
haben sie sich nicht viel zu sagen, Mutter und Sohn. Sie kann
seine Frau nicht leiden und lässt das junge Eheglück
durch ihre Haushaltshilfe bespitzeln. Doch dann geschieht
ein Unglück. Ihr Sohn überfährt ein Kind, und
sie eilt mit ihrer Schwester zur Polizeistation. Ihm ist nichts
passiert, das Kind ist tot. Als sie das Protokoll aufnehmen,
feilscht die Mutter um die Geschwindigkeit. Könnte man
nicht einfach schreiben, dass er nur 110 km/h gefahren sei
anstelle von 140 km/h? Sie will ihr Kind beschützen,
das ist klar. Nicht wahrhaben, was geschah. Sie spricht mit
einem Anwalt, ist zur Bestechung bereit, sie spricht mit ihrer
Schwiegertochter und erfährt, dass sie ihre Ehe am Ende
sieht, nachdem sie vergebens versucht haben, ein Kind zu bekommen.
Sie streitet mit ihrem Sohn, der sie nicht mehr sprechen will,
weil sie einfach alles bestimmt. Es ist ein langer Weg, bis
Mutter, Sohn und Schwiegertochter im Auto sitzen und vor dem
Haus der Familie parken, die ihr Kind verloren hat. Die Mutter
geht mit ihrer Schwiegertochter vor. Er sei ein guter Junge,
sagt sie und erzählt. Und auch die Eltern des verstorbenen
Jungen reden über ihr Kind. Zurück im Wagen bleibt
die Zeit stehen. Schließlich stellt sich der Täter
der Situation und tritt dem Vater gegenüber, um für
sein Vergehen Verantwortung zu übernehmen. Nicht, um
eine Absolution zu erhalten. Denn darum geht es ja in dem
Film: Wie geht man mit so einer Schuld um? Und wie, verdammt
noch mal, löst man sich von einer so dominanten Mutter?
"Es
ist ein Privileg der Oberschicht, sich scheußlich anzuziehen"
Als Horst Evers am Abend als Gastkritiker in der Radioeins-Lounge
am Potsdamer Platz vor Knut Elstermann steht, sagt er genau
diesen Satz. Denn dieses Fazit konnte er nach dem Film leicht
ziehen. Erst einmal bemerkte er aber, dass er es verstörend
findet, den rumänischen Beitrag um 8.30 Uhr zu gucken,
noch dazu mit englischen Untertiteln. Das macht er sonst nicht.
Er guckt ja sonst auch nicht so früh Filme und beschreibt
deshalb ausführlich das Prozedere der Journalisten und
Gastkritiker. Zuerst muss man durch das ganz, ganz kalte Berlin,
im Berlinale-Palast ist es dann ganz, ganz warm, weshalb sich
alle so schnell wie möglich ausziehen. Dann wird es dunkel,
die Sterne fallen beim Berlinale-Trailer herunter, und man
will sich schon ergeben. Gesteht sogar Knut Elstermann. Nicht
so Horst Evers.
Der fragt sich, ob ein Film Erfolg haben kann, wenn keine
Figur sympathisch ist. Dann ist es auch noch die meiste Zeit
dunkel im Film. Dazu die hässlichen Klamotten. Das ist
schon schwer fürs Auge. "Die tragen in einer Konsequenz
Pelze, beim Autofahren und überall, das muss man mögen",
stellt Evers fest und kriegt nun nach zehn Minuten Aufdröselung
der Garderobe und nötigen Abstands zwischen Mutter und
Sohn die direkte Frage vorgeknallt: "Hat er dir denn
gefallen?" - "Ja." - "Na, sag das doch
gleich!" Es gewinnen, so schiebt Elstermann nach, übrigens
immer diese frühen Filme was. Immer. Deshalb quälen
sich auch alle ins Kino, um den Sieger ja nicht zu verpassen.
Knut
Elstermann im Gespräch mit Horst Evers
Wettbewerb
"Before
Midnight"
(USA) außer Konkurrenz
Am
Anfang war das Wort
Ach,
es ist herrlich. Jesse (Ethan Hawke) und Céline (Julie
Delpy) streiten wieder. Seit Richard Linklater sie 1995 in
dem Film "Before Sunrise" zusammengeführt hat,
ist viel passiert. Diese magischen Momente, die sie in Wien
erlebt haben, wie sie sich ineinander geredet und verliebt
haben, sie machen klar, das hier ist eine ganz große
Liebesgeschichte, die keine Zeit hat, die enden muss. Wie
"Romeo und Julia". Davon gab es nie einen zweiten
Teil. Doch das Autoren-Trio Linklater, Hawke und Delpy wollte
wissen, wie es weitergeht und machte daraus 2004 "Before
Sunset" mit einer Begegnung in Paris zwischen den beiden,
in der sie sich um Kopf und Kragen reden. Wir wissen doch
alle, wohin das führt. Jesse hat sie schließlich
gesucht mit seinem Buch, in dem er seine eigene Liebesgeschichte
zum Thema gemacht hat, denn in seiner Ehe hat er nie gefunden,
was er mal an Zauber in Wien hatte. Und dann sind sie durch
die Straßen von Paris gelaufen, und das Knistern war
zu spüren, weil Jesse zum Flieger musste und die Zeit
nur so weglief. Bis in der Wohnung von Céline das Happy
End passiert. Denken wir uns. Es kann keine Fortsetzung geben.
Wo bliebe die Romantik, von der die Geschichte lebt? Sie können
nicht aufhören und machen mit "Before Midnight"
weiter. Man kann sich dem dritten Teil ihrer Romantik-Serie
nicht entziehen, sich nicht sagen: "So, den gucke ich
jetzt nicht. Ich will mir die Illusion nicht zerstören,
dass die Zwei etwas Einmaliges hatten." Man guckt ihn
doch, den Fortsetzungsfilm. Zu neugierig. Wie aus dem Leben
gegriffen haben Linklater, Delpy und Hawke eine Geschichte
geschrieben, wie sie wortreicher nicht sein könnte.
Neun
Jahre sind vergangen. Jesse ist der Einladung seines Professors
gefolgt, mit seiner Familie sechs Wochen Sommerurlaub in Griechenland
zu machen. Die Atmosphäre ist geschaffen für alles,
tausende Jahre Geschichte haben etwas Bezauberndes. Jesse
steht am Flughafen und verabschiedet sich unbeholfen von seinem
Sohn Henry. Der ist 14 und lebt bei seiner Mutter in Chicago,
von der sich Jesse scheiden ließ, um mit Céline
zusammen zu sein. In Paris. Henry sagt nicht viel und Jesse
müht sich ab, dass es fast nicht zu ertragen ist, eine
Konversation zum Abschied hinzukriegen, irgendein Gefühl
von seinem Sohn einzufangen. Er will für ihn da sein,
weiß aber, er verpasst so viel. Die Szene ist anrührend
und ehrlich. Am Ausgang wartet Celine mit den Zwillingstöchtern.
