Berlinale 2012
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Neunter Tag
17. Februar 2012
Von Astrid Mathis

Wettbewerb

"Bel Ami" (außer Konkurrenz)
Zu schön, um wahr zu sein

George Duroy alias Robert Pattinson hat nichts als sein Lächeln, als er Ende des 19. Jahrhunderts mitten in Paris landet. Und er landet wohlbemerkt in einem Bordell. Dort trifft er auf seinen einstigen Kriegskameraden Forestier, der ihm nicht nur einen Job besorgt, sondern ihn in die höchsten gesellschaftlichen Kreise einführt. So soll Duroy das Tagebuch eines Soldaten schreiben und bekommt dafür Schützenhilfe von Forestiers Frau Madeleine (Uma Thurman), die sich dem charmanten Jüngling entzieht, ihn aber gern an Clotilde (Christina Ricci) vermittelt. Nach dem Tod Forestiers sieht er - der sich den Namen Bel Ami inzwischen verdient hat - alle Hindernisse aus dem Weg geräumt und heiratet Madame Forestier. Damit nicht genug. Er will nicht nur gesellschaftlich aufsteigen, er will Rache für die Nichtachtung, die ihm stets begegnet, und beginnt ein Verhältnis mit Madame Rousset (Kristin Scott Thomas), der Frau des Herausgebers. Indessen sägen Rousset und Konsorten am Stuhl der Regierung und ziehen aus Kriegsanleihen Profit.

So schön die Kulisse auch sein mag und wie ansehnlich Robert Pattinson mit diversen Damen herumturtelt, es wird kein Bel Ami aus ihm. Guy de Maupassants Roman bleibt Vorlage für einen Film, aus dem man mehr hätte machen können.

Die Pressekonferenz

Während der Pressekonferenz übt sich der "Twilight"-Star im Kopfsenken. Schüchtern und verunsichert reagiert er auf die Fragen der Presse, die es gut mit ihm meint. Hauptsächlich schlägt er die Augen nieder. Scheinbar würde er am liebsten seinen Pulli übers Gesicht ziehen. Dass er im Film für die Klatschspalte schreibt, habe nichts mit ihm zu tun. Er selbst habe gar keine Erfahrung im journalistischen Bereich, aber lustig sei es schon, ausgerechnet für den Teil zu arbeiten, dem er täglich ausgesetzt ist. Ob er sich als "Guter" oder "Böser" besser fühle, will er nicht recht beantworten: "Ich muss diplomatisch sein. - Es hat alles seine guten Seiten." Für einen weiteren Vampir-Film hält er sich im übrigen schon zu alt. Vier Wochen vor Drehstart begannen die Regisseure Declan Donnellan und Nick Ormerod mit den Proben. Donnellan erklärt die Rolle einfach so: "Es ist die Energie von einem, der kein Talent hat, aber nach oben will. Die treibt ihn." Robert Pattinson meint dazu, er sähe in Bel Ami einen Mann, der sich von Geburt an zu Besserem berufen fühle und seine Lektion lernen müsse. Bel Ami sei überaus sensibel und egoistisch. Alles, was er hört und sieht, bezieht er auf sich. Christina Ricci merkt an, dass ihre Clotilde nicht den Mann sehen will, der er ist, und als sie es sich eingestehen muss, ist es ohnehin egal, denn sie liebt ihn sowieso. Ihr fiel es ganz leicht, dem Film zuzustimmen. Schließlich wollte sie schon immer in einem Kostümfilm mitspielen. Nur dass sie ihre Achselhaare wachsen lassen musste, war ihr unangenehm.

Angesichts der vielen weiblichen Fans will eine Journalistin wissen, was Robert Pattinson von dem Trubel um seine Person halte, die gar nicht so weit weg von Bel Ami wäre. Wieder rettet er sich in Diplomatie. Natürlich ist ihm aufgefallen, dass er hauptsächlich von einem Geschlecht gefeiert werde. "Sie sind großartig, hier warten sogar Leute aus Thailand. Ich kann nur sagen, dass sie sich mir gegenüber loyal verhalten. Sie sind toll", schwärmt der Teenie-Star.

Christina Ricci und Robert Pattinson nach der Pressekonferenz

Auch Robert Pattinson punktet mit Loyalität, besonders aber mit Fan-Pflege. Bereits eine halbe Stunde vor Premierenbeginn steigt er am Berlinale-Palast aus dem Wagen, er schreibt unzählige Autogramme, macht im Regen Fotos mit seinen Fans und gibt letztendlich Fernsehsendern geduldig Interviews. Die beendet er wie folgt: "Thank you for your support." (Danke für Ihre Unterstützung.)
Das klingt doch nach einem echt britischen Gentleman.

  

Achter Tag
16. Februar 2012
Von Astrid Mathis

Wettbewerb
 
"Gnade"
Im hohen Norden

Norwegen ist eine Chance für ein Paar, das sich nichts mehr zu sagen hat. Maria und Nils wandern mit ihrem Sohn aus. Nach Hammerfest, wo man zwischen November und Januar vergeblich auf einen Sonnenstrahl hofft. Jürgen Vogel spricht später von der Sehnsucht nach einem Ort, der einen nicht will. Er kennt das. In diesem Ort ist die Polarnacht zu Hause, über Monate Dunkelheit und Kälte, das passt zu "Gnade". Regisseur Matthias Glasner setzt die Schauspieler einer noch größeren Belastung aus. Die Frau, die Patienten in den letzten Stunden ihres Lebens liebevoll begleitet, hat einen Unfall und begeht Fahrerflucht. Das Mädchen stirbt. Sie macht ihren Mann zum Mitwisser. Ahnungslos beobachtet ihr Sohn, was vor sich geht, und bittet darum, wahrgenommen zu werden.. Wie geht man mit solch einer Schuld um, gesteht man sie am besten am Ende doch? Glasner macht dank guter Kamera spürbar, welcher Rauheit und Schönheit das Ehepaar ausgesetzt ist. Allein - die sakralen Elemente gelingen zu pathetisch. Die Lösung scheint unwirklich und unannehmbar. Die Länge des Films macht es nur noch schlimmer.

Jürgen Vogel, Birgit Minichmayr und Matthias Glasner

Auf der Pressekonferenz stellen sich Birgit Minichmayr, Jürgen Vogel und Regisseur Matthias Glasner unbequemen Fragen und versuchen, das Beste daraus zu machen.Gottseidank sind sie nicht die ersten, die am Eismeer drehen. Trotzdem ist der Dreh für das Team eine Reise, durch die man sich durchkämpfen muss, betont Matthias Glasner. Jürgen Vogel muss sich nicht mehr fragen, wie er einen Satz sagt. Da frieren Hände und Mund so schnell ein, dass er froh ist, wenn er ihn überhaupt rausbringt.

Ja, Birgit Minichmayr hat die Dunkelheit aufs Gemüt geschlagen. Sieben Wochen lang Sprachunterricht haben sie auf ihre Rolle vorbereitet. Jürgen Vogel hat es ihr erst nicht abgenommen. Erst als sie endlos mit einem norwegischen Busfahrer debattierte, musste er es einsehen. Das war keine Schauspielerei, sondern Können. Er habe im Gegensatz dazu absolut kein Sprachtalent. Für ihn waren die Dreharbeiten in Norwegen die lustigsten und interessantesten, von der Art, die Leute zusammenält. Was haben sie dort Feste gefeiert! Vor allem Birgit. "Gnade" - eine Reise von der Dunkelheit ins Licht.

Wettbewerb

"En Kongelig Affaere"
("Die Königin und der Leibarzt")

Die in England aufgewachsene Prinzessin Caroline Mathilde ist Prinz Christian VII. versprochen, und so, wie sie auf ihn wartet, kann es nur ein wahrer Romeo sein, der in Dänemark in der Mitte des 18. Jahrhunderts ihr Gemahl werden soll. Aber Christian ist anders, er versteckt sich bei ihrer ersten Begegnung hinter einem Baum und zeigt seine offensichtliche Enttäuschung über die ihm versprochene Braut mit den kleinen Brüsten. Er ist kein Mann, zu dem sie aufsehen kann. Zu ihm sieht keiner auf. Seine Verspieltheit wie auch seine Stimmungswechsel lassen den jungen König zum Instrument des ihm untergebenen Adels werden. Der nutzt sein Desinteresse an Politik aus.

Als sich der deutsche Arzt Johann Friedrich Struensee den Fall genau ansieht, gewinnt er schnell Christians Vertrauen. Schließlich erkennt er, dass Christians so genannte Verrücktheit nicht vom vielen Masturbieren herrührt, sondern vielmehr von Langeweile, mangelnder Akzeptanz und Aufrichtigkeit. Struensee weckt das Interesse des Königs an Reformen und macht ihn zu seinem Sprachrohr. Sie ziehen ja beide am selben Strang. Königin Caroline, wahrhaft interessiert an Fortschritt und Veränderung, kann gar nicht anders, als Struensee ebenfalls zu erliegen. Die drei Freunde, die scheinbar alles haben können, so zeigt es Regisseur Nikolaj Arcel in einem Bild, wo die Drei einträchtig nebeneinander sitzen, sind dennoch verloren. Auf den Sitz seines Hundes im Kabinett und ein Heim für ungewollte Kinder folgt das Ende einer sich verändernden Zeit. Caroline ist schwanger. Irgendwann musste ja auffliegen, dass sie mit Struensee ein Verhältnis hat. Der königliche Rat sieht seine Chance gekommen, dem König Struensee abspenstig zu machen und seine Frau zu verbannen. Erneut instrumentalisiert und als geistesgestört abgestempelt, sieht er der Hinrichtung seines Freundes und der Abschiebung Carolines tatenlos zu, fast alle Reformen werden rückgängig gemacht.

Andrej Arcel entwirft mit seinen Schauspielern ein historisches Gemälde zwischen 1770 und 1772, in dem kein Strich zu viel, kein Ton zu auffällig erscheint. Mads Mikkelsen in der Rolle des Arztes und Alicia Vikander als Königin Caroline geben ein bezauberndes Liebespaar ab. Aber Mikkel Boe Folsgaard spielt unglaubliches Kino auf der Leinwand. Sein König ist preisverdächtig.

Mads Mikkelsen ist nicht der Typ für Kostümfilme, gesteht er auf der Pressekonferenz, aber als er das Skript las, war er so bewegt und fand es so aus Fleisch und Blut geschrieben, dass er sofort begeistert zusagte. Für die Erzählung dieser wahren Geschichte recherchierte Arcel fünf Jahre, am Set war außerdem ein Historiker. Für Arcel ist er auch eine Hommage an den Gedanken der Aufklärung. Die französische Revolution ereignete sich wohlbemerkt kurze Zeit nach dieser Geschichte. Christians Sohn Friedrich setzte später unter anderem die Aufhebung der Leibeigenschaft durch. Soweit die Belege. Und auch für die große Liebe zwischen Johann und Caroline soll es Beweise geben.

Auf die Frage, wie es war, einen Deutschen zu spielen, antwortet Mads Mikkelsen lachend: "Wir haben ja alle Dänisch gesprochen, also kann ich nur sagen: Ich liebe es, einen Deutschen zu spielen." Weitaus interessanter war die Anekdote, dass er in einer der Kopenhagener Straßen, die nach den Filmfiguren benannt wurden, früher Äpfel geklaut hat.

Für die Rolle des Königs hatte Mikkel Boe Folsgaard viel gelesen. Mal wurde Christian als manisch-depressiv hingestellt, mal als launenhaft. Er sieht in ihm einen naiven Menschen, der schon als Kind viel durchgemacht hat (mit drei Jahren starb seine Mutter, sein Hauslehrer erzog ihn mit sadistischen Mitteln). Viele Proben und Gespräche mit Nikolai gehörten ebenso zur Erarbeitung der Rolle wie das Üben einer besonderen Lache. "So haben wir das Monster kreiert", meint Mikkel lächelnd, und jeder weiß, dass er den Begriff "Monster" nur ironisch meinen kann.

Mads Mikkelsen

…beim Autogramme-Geben

Alicia Vikander auf dem Roten Teppich

Filmcrew "Die Königin und der Leibarzt" vor der Premiere im Berlinale-Palast

Siebenter Tag
15. Februar 2012
Von Astrid Mathis

"Frauentag"
  
Wettbewerb
"Postcards from the Zoo"/ "White Deer Plain"

Der Preis, den Meryl Streep für ihren Ruhm zu zahlen hat, ist der Verzicht auf Museumsbesuche, bemerkte die Schauspielerin gestern auf der Pressekonferenz. "Ich liebe Museen und würde mir auch gern die in Berlin ansehen, aber das ist dann so, dass ich ein Bild anschaue und zeitgleich mindestens fünf Leute vor mir stehen und mich ansehen."

Der Preis für Journalisten während der Berlinale ist ein völlig anderer. Der Schlafrhythmus ist hin. Und dann passiert noch so was wie heute. "Postcards from the Zoo" ("Postkarten vom Zoo") ist der 9-Uhr-Film. Ein Mädchen läuft allein durch den Zoo. Irgendwann begegnet sie uns als junge Frau und Tierpflegerin, sie landet bei einem Zauberer und später in einem Salon für erotische Massagen. Am Ende kann sich die junge Frau den Wunsch, einmal eine Giraffe am Bauch zu berühren, erfüllen. Das schönste Bild in der Geschichte. Zugegeben, der erste indonesische Film auf der Berlinale wäre eine gute Gelegenheit für eine Runde Schlaf gewesen, aber nein, manchmal klappt es eben nicht, weil man denkt, da kommt noch was, das alles rausreißt.

Als mittags der Historienschinken "White Deer Plain" von Wang Quan'an (der bereits mit "Tuyas Ehe" einen Goldenen Bären gewonnen hat) beginnt, wird um mich herum schon getuschelt, man fragt sich, wie man den chinesischen 3-Stunden-Film aushalten soll, wenn er nicht gut ist. Bestenfalls schlafend, aber umsonst gehofft. Der Film hat einen vielversprechenden Anfang: Weizen. Zwei befreundete Jungs spielen die eigene Geburt und lachen sich kaputt, natürlich mitten im Weizenfeld, um das sich von nun an alles drehen soll. Da gibt es schon den ersten Schock, der Kaiser konnte nicht beschützt werden, die Getreidesteuer auch nicht. Das Dorf ist den Revolutionären ausgesetzt, die plündern und vergewaltigen. Beide Jungen sind herangereift und werden Frauen versprochen, müssen heiraten, aber wo die Liebe hinfällt! Einer von ihnen, Heiwa, verguckt sich in seine Arbeitgeberin, als er Weizen erntet. Da wäre eine gute Gelegenheit, die Augen zu schließen, um sie beim Abspann wieder zu öffnen. In der Hoffnung, die Geschichte vom Ende des Kaiserreiches bis zur Invasion der Japaner anhand zweier befreundeter Familien spannend erzählt zu bekommen, bleibe ich hellwach. Um mich herum vernehme ich synchrones Schnarchen. Außer schönen Bildern wird hier nichts gezeigt, was den Zuschauer packen könnte. Eine Frau namens "Xiaoe", die alles auf den Kopf stellt, opiumsüchtig ist und bei sämtlichen Männern Sexspielchen mit Fäkalsprache begleitet, bestimmt das Geschehen. Xiaoe ist im Dorf von Heiwa von Anfang an die Ausgestoßene und steht für das moderne Leben, das jeder probieren, aber keiner behalten will. Von Chen Zhongshis Roman bleiben eine Menge Prügeleien, Bestrafungen, Kriegsbilder und Sex. Und wäre der Weizen nicht...