Die Mädchen wollen die Ruinen sehen, schlafen ein. Lehre
fürs Leben: "Wer pennt, verpasst was." Währenddessen
fangen Jesse und Céline an zu streiten. Celine wünscht
sich einen besseren Job, Jesse mehr Zeit mit seinem Sohn.
Umzug nach Amerika? Daraus muss ja kein Drama werden, und
deshalb sitzen sie später friedlich am Tisch des Gastgebers,
erzählen ihre Liebesgeschichte und spielen vor, wie es
klingt, wenn Céline ein Dummchen wäre, das diesen
berühmten Autoren trifft. Sie lieben die Neckereien,
die auch schnell zu ernsten Sticheleien werden. "Wir
sind auf Durchreise wie der Sonnenaufgang", sagt einer
und meint das Leben an sich. Darauf lohnt es sich zu trinken.
Jesse und Céline reisen wie üblich, sie reden
und reden - von der romantischen Liebe und von der des Internetzeitalters,
in der alles über Skype läuft. Sie gehen in Peleponnes
spazieren, und alles könnte so schön sein wie in
dem Moment, als Jesse Céline in der kleinen Kapelle
küsst. Sie haben nicht geheiratet, das ist eigentlich
schon Romantik genug. Vielleicht ist es das einzige Stück
Romantik, das sie sich erhalten haben, denn der Alltag hat
auch sie erwischt. Céline hat sich um die Kinder gekümmert,
während Jesse auf Lesereise war. Ihre Freunde wollen
ihnen im Urlaub etwas Gutes tun und schenken ihnen eine Nacht
im Hotelzimmer. Céline würde darauf lieber verzichten,
vielleicht, weil sie sich zu gut kennt, weil sie das Zeug
zu Penthesilea hat, aber sie tun das Unvermeidliche. Und wenn
es nicht so tragisch wäre, würde man noch viel mehr
lachen. Als Céline zum zweiten Mal rausrennt, bleibt
Jesse wie gelähmt sitzen. Da ist noch der Teebeutel in
ihrer Tasse, das unbenutzte Bett, der ungetrunkene Wein. Es
ist nach einem dieser vielen Momente, in denen er weiß,
egal, was er sagt, er kann nur verlieren. Er kann einem leid
tun, sie auch und man selbst sich sowieso, denn diese Geschichte
mit ihren endlosen Dialogen, sie ist unsere eigene. Immerhin...
solange sich die Zwei noch was zu sagen haben, besteht Hoffnung.
Ein
wahrhaftiger und wahrhaft romantischer Film, der berührt
und optimistisch ist, lustig und nachdenklich. Er trifft den
Zeitgeist auf den Punkt.
Die
Pressekonferenz
Ethan
Hawke hat wasserstoffblonde Haare! Irgendwie sieht er aus
wie eine Komikfigur, aber ich kann ihn verstehen. Er spielt
derzeit einen alternden Rockstar und wollte sich damit von
der Figur distanzieren. Er hat's geschafft. Dass er auch noch
Brecht macht mit diesen Haaren, na ja, modernes Theater. Doch
nun zum Film.
Einen Charakter wieder besuchen zu können, ist ein schönes
Privileg sagt Julie Delpy in der Pressekonferenz. "Gibt
es eine ortsetzung?" will ein Journalist ungeduldig wissen.
Alle sechs Jahre haben sich die Drei getroffen, Regisseur
Richard Linklater, Ethan Hawke und Julie Delpy. In ihren Gesprächen
fragten sie sich, ob es etwas Neues in ihrer Geschichte zu
erzählen gibt. Im Moment sei alles gesagt, meint Ethan
Hawke. Er schlägt aber lachend einen pornographischen
Teil vor. "Ich widerstehe", antwortet Delpy gelassen.
Am besten, wenn sie 80 ist, ergänzt sie bissig. Da geht
es schon wieder los. Ethan Hawke erklärt, Julie sei die
schlaueste in seiner Generation gewesen, als er sie kennen
lernte. Fast 20 Jahre habe er sich bemüht, sie einzuholen
und sie jetzt überholt. Eine Mentor-Student-Beziehung
hätten sie irgendwie gehabt. Wer weiß.
An
den Dialogen haben sie jedenfalls zu dritt gearbeitet. Jeder
hätte in den Zeilen des anderen mitgemischt, und im Film
sei nur, was am wenigsten abgelehnt wurde, bemerkt Ethan Hawke.
Das war keine Männer-Frauen-Sache, da wurde gemixt, um
ihre Charaktere zu präsentieren. Da griffen alle in gewisser
Weise aus ihrem Leben. Letztlich gab es keine Diskussion.
"Ich gewinne", behauptet Delpy resolut. Das ist
leicht zu glauben, wie sie das so sagt. Sie hatten den Luxus
der Zeit, schrieben Jahre daran. Schließlich vertrauen
sie einander und kennen sich persönlich sehr gut. Beim
Schreiben wurden keine Gefühle verletzt. Die Kampfszene
am Schluss des Films, so Hawke, habe seiner Ansicht nach auch
etwas Hoffnungsvolles.Es geht ja weiter. Und sie sind im wunderschönen
Griechenland, wo solche Dialoge zur Tragödie passen.
Nun
aber noch mal Klartext, Mr. Hawke. Einem Journalisten lässt
es keine Ruhe: "Ich kann mir nicht vorstellen, dass so
ein intelligenter Mann wie Sie an Bimbo-Girls denkt..."
Der US-Schauspieler grinst, Julie Delpy kommentiert: "Vielleicht
möchte mal irgendein Mädchen eine dumme Frage an
ihn richten und gucken, was passiert." Hawke verteidigt
seinen Charakter: "Ich glaube, die Sache mit dem Bimbo-Girl,
das ist die Angst der Frauen, dass Männer denken, dass
wir so einen Typ wollen." Delpy versteht die Szene eher
als passiv-aggressiven Moment. Natürlich will sie damit
provozieren im Film. Das sei kein Männer-Frauen-Ding,
sie würden heutzutage vom Job aufgefressen, von der Verantwortung
für die Kinder, und wenn man dann zur Ruhe kommt, kann
man sich nur fragen: Wer bin ich? So schildert Ethan Hawke
das Thema.
Und
nachdem sie zu dritt Jahre getüftelt haben, um so einen
flüssigen Dialog zustande zu bringen, kommt der Moment
der Wahrheit. "Oh, mein Gott, Rick will es mit einem
Take drehen, dann wird rigoros gekürzt", erzählt
Julie Delpy. Sie vergleicht dieses Lernen des Textes mit ihren
Proben für das Klarinettespiel. Sie übte, bis die
Lippen bluteten, für das eine große Konzert. So
sei es für den Dreh.
Wie
haben sie sich verändert seit dem ersten Dreh vor 18
Jahren?, fragt ein Journalist. Ethan Hawke dazu: "Man
denkt immer, man würde sich sehr verändern, weil
man heranwächst und reift und viele Veränderungen
passieren, aber letztlich bleibt man sich doch sehr ähnlich."
July Delpy erwidert nur knapp: "Ich habe an Gewicht zugelegt."
Und fügt dann doch hinzu, dass sie den Reifeprozess oder
das Älterwerden nicht als beängstigend empfindet.
Irgendwie fühle sie sich jetzt mehr geerdet. Davon abgesehen
sei sie nie in der Lage, so schlagfertig zu sein wie im Film.
Sie wünschte, sie könnte in bestimmten Situationen
so argumentieren, aber es geht nicht. Gottseidank ist sie
auch nur ein Mensch.
Bilder vom roten Teppich:
Julie
Delpy im Interview
Ethan
Hawke auch
alle
Und
dann kommt noch Shooting-Star Mikkel Boe Folsgaard,
der letzten Jahr mit "Die Königin und der Leibarzt"
den Bären als bester Darsteller gewann:
Unter
sein Bild schrieb Ethan Hawke:
"I've always believed in myself, but I fear I've become
an atheist."
("Ich
habe immer an mich geglaubt, aber ich fürchte, ich bin
Atheist geworden.")
Panorama
"Meine
Schwestern"
Gehen
lassen
Die
Krankentrage ist mit einem weißen Tuch abgedeckt. Sofort
ist alles klar. Der Weg führt zu den anderen, deren Zehen
sich schon verfärbt haben, die dort liegen wie in einer
Lagerhalle. "Im Krankenhaus möchte ich nie sterben",
durchfährt es den Zuschauer. Linda (Jördis Triebel)
spricht aus dem Off: "Der Tod kam für mich nicht
überraschend." Sie hatte schon als Baby wegen ihres
Herzfehlers kaum Überlebenschancen. Dass sie 30 wurde,
sei ein Geschenk. Sie wäre lieber eingeschlafen bei ihrer
Familie an einem schönen Ort oder einfach umgefallen,
in die Arme eines geliebten Menschen. "Am wichtigsten
ist, was vorher war", sagt sie und erzählt dann,
was vorher war.
Es
sollte eine OP wie so oft werden, eine Leben verlängernde.
Ihre Schwester Katharina vertröstet sie auf Dienstag,
aber Linda fühlt es, fährt zu ihrer kleinen Schwester
Clara, packt sie ein und stellt Katharina vor vollendete Tatsachen.
Als ihr Linda von ihrer Angst erzählt, es nicht zu schaffen,
willigt sie ein, lässt ihren Mann und ihre drei Kinder
bei ihm. Linda ist auch abgehauen von ihrem Mann. Der betrügt
sie längst mit einer, die nicht krank ist. Auf geht es
nach Tating. Dort waren sie in ihrer Ferienwohnung doch mal
so glücklich.Claras Enthusiasmus ist gewichen. Katharina
die Große und sie die Kleine können nicht miteinander.
Clara fühlt sich hinten angestellt, weil sie mitbekommen
hat, dass sich Linda mit den wirklich ernsten Themen nur mit
Katharina austauscht. Es geht ihr nicht gut, seit zwei Jahren
hat sie nicht einen Kurs in Philosophie besucht. Sie würde
gern zum Onkel nach Paris, verrät sie Linda vor der Tür
der Dorfdisko. Immer dünner wird die Haut der drei Schwestern.
Katharina will abreisen. Linda setzt sich durch, zu dritt
nach Paris zu fahren, auch wenn das über ihre Kräfte
geht und Katharina schreit: "Immer bin ich das Kindermädchen!
Soll ich zugucken, wie du dich kaputt machst? Willst du hier
sterben? Da mache ich nicht mit." Linda hat es sich in
den Kopf gesetzt, die zarte (Lisa Hagmeister) und die harte
Schwester (Nina Kunzendorf) näher zusammenzubringen.
Ihre Schwäche, das Husten und Erbrechen, das langsame
Aufstehen, es ist für ihre Schwestern kaum mit anzusehen.
Sie erzählt ihnen die Geschichte von einem Jungen mit
einem Herzfehler wie ihrem. Drei Mal holten sie ihn zurück,
dann sagte er, dass sie ihn jetzt gehen lassen müssen.
Nach Lindas Aufstieg zum Sacré Coeur, bei dem sie ihrem
Todesengel folgt, wacht sie ein letztes Mal auf.
Der
Regisseur des Films Lars Kraume hatte einen Cousin, der an
seinem Herzfehler starb. Er hätte kein Sterbedrama mit
Männern drehen können. "Das wäre zu nah
gewesen", bemerkt er nach der Vorstellung. Schon lange
wollte er die drei Hauptdarstellerinnen, die er aus verschiedenen
Produktionen mit ihm kannte, zusammenbringen. Man fragt, warum
bei ihm immer Frauen die Starken seien. Darauf hat Kraume
eine einfache Antwort: "Ich finde Frauen stark und Männer
schlapp. Ich mag Frauen eben gern."
Für
die Dreharbeiten hatte er sich in einem Krankenhaus umgesehen,
erfahren, wo die Leichen bleiben. Erschreckend. Das Ende wollten
sie gar nicht zeigen. Es sollte letztlich an den Anfang, um
es besser zu ertragen.
Ein
Wochenende am Meer hatten sie improvisiert, Lars Kraume und
die Frauen. Das war der Anfang des Dramas. Auf der Leinwand
überzeugen jetzt drei glaubwürdige Frauen mit ihrem
eindringlichen, existenziellen Spiel und ihrem ganz eigenen
Humor.
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Vierter Tag
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10. Februar 2013
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|
Von
Astrid Mathis
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"Frauentag"
Wettbewerb
Gloria
(spanisch)
Die
Geschichte spielt in Chile. Gloria ist Ende 50 und will noch
was vom Leben. Als geschiedene Frau lebt sie in Freiheit,
pflegt die Beziehung zu ihren Kindern und weint bitterlich,
als ihre Tochter in den Flieger steigt. Gloria tanzt gern
und zieht schließlich genau den Mann an, der ihr gefällt.
Doch der etwas ältere Auserwählte hat auch Familie,
und die Kinder seiner Ex-Frau haben ein einnehmendes Wesen.
Damit kommt Gloria nicht klar. Sie will Liebe und Sex und
eine schöne Zeit verbringen. Dieser Widerspruch ist für
den Mann ihrer Träume nicht leicht, hin- und hergerissen
schwanken die beiden zwischen heiteren Wortgefechten, dem
Ausleben ihrer Lust und ernsthaften Auseinandersetzungen.
Am Ende tanzt die Heldin des Films ausgelassen zu dem Hit
"Gloria" - und zwar allein. Paulina Garcia, die
Gloria verkörpert, ist übrigens auch der Hit. Endlich
ein Lichtblick im Berlinale-Alltag.
Wettbewerb
Die Nonne
(französisch)
Ihre
Familie meint es nicht schlecht mit Suzanne, als sie ins Kloster
geschickt wird. Die Hochzeiten ihrer Schwestern haben genug
gekostet und verlängern ihren Aufenthalt. Aber da ist
noch etwas: Ihre Mutter (Martina Gedeck) gesteht ihr, dass
sie die Frucht einer großen Liebe ist, die sie nicht
leben durfte. Sie reißt sich diese Liebe aus dem Herzen
wie ihre Tochter. Dank des liebevollen Zuspruchs der Mutter
Oberin kann Suzanne sich auf den Handel einlassen, aber als
diese stirbt, beginnt für sie ein Leben voller Qual.