Wettbewerb (außer Konkurrenz)
"Haywire"

Nur in der ersten Minuten kann der Zuschauer Mallory Kane (Gina Carano) für ein schutzbedürftiges Mädchen halten. Die Kapuze ins blasse Gesicht gezogen, will sie ja nur Kaffee trinken. Dann kommt es zur Schlägerei mit ihrem Kollegen, und Mallory entpuppt sich als mit allen Kampfkunstarten gesegneten Agentin. Mit der sollte sich lieber keiner anlegen, macht Regisseur Steven Soderbergh schnell klar. Sie schnappt sich den nächsten Typen am Eingang und flieht mit ihm und dessen Wagen. Rückblick: Mallory sollte einen chinesischen Journalisten in Barcelona befreien und wird zur Zielscheibe für andere Agenten. Mit Michael Fassbender scheint sie für denselben Auftrag da zu sein, sie kann im Abendkleid mal zeigen, wieviel Weiblichkeit sie drauf hat. Im Hotelzimmer liefert sie sich dann aber mit ihm eine Schlacht, wie sie wohl bis dato nur unter Männern stattfand. Ihre Kontrahenten in dem Actionthriller sind Ewan McGregor, Michael Douglas und Antonio Banderas. Bill Paxton spielt den besorgten Vater, ihre einzige Vertrauensperson.

Mal ganz ehrlich, mit diesem Ensemble und Steven Soderbergh als "Head of Department" kann nun wirklich nichts schief gehen. Dazu Dublin und Barcelona als Drehorte. Einfach nur gut.

Steven Soderbergh mit Antonio Banderas und Gina Carano

 
Die Pressekonferenz

"Ohne Gina hätte es den Film nicht gegeben", setzt Steven Soderbergh gleich an den Anfang der Pressekonferenz. Die Mixed-Martial-Arts Kämpferin hat Ausstrahlung, mal abgesehen von ihrem durchschlagenden Talent. Sie ist die Gute in dem Film, und der bleibt spannend: keine ermüdenden Verfolgungsjagden oder langweiligen Schlägereien. Gina Carano ist ein echter Hingucker, eine echte Kämpferin - ohne Double. Nur einmal traf sie während der Dreharbeiten Michael Fassbender mit einer Vase am Kopf. Nichts Schlimmes. Als Soderbergh Michael Fassbender für den Film gewinnen wollte, fragte er ihn erst mal, ob er ein Problem damit habe, eine Frau zu schlagen. Fassbender verneinte, es sei ja nur eine Rolle. "Am Ende hat sie ja gewonnen", bemerkt der Schauspieler lächelnd auf der PK. Und fügt noch hinzu: "Ich habe herausgefunden, dass es besser aussieht, wenn ich eine drauf kriege als umgekehrt." Er hätte sich außerdem alles von Antonio Banderas abgeguckt. Der gab erst mal zum besten, dass er Urlaub und Filmdreh schon hinter sich hatte, als Soderbergh ihm überraschend mitteilte, dass er ihn für drei letzte Szenen bräuchte. Da war sein Bart bereits ab. "Haben Sie mitbekommen, dass der Film mit 'oh, shit' anfängt und aufhört? Es gibt auch eine Menge 'shit' dazwischen", kommentiert Banderas die letzte Szene.Gina Carano schwärmte vom Adrenalinrausch in ihrer ersten Hauptrolle. Sicher soll es nicht die einzige bleiben.

Der Regisseur betonte, dass 45 Prozent des Films ohne Dialog gemacht sind, andere Actionfilme seien frustrierend. "Deswegen funktioniert auch Hitchcock", erklärt Soderbergh, "der Zuschauer kann zusehen und ist freier in seinen Gedanken." Beim Filmemachen dachte er im übrigen mehr an die 60er und 70er. Niemals sollte die Geschichte Mallorys Perspektive verlieren. Das sei der Grund, warum es von den Drehorten keine Postkarten-Ansichten gäbe.

Ans Aufhören denkt Soderbergh, nebenbei bemerkt, überhaupt nicht. "Gehen Sie nie mit Matt Damon einen trinken. Er hat zwar hinterher behauptet, er wäre nicht betrunken gewesen, aber er hat diese Geschichte rumerzählt, dass ich aufhöre, und jeder fragt mich danach."


 

Sechster Tag
14. Februar 2012
Von Astrid Mathis

Wettbewerb
"Was bleibt"
Leben im Schatten

Nach den vielen komischen Elementen, die das Südstaatendrama "Jane Mansfield's Car" aufzubieten hatte, kommt Hans-Christian Schmids Familiendrama recht düster daher. Da ist nichts komisch. Marko, der sich seit dem Studium in Berlin niedergelassen hat, fährt mit seinem Sohn übers Wochenende zu den Eltern. Dort trifft er auch seinen Bruder, der gleich nebenan wohnt. Papa hat die Verlagsleitung abgegeben und will für sein eigenes Buch im Ausland recherchieren. Marko hat schon eins rausgebracht, verschweigt aber seine Beziehungskrise. Jakob hat seine Freundin zu Besuch und verheimlicht ihr erst mal, dass er mit seiner privatisierten Zahnarztpraxis am Ende ist. Keiner will über den Schatten springen und irgendetwas eingestehen. Vor allem, weil die Mutter (hervorragend gespielt von Corinna Harfouch) eine Krankheit hat, die seither immer alles überschattet hat: Depression. An jenem Wochenende klärt sie alle darüber auf, dass sie zwei Monate zuvor die Tabletten abgesetzt hat und gut alleine zurechtkommt. Entsetzen von allen Seiten. Ihr Mann Günther fühlt seine Auslandsreise bedroht, will seine Frau dort aber auch nicht an seiner Seite haben. Die Söhne sind in heller Aufregung, fragen sich, wie lange das gut geht. Aber wie steht ihre Mutter Gitte da? Jedes Gespräch verstummt, wenn sie den Raum betritt. Nie weiß sie, was gerade wirklich los ist. Nur wenn so ein Moment da ist wie in der Szene, als alle in das Lied "Du lässt dich gehn" einstimmen, scheint die Welt in Ordnung. Zu ihrem Ältesten Marko hat sie die innigste Verbindung - er ist ja auch am weitesten weg. Das sieht auch der Jüngste, der ihm Vorwürfe macht, immer wieder weg zu sein und ihn allein mit der Situation zu lassen. Sie nennen ihre Eltern beim Vornamen, müssen jedoch einsehen, dass sie deren Kinder bleiben werden, egal, wie sie sie nennen.