Die neue Mutter Oberin lässt sie über Glasscherben
gehen und hungern. Nur die Mutter einer Freundin gewährt
ihr einen Lichtblick. Sie schickt einen Anwalt, der Suzannes
Aufzeichnungen weiterleitet. Endlich wird die Mutter Oberin
ihres Amtes erhoben und Suzanne in ein anderes Kloster gegeben.
Suzanne beschäftigt aber nur ein Gedanke: Sie will raus.
Erst recht, als sie merkt, dass die dortige Mutter Oberin
(Isabelle Huppert) sich nach Zärtlichkeiten von ihr sehnt.
Letztendlich gelingt ihr die Flucht in die Arme ihres leiblichen
Vaters, der kurz darauf stirbt.
Die
Pressekonferenz
Der
Roman von Denis Diderot spielt im 18. Jahrhundert und hat
den Regisseur schon seit seiner Jugend beschäftigt, beginnt
er. Mit seiner Tochter hat er darüber gesprochen, ob
das Thema noch aktuell sei. Und diese erwiderte tatsächlich,
sie empfinde es so, dass sich nicht viel am Bild der Frau
weiterentwickelt hat. Diderot richtet sich laut nicht gegen
die Kirche, vielmehr gegen fanatische Religion. Als nächstes
wird Isabelle Huppert gefragt, warum sie die Rolle annahm.
Da ist zum einen der Regisseur Guillaume Nicloux zu nennen,
mit dem sie arbeiten wollte, zum anderen mochte sie ganz einfach
die Rolle. "Das ist so eine, bei der man sich davor hüten
muss, sie zur Karikatur werden zu lassen." Sie spiele
eine Mutter Oberin, die Gott sehr fern ist, indem sie menschlich
und natürlich handelt. Für Martina Gedeck bestand
die Herausforderung darin, mit einer Körpersprache umzugehen,
die nicht heutig ist und sehr zurückhaltend. Das schaffe
eine Atmosphäre von Enge in der Familie, die der Film
braucht. Die junge Hauptdarstellerin Pauline Etienne beschreibt
den Dreh als sehr intensive Zeit. Suzanne habe eine unglaubliche
Kraft, sich aufzulehnen. Auch die Schichten ihrer Kleidung
hätten ihr etwas auferlegt, mit dem sie sonst nicht zu
tun hatte. "Ich habe erlebt, was Suzanne gelebt hat",
beschreibt sie ihre Filmerfahrung. Auf die Kerkerszene habe
sie sich nicht vorbereitet, sie sei in den Kerker geworfen
worden, und das war's. Louise Bourgoin spielt die sadistische
Oberin und wird schließlich auf diese Grausamkeit angesprochen.
"Ich bin einfach so", behauptet sie und lacht dann.
Ihre Rolle war freundlich angelegt, um die Perversität
noch mehr herauszustellen. "Das hat Spaß gemacht",
bemerkt sie abschließend. So, so.
Panorama
Maladies
(USA)
James
Franco spielt in diesem Film den arbeitslosen Schauspieler
James. Man merkt sofort, dass mit ihm etwas nicht stimmt.
Er sitzt am Meer und spricht mit sich selbst, das heißt
mit einer Stimme aus dem Off, die ihn begleiten wird. Und
er spricht nicht nur so vor sich hin, sondern philosophisch.
Das passt zur Geschichte, die eine Poesie in sich trägt,
als wäre sie ein Gedicht oder ein Essay. Kapitelüberschriften
unterstreichen diesen Charakter noch.
James
hat seine Fernsehkarriere beendet und plant ein Buch, in dem
seine Gedanken Platz finden. Gedankenverloren streift er durch
den Raum, macht einen Kunstakt daraus, zwei Gläser Wasser
zu holen oder in der Apotheke etwas einzukaufen. Nur wenn
er den Telefonhörer in die Hand nimmt und das beruhigende
Freizeichen vernimmt, fühlt er sich sicher. An seiner
Seite hat er zwei Frauen, seine malende Schwester Patricia
und die mütterliche Freundin Catherine, die ebenfalls
der Malerei verschrieben ist und ihm versprochen hat, sein
künstlerisches Werk zu beenden, wenn er vor ihr stirbt.
Dazu gehört ein guter Freund der Familie, der öfter
als Retter auftaucht und James verehrt.
Dieser
Film von dem Allroundkünstler Carter aus New York hat
etwas so Besonderes, dass man ihn allein an einem Tag genießen
muss, weil er inmitten von Berlinale-Filmen untergeht. Denn
es passiert ja nicht viel, außer dass James uns an seinen
Gedanken teilhaben lässt, lustigen und verqueren, traurigen
und sprungartigen.Dazu die tolle Kameraführung.
Als James Francos Filmschwester Fallon Goodson nach der Premiere
mit Catherine Keener auf die Bühne geholt wird, ist ihr
Gesicht voller Tränen, so berührt ist sie, so sehr
lag ihr der Film am Herzen. Und das ist er, unglaublich berührend
mit einer Prise Komik und Selbstironie.
Panorama
"The Look of Love"
Paul
Raymond (Steve Coogan) ist ein bunter Vogel, trotzdem Michael
Winterbottom seinen Film erst einmal in Schwarz-Weiß
anfangen lässt. Das merkt man auch ohne Farbe. Sperrt
Frauen oben ohne in einen Löwenkäfig und nennt das
Zirkusnummer. Ja, so was wollen die Leute sehen Ende der 50er.
Als Raymond erste Erfolge feiert wegen seiner außergewöhnlichen
Freizügigkeit in London, geht richtig die Post ab. Seine
Frau verzeiht die Betrügereien. Natürlich erzählt
er jedem, dass er mit fünf Schilling angefangen und sich
hochgearbeitet hat. Seiner Tochter erklärt er, warum
er so viele Häuser besitzt. Für Mami und sie, denn
am Ende zählen nur Immobilien. Am Ende des Films wird
er diesen Satz seiner Enkeltochter erzählen. Mit seiner
ersten Frau ist er da längst nicht mehr zusammen. Er
hat sich in eines seiner Mädchen verliebt und gründet
ein Magazin namens "Men only", lässt sie zur
Ikone Fiona Richmond aufsteigen, die freizügig ist und
privat auch nichts gegen eine kleine Orgie hat. Anfangs. Auch
sie muss sich eingestehen, dass sich ihr Geliebter nie ändern
wird und sie kein ruhiges Leben haben kann, wenn sie bei ihm
bleibt. Raymonds Tochter Debbie wird ihr zur Freundin, aber
Halt sucht Debbie selber. Ihre Show floppt, sie ist kein Star
wie ihr Daddy und bekommt nie Anerkennung. Koks gehört
für sie zum guten Ton, ihr Vater sieht darüber hinweg,
schnupft selber. Irgendwann kann sie nicht mehr.