Was bleibt: Corinna Harfouch, Lars Eidinger und Hans-Christian Schmid

Corinna Harfouch will nicht beim Vornamen genannt werden. Ihre Kinder sollen "Mutti" oder "Mama" zu ihr sagen. "Das ist vielleicht eine westdeutsche Erfindung. Ich finde das furchtbar", merkte sie während der Pressekonferenz an. Zuvor hatte sie ein Journalist mit dem Gerücht konfrontiert, eine "Regie-Plage" zu sein. "Nicht jedes Mal. Ich lasse immer mal einen aus", konterte sie lächelnd. Dass ihre Filmsöhne "Gitte" zu ihr sagen, ist ganz entscheidend, findet Lars Eidinger, denn schließlich hat es einen Grund, warum er später im Wald "Mama" ruft. In Eltern Freunde zu suchen, kann ein Problem sein, schließt er das Thema ab. Letztlich bliebe die Sehnsucht nach ursprünglicher Vertrautheit, etwas Natürlichem. "Die Krankheit prägt alle", betonte Corinna Harfouch, "darum sind alle anderen auch krank oder unglücklich. Alles dreht sich darum - Das erzählt auch was über unsere Gesellschaft." Und wie hat sie sich selbst auf die Rolle einer depressiven Mutter vorbereitet? "Mein Gott. Das Leben bereitet einen darauf vor", erwiderte sie, "jeder hat Probleme, und Freunde haben Probleme. Das ist mir nicht fremd." Die Rolle einer Frau zu spielen, die ihr Leben nicht leben darf, bewegte sie extrem. Sich in dem Haus und dem Leben von Gitte zurechtzufinden, dauerte. "Die Einrichtung, die Oberfläche - ich sehe sie ganz stark. Das ist nicht meine Geschichte."

Schmid hat im eigenen Leben recherchiert, er kennt das Gefühl, nicht zeigen zu wollen, wie es einem geht, wenn man nach Hause kommt. Er entlässt den Zuschauer aus dem Film mit einer Katastrophe ohne Katharsis und endet mit einem Epilog.

Wettbewerb
"Die eiserne Lady" (außer Konkurrenz)
Die Frau an der Spitze

Ist sie es wirklich? Diese Frau, die da im Kleiderschrank zwischen alten Anzügen wühlt, könnte eine noch ältere Margaret Thatcher sein, als Meryl Streep sie geben soll. Man muss schon genauer hinsehen, um zu erkennen, dass sie es ist, die von der ersten Sekunde an die Szene beherrscht. Mein Gott, diese Frau spielt unglaublich!

Der Film beginnt mit einer Margaret Thatcher, die im kleinen Laden um die Ecke von der Kasse gedrängt wird, weil sie keiner mehr für voll nimmt. Sie geht nach Hause mit einer Packung Milch und setzt sich zu ihrem Mann Dennis (hervorragend: Jim Broadbent) an den Frühstückstisch. Was sind die Milchpreise bloß gestiegen!, beschwert sie sich. Ihre Tochter kommt später vorbei und will ihr beim Aussortieren von alten Kleidungsstücken helfen. Da erst wird endgültig klar, Margaret Thatcher ist nicht mehr Premierministerin von England, und ihr Mann ist schon lange tot. Sie blickt zurück auf ihr Leben, die Anfänge ihrer politischen Karriere, der einer Krämertochter, die von den konservativen Parteigenossen belächelt wird und in ihrem Vater immer das große Vorbild sieht. Den Beginn ihrer großen Liebe Dennis, der sie immer unterstützt hat und den man verstehen kann, als er ihr einen Antrag macht. Als sie Premierministerin wird, haben sich die Wege zwischen ihr und Dennis getrennt. Sie lebt für die Politik, nimmt dafür Sprachtraining für eine tiefere Stimme und mehr Wirkung sowie eine neue Frisur in Kauf. Ihre Kinder kommen praktisch nicht mehr vor. Schließlich ist sie die erste Frau, die in das Amt des Premierministers gewählt wird.

Sie sagt einmal: "Früher zählte, was du tust. Heute zählt nur, wer du bist."

Ja, das will man wohl glauben. Sie tat eine Menge und traf nicht immer auf Verständnis. Vielmehr duldete sie keine andere Meinung, so der Eindruck nach dem Film. Von der freien Marktwirtschaft und Steuern für jeden Bürger überzeugt, zog sie auch den Groll der Bevölkerung auf sich. Nach elf Jahren Amtszeit, dem gewonnenen Krieg um die Falklandinseln, der viele Menschenleben kostete, und zahlreichen Disputen mit ihren Parteigenossen, stieg sie aus der Politik aus. Sie wurde nicht im ersten Wahlgang gewählt, sie zog die Konsequenz. Ob sie tatsächlich zu dem Zeitpunkt, wie im Film intendiert, nicht mehr geistig auf der Höhe war, sei dahingestellt.

Fakt ist, Meryl Streep als Margaret Thatcher zu erleben, ist ein besonderes Kinoereignis.

Jim Broadbent, Meryl Streep und Phyllida Lloyd

 
Die Pressekonferenz

Es ist Valentinstag, und Meryl Streep wird zur Beschenkten. Ein Verehrer überreicht ihr weiße Rosen, ein anderer schenkt eine Matroschka, die einmal Meryl Streep, einmal die Schauspielerin als Margaret Thatcher, schließlich mit der Robe von "Ein Teufel trägt Prada" zeigt. Meryl Streep ist hingerissen, und das sind auch die Journalisten im Pressekonferenzraum. Ihr Filmpartner Jim Broadbent sieht ein bisschen verloren aus neben der Frau mit der starken Aura - wie im Film.

Ob sie immer noch aufgeregt sei, wenn es hieße: "The winner is". "Aber ja." Sie mache ja auch nur ihre Arbeit und würde nicht nach dem Superbowl greifen wollen. Nebenbei bemerkt, um von der Rolle "runterzukommen", gab es für die Schauspielerin nach Drehschluss ganz einfach Gin Tonic. "Hattest du keinen?", fragt die Hollywood-Schöne arglos ihren Film-Ehemann. Jim Broadbent verneint, und Lady Streep hat sie Lacher auf ihrer Seite. Sie sei immer so, merkt Broadbent lachend an. Meryl Streep gibt zu, das Make-up dauerte lange - jeden Tag, aber immerhin arbeitet sie seit "Sophies Entscheidung", also seit 35 Jahren, immer mit demselben Maskenbildner. Das sei ihr großer Vorteil. Um sich der Rolle anzunähern, habe sie sich gefragt, was sie mit MT verbinde. Die Menschlichkeit sei sicher ein bedeutender Faktor, erklärt Meryl Streep. "Ich habe viel durch die Rolle gelernt", bemerkt die Schauspielerin, "als linksliberale Amerikanerin." Vorher hatte sie immer nur gedacht, Thatcher wäre ein Freund Ronald Reagans und hätte eine komische Frisur. Was Frauen so denken, wenn sie über Frauen nachdenken. "Wer weiß, was die Leute über mich sagen. Vielleicht dasselbe", ergänzt sie. Was Meryl Streep durch die Arbeit lernte, war einiges: So hatte Thatcher schon früh die globale Erwärmung erkannt, und sie tat viel für die Gleichberechtigung der Frauen. Um nur zwei Punkte zu nennen. Nach Meryl Streeps Meinung hat die Britin allerdings keinen Humor, so musste ihn ihr Ehemann ja haben. Als sie nach ihrem Geheimnis für ihre Umsetzung der Rollen gefragt wird, hält sie inne. Das Schwierige sei, immer frisch und neu aufzutreten. Angst sei sehr wichtig, denn die würde einen zur Vorsicht gebieten.. Sie mag generell schwierige Frauen. Dass sie nun von Dieter Kosslick mit dem goldenen Ehrenbär ausgezeichnet wird, sei für sie eine besondere Ehre. Besorgt fragt ein Journalist: "Ist das jetzt das letzte Mal, dass Sie hier sind?" Ohne Zögern antwortet die Künstlerin: "Nein", schlägt die Augen nieder und klappt sie auf mit den Worten, "das ist nicht das letzte Mal, dass Ihr mich hier seht."

Was den Inhalt des Filmes angeht, genauer gesagt, seinen Wahrheitsgehalt, spricht Regisseurin Phyllida Lloyd Tacheles: 50 Prozent aus Sicht der Premierministerin (auf Grundlage ihres Buches), 50 Prozent Erfindung. Und es war nicht ihr Anliegen, aus der eisernen Lady eine goldene zu machen.

Dann entschwebt die Diva mit ihren Blumen und einem Lächeln. Seufz!

Meryl Streep beim Abgang

Jim Broadbent schrieb noch fleißig Autogramme.
 

Fünfter Tag
13. Februar 2012
Von Astrid Mathis

Wettbewerb
"L'enfant d'en haut" ("Sister")
Das Kind von oben

Das Kind von oben, so die wörtliche Übersetzung des Titels, trifft es haargenau. Da lebt ein Junge in der Schweiz und macht das Geschäft seines Lebens, wenn die Saison beginnt. Das Geld für den Skipass hat er schnell wieder raus. Simon stiehlt Skier, Handschuhe, Brillen und verkauft die Ausrüstung wieder. Von dem Geld profitiert auch seine Schwester, die im Tal mit ihm lebt und von der er sich selbst Umarmungen erkaufen muss. Der Junge sehnt sich nach einer Familie und schwindelt einer Amerikanerin vor, eine solche zu haben, um wiederum deren Zuneigung zu gewinnen. Irgendwann muss er ja auffliegen, und das passiert. Er kann nicht mehr hoch und will in seiner Verzweiflung die Skisachen sogar am Straßenrand verkaufen. Er tut einfach alles, um nicht verlassen zu werden.

Die Schweizer Regisseurin Ursula Meier hält die Situation des Jungen nicht für unrealistisch, sagt sie während der anschließenden Pressekonferenz. Es gäbe Leute, die durch das soziale Netz fallen. So eine Situation wollte sie zwischen den Schauspielern Léa Seydoux und Kacey Mottet Klein schildern.

Wettbewerb
"Jane Manfield's Car"
Ganz in Familie

Billy Bob Thornton holte sich für diesen Film einen ganzen Clan an Stars zusammen. Kevin Bacon mimt den Hippie-Sohn, Robert Duvall spielt den unnahbaren Vater, Thornton selbst übernimmt den Part des merkwürdig agierenden, vom Vietnamkrieg traumatisierten Sohnes. John Hurt ist das Familienoberhaupt der zweiten Ehe.

Zur Geschichte:1968. Mama stirbt und wird aus England überführt. Weil sie zwei Mal verheiratet war, kommt auch der Clan der englischen Familie nach Amerika gereist, um sich auf der Beerdigung zu verabschieden. Es ist von Anfang an klar, dass verbal die Fetzen fliegen werden. Die Anspannung ist einfach zu groß. Über all dem schwebt die Erinnerung an die Kriegserfahrungen, die der Vater (Robert Duvall) und seine Söhne erlebt haben. Einmal fragt Billy Boby Thornton seinen Vater, ob er eine Anekdote aus der Kindheit wüsste. Irgendwas. Er antwortet nicht. Alle reden eigentlich aneinander vorbei. Statt dessen nimmt der Vater seine Söhne zu Autowracks nach einem Unfall mit und starrt scheinbar endlos darauf.

Katherine LaNasa, John Hurt und Billy Bob Thornton

Es ist Billy Bob Thorntons vierter Film, und er erklärt gleich zu Anfang der Pressekonferenz, dass er ihn gemacht hat, weil er lieber was tut, anstatt sich immer über die laufenden Filme zu beschweren. Er schrieb das Drehbuch und suchte Unterstützer des Projektes. "Das will ja keiner machen, so eine Thematik in der Art. Deshalb haben es die Russen finanziert", so Thornton. Schon als er das Skript schrieb, hatte er für die Rollen bestimmte Leute im Hinterkopf. Auf die Frage, ob er den Sohn spielt, weil er niemand anderen dafür fand, antwortete er: "Warum soll ich jemandem sagen: Mach es so oder so, wenn ich weiß, dass die Rolle zu mir passen würde. Ich glaube, selbst wenn ich vorher nicht entschieden hätte, hätten alle Beteiligten sich genau die Rolle ausgesucht, die sie bekommen haben."

Ein bisschen was von Tschechows Humor und Tragik sei darin, findet er. Die Schauspielerin Katherine La Nasa bemerkt, Thornton sei ein Regisseur, der genau wüsste, was er wollte, der die Bilder dazu im Kopf hatte und dafür sorgte, dass sich alle am Set wohl fühlten. "Ich hatte die beste Zeit meines Lebens", schwärmt sie. John Hurt lobt die Sorge um Privatsphäre aller Charaktere und deren Frieden. Ray Stevenson (den die Serie "Rom" berühmt gemacht hat), erzählt, er wäre ganz baff gewesen, als der Anruf kam und stolz, dabei zu sein.

Schließlich erzählt Billy Bob Thornton, dass sein Vater - ein gewalttätiger Ire, der im Korea-Krieg war, wie er ihn selbst beschreibt - ihn immer zu Autowracks geschleppt hatte. Er und sein Bruder hätten daneben gestanden und sich zwei Stunden gefragt, warum er darauf starrte. Er konnte nicht reden. Als Thornton 17 war, starb sein Vater. Natürlich habe er ihn geliebt, weil er sein Vater war, und natürlich wünscht er sich, von seinem Film-Vater Robert Duvall akzeptiert zu werden.

Zu guter Letzt - man hatte schon befürchtet, keiner würde fragen - erkundigt sich ein Journalist nach Angelina Jolie, mit der Thornton früher zusammen war. Will wissen, ob sie sich sehen würden, jetzt, wo sie beide mit Filmen auf der Berlinale präsent seien. Nein, er hat sie noch nicht getroffen, aber das würde sicher bald zum Kaffee einmal klappen. "Sie ist eine wunderbare Frau, eine meiner besten Freundinnen. Auch Brad ist ein Freund von mir."

Na dann ist ja alles gut.

Panorama
" Unter Männern - Schwul in der DDR"

Ach, sie hätten noch so viel mehr erzählen können, diese sechs Männer, die Regisseur Ringo Rösener in seinem Film befragt. Frank Schäfer, der in der DDR Verhaftungen über sich ergehen lassen musste, weil er am Alexanderplatz in Berlin mit pinken Haaren auftauchte. "Es war auch irgendwie cool", bemerkt er einmal, Wenn man auffiel, war man cool. Und er stach aus der Menge nicht nur hervor, weil er die Frisur von Billy Idol für sich entdeckt hatte. Dass er homosexuell ist, blieb nicht lange unbekannt und hatte Folgen, die er lieber hinnahm, als erschossen zu werden. Dank seiner Tätigkeit am Theater kam er in den Westen. Er wollte seinen Freund nachholen, schickte eine Frau, die er nur zum Schein heiraten sollte. Darauf ging er nicht ein, wollte lieber, dass Schäfer zurückkam, aber für Schäfer war die Freiheit im Westen unverzichtbar geworden.

Von Freiheit konnte Eddy Stapel nur träumen. Er war auf der Liste, konnte nicht mal seinen Traumberuf Pfarrer ausüben, weil er Zusammentreffen von Schwulen organisierte und so was wie Volkshochschulkurse für Schwule gab. Seine Akte ist dick und offenbart, dass Männer auf ihn angesetzt waren, um sich nur aus einem Grund mit ihm anzufreunden - nämlich, um ihn zu bespitzeln.