Der
Film ist knallbunt und wie ein Rausch, zum Lachen gibt es
einiges, zum Weinen ebenso, aber dazu kommt es nicht. Der
Film bleibt so oberflächlich, wie Raymond selbst lebte.
Von Liebe keine Spur zu merken, auch wenn Vater und Tochter
sich das zumindest sagen. Winterbottom geht nicht in die Tiefe,
ihm gelingt die Dramödie nicht, die sie vielleicht werden
sollte. Als er mit seinem Team auf die Bühne tritt und
die mageren, grell geschminkten, hochhackigen Enkeltöchter
Raymonds dazubittet, passt das sehr zum Film. Sie müssen
sich über ihre Zukunft nicht sorgen, denn sie besitzen
unzählige Immobilien. Stylish.
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Dritter Tag
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9. Februar 2013
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Von
Astrid Mathis
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Wettbewerb
"Gold"
(deutsch)
Reden
ist Silber
Der
erste deutsche Beitrag im Wettbewerb kann einen schon nervös
machen. Nina Hoss spielt mal wieder mit. Der Film ist von
Thomas Arslan und will kein Spätwestern sein. 1898 in
Kanada. Nina Hoss schlüpft in die Rolle von Emily Meier,
die sich einer Gruppe von Goldsuchern anschließt. Die
führt Wilhelm Laser (Peter Kurth) an, in für ihn
selbst unerforschtes Gebiet. Zu dem Tross gehören solche
Typen wie Joseph Rossmann (Lars Rudolph) und Müller (Uwe
Bohm). Dass das nicht gutgehen kann, sieht man sofort. Und
es geht auch mit dem Film nicht gut. Es sieht nicht echt aus
und fühlt sich auch nicht so an. Irgendwie hat man Leute
wie Uwe Bohm und Lars Rudolph schon hundertmal besser gesehen.
Die ganze Geschichte, ach, das ist so vorhersehbar. Wahrscheinlich
passiert noch was mit Liebe. Nach 45 Minuten stürze ich
raus. Später höre ich, wie Leute erzählen,
es hätte viel zu lachen gegeben wegen unfreiwilliger
Komik. Auf der Pressekonferenz fehlt Nina Hoss wegen Krankheit.
Bärenfallen gab es wohl außerdem - im Film. Lars
Rudolph schwärmt von der schönen Ruhe in Kanada.
Uwe Bohm verrät, wie anstrengend es war, reiten zu lernen.
Und Thomas Arslan erzählt, wie schwierig er es fand,
nicht nur 7 Schauspieler, sondern auch noch 11 Pferde zu inszenieren.Um
den Spielfilm so authentisch wie möglich zu gestalten,
hat er viele Tagebücher gelesen. Das merkt man, ist aber
kein Garant für einen tollen Film. Leider.
Panorama
"Lovelace"
(USA)
Alles
für die Liebe
Die
Regisseure Rob Epstein und Jeffrey Friedman strahlen um die
Wette. Der Applaus zu ihrer Premiere von "Lovelace"
geht runter wie Öl. Sie haben die wahre Geschichte von
Linda Lovelace erzählt, räusper, sich daran orientiert.
Sagen wir mal so. Der Film "Deep Throat" hat Linda
Boreman berühmt gemacht, ein Pornostreifen, der in den
70ern Kult wurde und für sie der Anfang vom Ende war.
Der Film erzählt davon, wie sich Linda (Amanda Seyfried)
in Chuck verliebt und von ihrer Mutter (Sharon Stone) rausgeschmissen
wird. Sie heiratet Chuck (Peter Sarsgaard) und scheint wie
die Jungfrau zum Kinde zum Pornostreifen zu kommen. Die zweite
Version ihrer Lebensgeschichte, nämlich die Leidensgeschichte,
schließt sich dem blumigen Beginn an. Linda erfährt
Chucks Brutalität schon gleich nach der Hochzeit. Das
fehlende Geld soll Linda ausgleichen, so nötigt er sie
zum Porno. Zum Sex mit ihm, zum Sex mit anderen. Nach mehreren
Anläufen kann sie sich aus der Beziehung befreien und
ein normales Leben führen, wie sie es sich wünscht.
Sie bringt ein Buch heraus, in dem sie mit ihrer Vergangenheit
aufräumt.
Das
Regisseuren-Duo zeichnet ein einfühlsames Porträt,
das den Zuschauer nachdenklich zurücklässt.
Die
Pressekonferenz
In
der Pressekonferenz ist Amanda Seyfried der Blickfang für
die Reporter. Es wird eine Menge kommentiert, was für
ein hübsches Lächeln sie hat usw. Einer fragt, in
welcher Rolle sie sich miserabler fühlte, in "Lovelace"
oder in "Les Misérables", den sie wenige
Stunden später ebenfalls im Friedrichstadtpalast vorstellen
würde. Les Mis, sagt sie, weil sie nicht essen und trinken
durfte und auf ihre Stimme achten musste. Die Stimme vor der
Welt bewahren, sozusagen. "Das war hart, nicht miserabel."
Den Film "Deep Throat" hat sie gesehen - "interessant",
meint Seyfried. Sie wollte Linda Lovelace eine Stimme geben,
an das Ausstellen ihres Körpers hat sie dabei nicht gedacht.
Peter Sarsgaard wird erst mal gar nichts gefragt. Wie er da
mit seinem Vollbart sitzt und an Karl Marx erinnert, traut
sich doch keiner, ihn anzusprechen. Da erbarmt sich die Moderatorin
und fragt nach seinem teuflischen Charakter im Film. Er hat
sich nicht viel mit ihm auseinandergesetzt, dachte an manchem
Drehtag: "Nicht schon wieder", wollte seiner Partnerin
lieber etwas Gutes tun. Sehen, was passiert, ist seine Methode,
wenn er ans Set kommt. Am Ende will ein Journalist wissen,
ob Amanda Seyfried sich zwischen zwei Abendpremieren umzieht
für den roten Teppich. "Aber klar. Ich liebe Kleider."
Warum
James Franco auf dem Podium sitzt, mag man sich nach dem Film
leicht fragen. Wahrscheinlich wurde sein Part auf drei Minuten
gekürzt. Schade. Den Bühnenauftritt nach der Premiere
kneift er sich dann auch, nachdem er sich schon mit dem Begrüßungsapplaus
in die Dunkelheit verabschiedet hat.
Amanda
Seyfried gab Autogramme.
Peter Sarsgaard auch.
Nach der Premiere...
Berlinale
Special Gala
Les
Miserablés
Mit
einem Meisterwerk hatte der britische Regisseur Tom Hooper
den Friedrichstadtpalast vor zwei Jahren beehrt, mit einem
Meisterwerk kommt er zurück. Nach "The King's Speech"
springt er mit "Les Miserablés" in das Genre
Musical und wird schon beim Einmarsch mit seinem Team wie
ein König gefeiert. "Die Elenden" nach dem
Roman von Victor Hugo kann beginnen.