Für John Zimmer war es lange unvorstellbar, sich in seinem Heimatort Lauscha zur Homosexualität zu bekennen. Und weil er in seiner Jugend nicht ein noch aus wusste, wollte er fliehen - durch den Thüringer Wald über die Grenze. Allein der Gedanke, seinen Kumpel, in den er in Wirklichkeit verliebt war, nicht wiederzusehen, hielt ihn zurück. Ihm ist anzumerken, wie schwer es ihm fällt, sich an sein "Coming Out" zu erinnern. Den Satz seiner Mutter bringt er nicht über die Lippen. Alle anderen reagierten unaufgeregt, meinten: "Hauptsache, der Junge arbeitet ordentlich."

Die ältesten Protagonisten in dem Film sind heute 80 und erzählen, dass es Homosexualtität nicht geben durfte und sie sich Orte suchten, an denen sie akzeptiert wurde, wie am FKK-Strand an der Ostsee oder auf der Klappe in Leipzig. Jeder wusste davon, keiner sprach darüber.

Die Dokumentation gewährt nur einen kleinen Einblick in die Welt der Schwulen in der DDR, aber immerhin, sie tut es mit viel Herz, lässt die Ostdeutschen lange zu Wort kommen und weckt Verständnis für ein Leben hinter der Mauer. Das Interesse daran stillt der Film jedoch nicht.
 

Vierter Tag
12. Februar 2012
Von Astrid Mathis

Wettbewerb
"Metéora"
Liebe versetzt Berge

Was für ein ungewöhnlicher Beitrag. Ein Klosterfilm, in dem eine Nonne einen Mönch liebt. Stillschweigend. Dazu noch an einem Ort, den man erfinden müsste, wenn es ihn nicht schon gäbe - auf den Gipfeln der Metéor-Klöster in Thessalien. Denn vom russisch-orthodoxen Kloster kann die Nonne nicht so leicht weg. Sie muss in einem Netz per Seilwinde heruntergelassen werden. Als sich die beiden in Gottes freier Natur treffen, lässt einen die Frage nicht los, wie es überhaupt anfing. Allerdings sind wir erst am Anfang. Die Zwei fallen sich nicht einfach so in die Arme. Sie wehren sich gegen ihre Gefühle, lassen ihre Blicke ausdrücken, wofür ihnen die Worte fehlen. Sind sie in ihrem Heim zurück, kämpfen sie mit ihrem Gewissen und beten. Dazwischen wird die Geschichte bruchstückhaft auf Papier eingeblendet wie in einem Kinderbuch. Oder wie sie als Trickfilm aussehen könnte. Metapher für Metapher. Immer wieder erscheint die wunderschöne Landschaft vor dem Auge des Betrachters, und die beiden Klöster sind zu sehen. Wie ein Refrain wiederholen sich die Bildausschnitte. Fast erschrickt man, dass es tatsächlich zum Liebesakt kommt. Und plötzlich, noch während die Kloster wieder eingeblendet werden, hört man jemanden "Schande" rufen und dann befreit auflachen. Das ist entweder sehr albern oder filmische Dichtkunst. Ich bin für letzteres.


Berlinale Spezial "Marley"

Auf der Seite Gottes

Bob Marley (1945-1981) ist eine Legende, und das zeigt Regisseur Kevin Macdonald auch in seiner Dokumentation, die am Sonntagabend im Friedrichstadtpalast Weltpremiere feierte. Von einer sehr intimen Seite. Er zeigt ihn nicht hauptsächlich als Reggae-Ikone, sondern vielmehr als Mensch. Macdonald hat sie dafür alle vor die Kamera gelockt - die Mutter, den Cousin, Marleys Frauen, seine Kinder und Freunde, Kollegen. Mit dem Filmmaterial zusammen ergibt das eine Mischung, die mehr über Bob Marley verrät als alles andere zuvor und ihn dadurch vor allem nahbar macht.

Seine Lehrerin ist die erste, die über ihn spricht. Er habe schon immer gern gesungen, am liebsten das Lied vom Esel. - Marley wuchs auf dem Land in Nine Mile (Gemeinde Saint Ann auf Jamaika) auf und war als Sohn eines weißen Briten von Anfang an ein Außenseiter in seinem Dorf. Von seinem Vater weiß er nur, dass er gern geritten war und nicht lange blieb. Marley sagte einmal: "Ich bin nicht auf der Seite der Weißen und auch nicht auf der der Schwarzen. Ich bin auf Gottes Seite." Mit 12 zog er mit seiner Mutter nach Kingston, wo er neben dem Schweißer-Job immer mehr an seiner Musik arbeitete. Im Alter von 16 Jahren ging er nach Jamaika zurück, das gerade seine Unabhängigkeit durchgesetzt hatte, und gründete seine erste Band - die "Wailers", mit denen er sich verwirklichen wollte. Die Wailers schleppte er sogar zum Friedhof. Seine Meinung: "Wenn man vor Toten singen kann, kann man auch auf einer Bühne vor vielen Menschen singen." Es dauerte nicht lange, bis er sich Dreadlocks wachsen ließ als eindeutiges Zeichen dafür, Rastafari zu sein. Die Verehrung von Ägyptens Kaiser Haile Selassie ist im Film allgegenwärtig. Dazu erklärt ein Weggefährte, was Reggae ist: Jazz, Soul, Rhythm & Blues. Drei Schläge, den vierten denkt man sich. So geht das. Bis zum endgültigen Durchbruch dauerte es. Das Konzert in London 1975 war letztlich der Auslöser für eine Reggae-Manie, die verwunderlicherweise vor allem Weiße ergriff. Seine Gabe - er konnte Menschen zusammenbringen. Er spielte vor 60000 Leuten, und seine Bandkollegen hatten den Eindruck, die Hälfte davon nähme er mit nach Hause. Sein Ort für Zusammentreffen und Gedankenaustausch war Hope Road.

Marleys Frauen (aus 7 Beziehungen zu Frauen gingen 11 Kinder hervor) haben nur herzliche Worte für den Star. Sein Trumpf war Schüchternheit. Keine konnte ihm böse sein. "Gehörte er jemandem?" fragt eine Ex-Partnerin in der Doku. Und seine Tochter bemerkt: "Ich dachte, dass man ihn wenigstens einmal für sich haben könnte." Er war nicht so. Er war für alle da. So entschied er sich für ein Friedenskonzert, vor dem er, seine Frau Rita und sein Manager einen Anschlag erlebten. Marley entschied sich auch, für die Tour mit den Commodores als Vorband durch Amerika zu reisen. Das Konzert in Pittsburgh sollte sein letztes werden. Eine unbehandelte Fußverletzung hatte Hautkrebs zur Folge, für den es keine Rettung mehr gab. Im verschneiten Rottach-Egern/Bayern ließ er sich behandeln. Ohne Erfolg. Am 8. Mai trat er die Rückreise nach Jamaika an und verstarb drei Tage später, bevor er sein Ziel erreichte.

Neville Garrick, Rohan Marley und Kevin Macdonald

Rohan Marley, ein Sohn Robert Marleys, stellte sich zur Premiere den Fragen der Journalisten. Er repräsentiere alle Marleys, und um es vorwegzunehmen, alle seien eine Familie. Es gäbe keine Halbgeschwister. Er sage genauso "Mummy" zu seiner eigenen wie zu den anderen. Über seinen Vater einen Spielfilm zu machen, hält er fast für unmöglich. Selbst der talentierte Will Smith sei dazu nicht in der Lage. Man müsse diesen spirituellen Geist einfach fühlen. Das könne ja nur ein Sohn von Marley selbst. Allein schon die Tänze!