Anne
Hathaway
Hugh Jackman
Tom Hooper
"Und
die Welt war ein Lied"
(Zitat
aus "Les Misérables")
Ein
gewaltiges Schiff im Wasser und ein Mann (Hugh Jackman) in
Ketten reden Tacheles. Das hier wird ein Monumentalfilm wie
"Ben Hur" und "Spartacus", höchstens
ein bisschen moderner. Jean Valjeant ist dieser Mann, der
sich vor Javert (Russell Crowe) ducken muss. Er flieht und
bekommt eine zweite Chance. Als er sich freisingt, verlässt
die Filmcrew im Applaus den Saal. Nur Tom Hooper bleibt sitzen,
um Fantines Geschichte mitzuerleben. Anne Hathaway spielt
diese Figur, eine junge Mutter, die ihr Kind versorgen will
und alles dafür tut, als sie ihre Arbeit verliert: Haare
abschneiden, Zähne verkaufen und schließlich ihren
Körper hergeben. "Sie wissen nicht, dass sie mit
einer Toten Liebe machen", sagt sie, kahl geschoren und
mit billiger Schminke versehen, dann beginnt sie zart das
Lied "Ich hab geträumt vor langer Zeit." Ihre
Hingabe ist so überwältigend, der Gesang so bewegend,
dass die Zuschauer in frenetischen Beifall ausbrechen, Tränen
fließen, und es werden nicht die letzten sein. Fantine
vertraut am Totenbett ihre Tochter Jean Valjeant an, der sie
aus einem Streit gerettet hat. Er findet Cosette in einem
Wirtshaus, wo ein zwielichtiges Pärchen den Leuten das
Geld vor der Nase stiehlt (phantastisch: Sacha Baron Cohen
und Helena Bonham Carter als skurile Gauner).
Schon
mit ihrem Song "Master of the House" machen sie
klar, dass sie perfekt zusammenpassen. Bildkomposition und
Schnitte tun ihr Übriges dazu, ihre Deftigkeit zu unterstreichen.
Immer wieder werden sie Cosettes Weg kreuzen und ihr Unwesen
so auf die Spitze treiben, dass in diesen Szenen viel gelacht
wird. Neun Jahre nach ihrer Trennung von den Wirtsleuten lernt
Cosette (Amanda Seyfried) den Aufrührer Marius (Eddie
Redmayne) kennen. Als sie sich begegnen, wird der Hintergrund
unscharf, sie tauchen wie in ein Märchen ein. In diesem
Märchen spielt Eponine, die Wirtstochter aus Kindertagen,
keine Rolle, obwohl sie Marius Freundin ist. Und so legt sie
alles in das Lied "On my own" ("Ganz allein"),
während sie im Regen vor sich hin weint. Sie ist auf
der Seite der Aufrührer wie der Junge Gavroche und gehört
zu den wenigen, die Barrikaden bauen. Die Kampfszene ist ein
Vorgeschmack auf die Französische Revolution, Blut fließt
sinnlos, denn eine Chance hatte die Gruppe nicht. Jean Valjean
rettet Marius das Leben, der als einziger von seinen Kumpanen
übrigbleibt. Mit dem Titel "Leere Stühle an
leeren Tischen" singt er sich ebenfalls in die Herzen
des Publikums. Er bleibt mit seinen Tränen nicht allein.
Das Ganze ist schließlich ein Drama, und in dem darf
geweint werden. Es gibt ja auch Hoffnung, die letzte Szene
prophezeit die Französische Revolution. Jean Vajean und
Javert haben ihren Frieden gefunden, Marius und Cosette überleben.
Als
Tom Hooper sein Team auf die Bühne bittet, hat er für
jeden einen liebevollen Vers parat. Er beschreibt Amanda Seyfrieds
erhellendes Wesen am Set, das große Talent von Eddie
Redmayne, sagt über Anne Hathaway: "Wenn du singst,
haut es mich einfach um. Heute wieder." Lobt Hugh Jackman,
der durch den Film trägt. Jackman, der bei einer Oscar-Verleihung
sein Talent als Moderator schon bewiesen hat, nimmt nun seinerseits
das Mikrofon in die Hand und erklärt: "Moment, wenn
hier einer durch den Film getragen hat, war es Tom Hooper,
und zwar uns alle, und manchmal noch eine Kamera auf den Schultern,
während er in der anderen seine Pommes Frites festhielt."
Jeder andere hätte, so meint Jackman, nach seinem Oscar
erst mal etwas Kleines, Bescheidenes gemacht, auf keinen Fall
ein Musical als Film. Hooper ist nicht wie jeder andere. Wer
diesen Film gesehen hat, weiß es erst recht.
Tom
Hooper zittert, als er seinen Zettel auseinanderfaltet. Er
hat auf Deutsch eine Rede vorbereitet. Das habe ich in 12
Jahren Berlinale nie von einem anderen erlebt. Darin dankt
er dem Berliner Publikum, das so "begeistert und kenntnisreich"
ist, und Dieter Kosslick für seine Einladung und für
diese tolle Atmosphäre im Publikum. Ein besonderer Tag
sei es, nämlich das letzte Mal, bei dem sie alle zusammen
sind und den Film vorstellen. Sie strahlen ein letztes Mal
ins Publikum und winken. Oscarreif.
Auf
der Bühne im Friedrichstadtpalast erfreut Hugh Jackman
mit einer lustigen Anekdote über Tom Hooper seine Kollegen
und das Publikum
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Zweiter Tag
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8. Februar 2013
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Von
Astrid Mathis
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Wie
viel Vaterunser braucht der Mensch?
Wettbewerb
"W Imie... - Im Namen von..."
(polnisch)
Ein
katholischer Priester auf dem Dorf hat eine Gruppe heranwachsener
Jungen in seiner Obhut. Die Halbstarken raufen und rauchen
miteinander, hänseln einen Behinderten aus ihrem Clan
und diskutieren die Vorlieben ihres Aufsehers. Der hat angeblich
keine. Ewa, die sich zu ihm hingezogen fühlt, lehnt er
ab. Er sei vergeben. An Gott? Aber nein, er ist verrückt
nach den Jungen. Besonders Lukasz hat es ihm angetan. Als
die beiden im Maisfeld Urwald spielen, scheint alles möglich
und leicht. Die verrückteste Szene ist aber, wenn Pater
Adam mit dem Bild des Papstes betrunken durch seine Wohnung
tanzt und sein Kinn daran reibt. Ein Zugeständnis. Normalerweise
rennt er durch die karge Sommerlandschaft, als könnte
er vor sich fliehen.
Für
den toleranten Berliner ist Homosexualität ja etwas Normales,
aber wir sind in Polen, und da macht man so was nicht. Sagt
auch die Schwester des Pfarrers. Die erneute Versetzung, die
ihm sein Widersacher eingebrockt hat, bedeutet nicht das Ende.
Der verliebte Junge bekennt sich zu ihm und bleibt da. Mitten
in der katholischen Verbotszone. So erzählen es die phantastisch
gedrehten Bilder von Michel Englert. Das Drama fängt
also erst an.