Der Film sollte zum 60. Geburtstag fertig werden, passend zum Jubiläum 50 Jahre Unabhängigkeit auf Jamaika. Zwei andere Regisseure hatten schon begonnen und aufgegeben. Kevin Macdonald recherchierte 13 Monate und packte es. Zusammen mit Marleys Freund, NevilleGarrick (Musikdirektor). Er machte daraus einen Film, der mitreißt, selbst wenn man kein Reggae-Fan ist. Bob Marley und seinem Stellenwert in der Musikgeschichte kann man nicht näher kommen als mit dieser Dokumentation.

Rohan Marley mit einem Fan

Kevin Macdonald


Wettbewerb (außer Konkurrenz)
"Shadow Dancer"
Fass ohne Boden

Diese blasse Frau mit den dunklen Haaren und dem traurigen Blick kann keine Terroristin sein, will man meinen. Colette McVeigh kann aber nicht anders. Sie ist hineingeboren in eine Familie, die Anschläge verübt und mordet. Vor 20 Jahren starb ihr jüngster Bruder, den sie statt ihrer zum Zigarettenholen schickt. Diese Schuldgefühle wird sie nie los. Belfast, 1993. Das FBI ist ihr während eines Anschlags in der U-Bahn auf der Spur und stellt ihr ein Ultimatum. Entweder sie hilft als Informant, oder sie sieht ihren Sohn nie wieder. "Keiner wird verletzt", verspricht der zuständige Agent Mac. Und kann es doch nicht halten. Zu spät erfährt er, dass es in der Familie schon einen anderen Maulwurf gibt und Colette ausgeliefert ist. Diese Angst und Sehnsucht nach Freiheit, die Colette beherrscht, trägt durch den ganzen Film.

Andrea Riseborough spielt Colette mit einer Zerbrechlichkeit und Eindringlichkeit, dass man diese Figur lange nicht vergisst. An der Seite von Clive Owen (Agent Mac) glänzt sie mit einer überragenden schauspielerischen Leistung, sofern sich in den tristen Farben eingebettet von Glanz sprechen lässt.
 

Dritter Tag
11. Februar 2012
Von Astrid Mathis

Wettbewerb
"Barbara"
Komm mit - Lauf weg

Warum ist sie nur so sauer? Diese Frau, die da mit dem Bus auf dem Lande ankommt und sich auf eine Bank setzt, um ja nicht zu früh da zu sein. Aus Berlin ist sie, von der Charité, eine gute Ärztin. Strafversetzt. Nur warum? Barbara hat einen Ausreiseantrag gestellt und will zu ihrem Freund nach Westdeutschland. Es ist 1980.

Nina Hoss ist Barbara - spröde, unnahbar, abweisend. Vor allem misstrauisch. Sie hat eine schäbige Wohnung zugeteilt bekommen, in der immer wieder Besuch von der Stasi auftaucht, der alles auf den Kopf stellt und sie mit einem widerlichen Ritual untersucht. Ihr Kollege André (Ronald Zehrfeld) kann nur ahnen, warum sie sich "separiert". Er bietet ihr trotzdem seine Hilfe an - zu renovieren oder einen Klaverstimmer zu besorgen. Beobachtet, wie liebvoll sie mit den Jugendlichen umgeht, die auf die Station kommen. Das junge Mädchen, das aus einer Besserungsanstalt ausgebrochen ist und fliehen will, erweicht ihr Herz. Auch der Junge, der versucht hat, sich umzubringen, lässt sie nicht los. Aber sie will loslassen - trifft sich heimlich im Wald mit ihrem Freund, versteckt Geld für die Flucht, plant alles genau. Dazwischen schafft sie sich kleine Freiheiten, fährt mit dem Fahrrad los und genießt den Wind in den Haaren. André weiß nichts von ihren Plänen. Er sieht, dass sie eine gute Ärztin ist und will den Schutzwall, der sie umgibt, durchbrechen, ohne ihr weh zu tun. Aber Barbara hat Angst, er könnte auch von der Stasi sein oder ihre Pläne durchkreuzen. Und sie will ihren eigenen Weg wählen.

Regisseur Thomas Petzold hat für Barbara seine Lieblingsschauspielerin gewonnen. Nina Hoss hatte schon mit dem Film "Yella" und, zugegeben, ihrer mystischen Art, eine Frauenfigur verkörpert, die fesselt - und das bis zum Schluss der Geschichte. Man will diese Frau - Petzolds Barbara - verstehen und sie begleiten, wohin sie auch geht.

Barbara (Nina Hoss)


Wettbewerb
"Caesar muss sterben"
Shakespeares Geheimnis

Ja, Shakespeare wirkt therapeutisch. In dem Film der Brüder Paolo (80) und Vittorio Taviani (82) aus Italien wird es ganz deutlich. Die beiden Männer haben im römischen Gefängnis Rebibbia verfolgt, wie die Insassen unter der Leitung Fabio Cavalli Shakespeares Stück "Julius Caesar" einstudieren. Zuerst müssen die Akteure allerdings durch ein Casting. Einmal sollen sie sich traurig und ein anderes Mal sehr wütend vorstellen. Sie hätten in diesem Moment lügen und einen falschen Namen sagen können. Sie taten es nicht, agierten mit ihrer persönlichen Geschichte. Und ihrem Dialekt. Das sind zweifellos die schönsten und interessantesten Minuten dieses Films. Danach wurden die Rollen verteilt, und schon begannen die Proben. Mittendrin sagt einer der Akteure, erst durch das Theater fühle er, dass er in einem Gefängnis sei.

Bis zur Aufführung sieht der Zuschauer nur Schwarz-Weiß - Stück für Stück das Drama. Die Premiere und das eigentliche Finale erlebt er in Farbe. Die Darsteller reißen die Arme hoch und strahlen dem begeisterten Publikum entgegen. Am Ende des Films wird erwähnt, dass einige der Mitwirkenden inzwischen frei sind, Schauspieler oder Autor. Nicht die Mörder wohlbemerkt.

So interessant die Form der Inszenierung auch sei, man wünscht sich, man hätte in dem Film mehr über die Menschen erfahren, die Zeit zwischen den Proben oder zumindest, wie es zur Freilassung kam. Schade, dass die Tavianis darauf verzichtet haben. Das fehlt. In der Pressekonferenz verraten sie, wie sie sich während ihrer Regie-Arbeit verständigt haben - mit Kratzen am Kopf, Hüsteln, Zwinkern. Mehr verraten sie nicht.
 

Zweiter Tag
10. Februar 2012
Von Astrid Mathis

Wettbewerb (außer Konkurrenz)
"Extrem laut und unglaublich nah"
Black gesucht

Stephen Daldry lässt seinen Film so harmonisch beginnen wie nur irgend möglich. Tom Hanks und Sandra Bullock geben ein Elternpaar ab, das wie geschaffen für Thomas Horn scheint, und dieser Junge, der in die Rolle des Oskar schlüpft, ist ganz klar der Held in der Geschichte. Oskar ist zwölf und besonders. Nicht nur, weil er seinen Vater am 11. September beim Terroranschlag in den Twin Towers verliert. Er ist irgendwie anders als andere Kinder. Er mag nicht schaukeln, traut sich nicht. Dafür geht er lieber auf Entdeckungsreise, zum Beispiel nach dem verschwundenen 6. Bezirk von New York City. In seinem Dad hat er den besten Kameraden und Herausforderer an seiner Seite. Als ihm nach dem Tod des Vaters ein Schlüssel in die Hände fällt, der in einem Umschlag mit der Aufschrift "Black" steckt , versucht er, das Schloss zu finden. Mit diesem Rätsel hat er eine Aufgabe, die ihn länger in Verbindung mit seinem Vater sein lässt. So denkt er. Mit seiner Mutter kann er nicht reden, er kann sich einfach nicht überwinden, enthält ihr sogar den Anrufbeantworter vor, auf den sein Vater an dem schlimmsten aller Tage, wie er ihn nennt, sechs Mal sprach. Er sagt ihr nicht mal, dass er alle New Yorker mit dem Namen "Black" besuchen will, um eine Spur zu finden. In dem Untermieter seiner Großmutter sieht er jedoch bald einen Verbündeten, der ihn begleitet. Der alte Herr (Max von Sydow) ist stumm und birgt in sich ebenfalls ein Geheimnis, das am Ende gelüftet wird.