Wettbewerb
"Promised
Land"
(USA)
Steve
ist ein guter Kerl. Matt Damon auch. Mensch - Vater von vier
Kindern! Dem glaubt man einfach alles, in diesem Fall die
Rolle des Farmersohnes, der durch Fleiß aufsteigt. Die
Frage ist, in welchem Job. Er lässt die Leute auf dem
Land das Einverständnis für die Förderung von
Erdgas auf ihrem Boden unterzeichnen - via Fracking. Keine
umweltfreundliche Methode. Es ist ihre letzte Chance. Gus
Van Sant, den Damon für sein Gemeinschaftswerk mit John
Krasinski für die Regie gewinnen konnte, inszeniert den
Charakter ernsthaft. Steve macht Versprechungen, und die will
jedermann gern glauben. Frances Mc Dormand mimt seine Kollegin
Sue, die diese Arbeit als notgedrungenen Job sieht, während
sie sich nach ihrem Sohn sehnt, der beim Vater lebt. Als Steve
befördert wird, ist er mit ihr in einem Gebiet unterwegs,
wo die Leute nicht so nachgiebig sind wie bisher. Ihre Tarnung,
sich wie Einheimische zu kleiden, fliegt schnell auf und nutzt
daher nichts. Zu guter Letzt gewinnt ein Umweltaktivist namens
Dustin Noble (John Krasinski) die Bewohner mit erschreckenden
Bildern von Folgen der Bohrungen für sich und macht Steve
Konkurrenz bei der Lehrerin Alice, in die er sich verguckt
hat. Ein alter Lehrer (Hal Holbrook) redet ihm ins Gewissen,
dann wird es Hollywood-Kino.
Das
Werk war ganz klar eine Herzensangelegenheit, erklärt
Matt Damon während der Pressekonferenz. Und, ja, er ist
stolz darauf und kann nicht verstehen, warum der Film in den
USA nicht so gut gelaufen ist. Es ist in seinen Augen schließlich
ein Film über amerikanische Identität und Gemeinschaft.
Kein Stück würde er ändern, wenn er ihn ein
zweites Mal drehen würde. Für das Drehbuch hat der
Schauspieler jede Menge recherchiert, vor allem in Pennsylvania.
Die einen schimpften über das Fracking, die anderen erklärten
es für ihre Rettung. Beide Meinungen sind in dem Film
vertreten. Die 15 Seiten lange Szene über das Erdgasförderungsmethode
wurde radikal gekürzt, um das Tempo der Geschichte nicht
zu unterbrechen. Niemand könne sagen, was über den
Film in zehn Jahren erzählt werde, welche Bedeutung er
dann haben könnte.
Apropos
Bedeutung. Da kommt doch glatt die Frage auf das Podium geflogen,
ob er denn wisse, dass Berlin einen Großflughafen plant.
Matt Damon lacht. Vor zehn Jahren hatte man schon versprochen,
er sei in fünf Jahren fertig. Natürlich freut er
sich darauf, endlich einen Direktflug zu kriegen. In Frankfurt/Main
hat er locker 100 Stunden verbracht. Es gibt kaum Direktflüge
nach Berlin, doch wenn er in ein paar Wochen herkommt, um
mit seinem Freund George Clooney zu drehen, auf den sich schon
alle freuen, wird er in einer dieser Maschinen sitzen.
John
Krasinski, Gus Van Sant und Matt Damon
nach der Pressekonferenz
auf dem roten Teppich
John Krasinski
im Schnee
am Mikrofon
mit Festivalleiter Dieter Kosslick
Fracking-Gegner waren auch da
und Jane Fonda
Wettbewerb
Paradies:
Hoffnung
(deutsch)
Der
österreichische Regisseur Ulrich Seidl hat seine Trilogie
(Glaube, Liebe, Hoffnung) auf der Berlinale beendet mit einer
Geschichte um Melanie. Ein ganz normales Mädchen in der
Pubertät, außer dass sie ein bisschen mollig ist.
Ihre Mutter steckt sie über den Sommer in ein Diätcamp.
Dort findet sie Gleichgesinnte, die beim Rundenlaufen stöhnen
und nachts mit ihr in die Küche schleichen, um zu naschen.
Zur Strafe lässt der Sportlehrer sie mit ausgestreckten
Armen dastehen. Das Lied "If you're happy and you know
it, clap your fat" gehört zum Alltag. Als wäre
das noch nicht schlimm genug, verliebt sich die 13-jährige
Melanie in den Arzt und Leiter der Schule. Keine Sorge, es
passiert nichts, nur ein paar verliebte und scheue Blicke
von Melanies Seite, das Begehren in den Augen des Doktors.
Der ihr widersteht und kein Klischee bedient, indem er seine
Position ausnutzt. Nach anfänglichem Mitspielen wie gegenseitigen
Abhören des Herzschlags stößt er sie zurück.
Melanie betrinkt sich und entrinnt in der Dorfkneipe knapp
einer Vergewaltigung. Als ihr Schwarm sie rettet, legt er
sich im Vollrausch neben sie, ohne sie anzurühren. Dann
ist Schluss für ihn. Melanie versucht verzweifelt, ihre
Mutter zu erreichen, aber die ist in Afrika.
Die
Pressekonferenz
Neunzig
Stunden Material hat Ulrich Seidl gedreht, ein Jahr Dehzeit
liegt hinter ihm. Sechs Stnden filtert er heraus und macht
drei Teile. Das hatte er nicht so geplant, gesteht er. Auf
diesen letzten Film hat er sich lange vorbereitet und hunderte
Mädchen angesehen. Auch Melanie, die damals die Hauptschule
besuchte. Ihre Freundinnen hatten ihr einen Zettel zugesteckt,
auf dem stand: "Molliges Mädchen gesucht".
Über ein halbes Jahr streckte sich das Casting hin. Ihre
Mutter schluckte erst mal, als sie den Namen Seidl hörte.
Michael Thomas, der ihr als Sportlehrer schwer zu schaffen
macht, lobt die Natürlichkeit der jungen ungelernten
Schauspieler. Ihm fiel es schwer, streng zu sein, kennt er
doch aus seiner Kinderzeit solche Sportlehrer mit Trillerpfeiefe.
Er selbst ist als zweifacher Vater eher antiautoritär.
Dass es kein Drehbuch gab, war für Melanie zuerst ein
Schock, aber Seidl erklärte die Situationen genau und
ließ die Kamera laufen, bis er die Unterhaltung eingefangen
hatte, die er brauchte. Joseph Lorenz meinte zur Technik des
Regisseurs: "Das ist, als würde man ein Auto konstruieren,
in dem man schon fährt." Wichtig sei zu wissen,
wer man ist. Dass der Arzt die reine Liebe eines Mädchens
erfährt, berührt ihn, und es macht ihm auch zu schaffen.
"Ich
sehe meinen Film als sanftesten der drei Teile", sagt
Melanie. Mit Verena, die im Film ihre Freundin spielt, liegt
sie gleich auf einer Welle. Es hat ihr Spaß gemacht
zu drehen. Zu lachen gibt es im Film tatsächlich allerhand.
Ein Journalist beschreibt Seidls Handschrift als "humorvolle
Gnadenlosigkeit". "Dieser Humor ist mir eigen",
schließt der Regisseur die PK ab.
Panorama
Don
Jon's Addiction
(USA)
Eigentlich
haben wir Journalisten ein bisschen Angst vor solchen Filmen,
in denen der Hautptdarsteller auch noch sein Regie-Debüt
gibt. Bei Joseph Gordon-Levitt können wir aufatmen. Seine
Geschichte um einen Porno süchtigen Macho, der sich verliebt,
hat Drive. Scarlett Johansson bekommt als Barbara auf der
Skala von 1 bis 10 von Jon eine 10. Der Aufreißer versucht
alles, um sie zu kriegen, stellt sie seinen Eltern vor, besucht
sogar einen Kurs und betet gern 10 Ave Marias und 10 Vaterunser,
um sich von seinen Sünden freizusprechen. Doch die Pornos
kann er nicht lassen, irgendwie sind die besser als echter
Sex. Tief verletzt macht Barbara Schluss. Als er im Kurs Esther
(Julianne Moore) kennen lernt, erfährt er endlich, warum
das so ist. Die Einseitigkeit. Die Angst, sich hinzugeben
und anzunehmen, wenn der geliete Mensch sich fallen lässt.
Julianne Moore bekommt auf einer Skala von 1 bis 10 von mir
mindestens eine 11. Sie schafft es, dem Film mit ihrer Ausstrahlung
und ihrer Geschichte eine Tiefe zu geben, die manchem Drama
fehlt.
Joseph Gordon-Levitt auf dem roten Teppich
mit Wieland Speck
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Erster Tag
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7. Februar 2013
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|
Von
Astrid Mathis
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Es
geht schon mal gut los. Kurz vor 10 Uhr am Eingang, wo sich
im Hyatt die Schalter zur Ausweisübergabe befinden, treffe
ich zwei bekannte Fotografen und meine Freundin. Doch schon
will die Schalterfrau mein Geld für die Akkreditierung.
Ich bekomme wie gehabt eine Quittung und wende mich dem nächsten
Schalter zu. Dort bedient mich ein junger Mann, den ich vorher
noch nie gesehen habe. Prompt findet er meinen Ausweis nicht,
an den Barcode-Ausdruck habe ich natürlich auch nicht
gedacht. Schließlich klappt sonst immer alles. "Ja,
ich gucke noch mal" höre ich und sage: "Es
hat noch nicht mal angefangen, und ich bekomme schon Schweißausbrüche."
Offensichtlich will er damit nichts zu tun haben und verweist
mich an den mir bekannten Presseverantwortlichen Oliver Bernau.
Er lächelt. Alles wird gut. "Herr Bernau, Sie müssen
mich retten. Mein Ausweis ist nicht da", beginne ich.
"Kann gar nicht sein", springt er auf den Zug auf,
und ich mache weiter mit: "Das dachte ich auch."
- "Ich gucke noch mal", wiederholt er den Vers des
Neulings und kommt, na, sagen wir mal keine 20 Sekunden später
mit meinem Ausweis in der Hand zu mir, will auf der Quittung
abstreichen, dass ich ihn erhalten habe und stellt fest: "Der
ist ja schon abgestrichen. - Gut, dass sich das heute klärt.
Morgen hätte ja jeder behauptet, der Ausweis wäre
schon rausgegeben worden."
Ich
will nicht länger darüber nachdenken, wie viel Nerven
mich die Bürokratie der Berlinale kostet, aber ich komme
zu dem Schluss, dass wirklich nichts über geschultes
Personal geht.
Die
Jury hat Platz genommen. Wong Kar Wai ist Jurypräsident,
vier Damen aus der Filmwelt sind schön zwischen den drei
Herren platziert. So kommt auch glatt das Lob einer Journalistin,
wie auffällig und schön es sei, dass auf der Berlinale
mal was für die Frauenquote getan wird. Yeah! Tim Robbins
findet das übrigens ebenfalls sehr schön mit den
vielen Frauen und sagt danach nicht viel mehr, denn die Frauen
haben das Sagen, und Regisseurin Susanne Bier wollte und sollte
schon vor Jahren die Berlinale beehren. Nun endlich. Und Andreas
Dresen freut sich als Ostdeutscher, dass viele osteuropäische
Filme gezeigt werden. Na dann.
Wettbewerb
"The Grandmaster"
(kantonesisch/mandarin)
Wong
Kar Wai darf als Jurypräsident seinen historischen Kung-Fu-Film
"The Grandmaster - Der Großmeister" vorstellen.
Während der Filmvorführung frage ich mich, ob es
am Alter liegt, dass ich am ersten Berlinale-Tag schon so
starke Ermüdungserscheinungen habe, dass ich am liebsten
durchschlafen möchte. - Es liegt am Film. - Dabei hat
mir doch "Hero", der vor einigen Jahren von ihm
lief, sehr gut gefallen. - Ich halte trotzdem durch, eine
Frage der Ehre.
Was
bleibt nach zwei Stunden Wong Kar Wai? Die Erinnerung an wunderschöne
Bilder, im Schnee, mit Wassertropfen, mit Gesichtern, die
nicht altern. Die Gewissheit, dass ich einfach keine Kung-Fu-Filme
brauche, die rasante Schnitte mit Slow-Motion koppeln. Davon
tun mir die Augen weh. Die Geschichte des Films? - Hm, der
Großmeister, der seine Familie verlassen muss, und eine
junge Meisterin, die alles von ihrem Vater gelernt hat, verfolgen
ihre Bestimmung und ergeben sich der Tradition und Landesgeschichte,
lernen voneinander und überbieten sich nach jahrelanger
Konkurrenz in Trauer. Soweit mal flapsig die Zusammenfassung.
Wong Kar Wai ist ohne Zweifel ein Großmeister der Filmkunst,
aber er lässt den Betrachter leider völlig außen
vor.
Am
roten Teppich schweben Stunden später haufenweise Promis
vorbei, um wahrscheinlich dasselbe festzustellen.
Andreas Dresen
Tim Robbins
Wong Kar Wai
Jessica Schwarz...
...und Nadja Uhl gehören zu den letzten Schauspielern,
die den Berlinalepalast entern.
Panorama
"A fold in my blanket"
(georgisch/russisch)
Im
Eröffnungsfilm des Panoramas erlebe ich das Gegenteil
vom Nachmittag. Keine Pracht. Minimalismus, aber auch viel
Symbolismus spiegeln ein Familienbild wider, in dem sich jeder
finden kann. Beim Familiengeburtstag läuft im Hintergrund
Puccinis "O mio babbino caro". Die Mutter nötigt
dem Vater Sahnetorte auf, die Schwester zieht ein Gesicht
aus Missgunst. Die Söhne sind wie die Eltern in Kommunikationsunfähigkeit
gefangen. Der Film gibt viel Raum zum Nachdenken, Distanz-Suchen
und Nähe-Finden und provoziert sogar die Frage im Publikum,
ob es denn in Georgien noch keine Handys gäbe. Ich zitiere
an dieser Stelle gern meine Freunde, die mir auch öfter
schon gesagt haben: "Das ist nur ein Film."
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©
POTZDAM 2013 |
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