Nun könnte man sagen, dass über 9/11 wirklich schon genug Filme gedreht wurden. Aber: Stephen Daldry orientiert sich an einer Romanvorlage, und das macht er sehr gut. Zu meckern, weil einem die Suche lang vorkommt und man keine feuchten Augen haben will, ist unfair. In der Geschichte werden wir darauf gestoßen, wie man die Welt mit Kinderaugen sieht, man fragt sich, wovor man selbst als Kind Angst hatte und was man nicht loslassen konnte. Und der Schmerz, weil man einen Menschen verloren hat, wie auch die Unfähigkeit, mit jemandem darüber zu reden, ist immer wieder Thema dieser Welt. Wie in diesem bewegenden Film.

Die Pressekonferenz

Es drehte sich eigentlich alles um Thomas Horn. Kaum hatte er den Raum betreten, zog der junge Schauspieler die Aufmerksamkeit eines jeden auf sich. Schon die erste Frage an Max von Sydow bezog sich auf den Jungen. Wie es war mit ihm zu arbeiten. "Ich war beeindruckt", so die Kurzzusammenfassung. Auch Stephen Daldry geriet ins Schwärmen: "Wir haben viel geprobt, und bald konnte ich mit ihm wie mit einem erwachsenen Schauspieler am Set umgehen." Außerdem interessierte die Journalisten, wie Thomas Horn sich fühlte, mit solchen Stars wie Sandra Bullock und Tom Hanks zu arbeiten. Als er antwortete, dankte er für die Zusammenarbeit und sagte: "Sie waren alle sehr nett und haben mich sehr unterstützt. Wir hatten viel Spaß." Überhaupt war es für ihn viel angenehmer, in Szenen mit anderen zu spielen als allein. - Bei all dem, was er sagte, klang er so überlegt und erwachsen, dass es fast unnötig war, dass Daldry erwähnte, Thomas stamme aus einem wohlbehüteten Elternhaus. Vielleicht so eines wie im Film. Jedoch wies der Star des Films jede Ähnlichkeit mit der Figur Oskar von sich. Dafür lieferte er kurz darauf einen weiteren Beweis für seine spezielle Art: Eine Frage ging an Daldry, die er per Kopfhörer verpasst hatte. Sofort erklärte ihm Thomas präzise: "Ich weiß, was die Frau meint. Sie fragt, warum das Ende so ist, wie es ist. Es hätte ihrer Meinung nach viel früher vorbei sein können. So ist es ihr zu perfekt." Und nicht nur die Frage brachte ihm Applaus ein, sondern, dass er sie selbst beantwortete. Er erklärte, in dem Film ginge es darum, eine Familie zusammenzubringen. Bevor das nicht passiere, könne der Film nicht aufhören. Apropos aufhören. An Max von Sydow ging die Frage, ob es denn anders sei, einen stummen Charakter zu spielen. "Überhaupt nicht", entgegnete er. Dann wurde es noch einmal sehr ernst. Jeder erzählte, wo er sich am Tag des Anschlags befand. Max von Sydow bekam einen Anruf, als er gerade mit seiner Frau in Schweden mit dem Auto unterwegs war. Stephen Daldry erinnerte sich daran, zu dem Zeitpunkt gerade den Film "The Hours" in London fertigzustellen, und Thomas Horn meinte, er wäre da drei Jahre alt und wahrscheinlich in New York bei seiner Familie gewesen. Er hatte von den Ereignissen erst allmählich erfahren und langsam begriffen, was für einen emotionalen Schock die Betroffenen erlitten haben mussten.

Zum Abschluss baten die Fotografen Thomas Horn, auf einen Tisch zu steigen. "Ich denke nicht, dass er dafür gemacht ist", erwiderte er darauf und konnte sich gerade so überwinden, den Stuhl zu nehmen, bevor er schüchtern die Arme um die beiden Herren legte.

Incredibly Loud

Panorama "Elles" ("Ein besseres Leben")
Männer und Frauen

Alles fängt mit einer scheinbar harmlosen Recherche an. Eine Journalistin, gespielt von Juliette Binoche, will über junge Frauen einen Artikel schreiben, die sich ihr Studium mit Prostitution finanzieren. Heimservice sozusagen. Die Filmheldin selbst lebt gut bürgerlich, richtet Geschäftsessen an, übernimmt den pupertären Sohn und den Kleinen, der dem Computerspiel verfallen ist, weil keiner recht für ihn Zeit hat. Die Journalistin trifft sich mit zwei Frauen, und die erzählen freizügig, wie bei ihnen das Geschäft abläuft. Keine Spur von Leiden. Beide Frauen sehen sich nicht als Opfer, sie können sich die Männer aussuchen, die auf ihre Anzeige antworten. Diese Männer sind fast immer verheiratete Männer, die von ihrer Frau gelangweilt sind oder die gewünschten Sexpraktiken nicht erfüllt bekommen. Man fühlt dieses unangenehme Sich-selbst-Ertappen der Journalistin. Die sich ab diesem Moment hinterfragt und ausflippt, als sie Pornos auf den Laptops ihre Mannes und ältesten Sohnes entdeckt. Irgendwas kann doch nicht stimmen in dieser Gesellschaft und in der Familie. Was das Schlimmste oder überhaupt schlimm an dem Job sei, will die Journalistin am Schluss noch wissen. Und sie bekommt zur Antwort: "Die ganze Zeit lügen zu müssen." Diese Antwort rüttelt die Protagonistin endgültig auf.

Juliette Binoche spielt die Frau phantastisch mit viel Feingefühl und auch einem Hauch Selbstironie. Im Gespräch fasst sie zusammen, dass sich Männer und Frauen nach Liebe und Sex sehnen, aber jeweils andere Vorstellungen haben. Da helfe nur Kommunikation.

Die polnische Regisseurin Malgoska Szumowska suchte für die Rolle eine Frau mit Personalität und Sensibilität. In Juliette Binoche fand sie diese Frau sofort. Beim ersten Treffen in Paris hatte Binoche für beide gekocht, und anschließend war klar, dass sie zusammenarbeiten würden. Feminismus ist nicht einfach, das sollte dieser Film zeigen. Er hatte für die Regisseurin mit einem Artikel über die Studentinnen in Paris begonnen und fand als Filmpremiere bei den Filmfestspielen einen krönenden Abschluss.

Elles (Juliette Binoche)
 

Erster Tag
9. Februar 2012
Von Astrid Mathis

Die graue Eminenz
Die Jury stellt sich vor

Die Schauspielerin Charlotte Gainsbourg ist die einzige, die ein bisschen Farbe in die Jury bringt, als das Ensemble am ersten Tag der Berlinale vor die Presse tritt. Harmonie schon in der Farbgebung. Grau dominiert, vor allem beim Präsidenten Mike Leigh. Kaum vorzustellen, dass die Runde aus Schauspielern, Regisseuren, einem Fotografen und einem Autoren in den nächsten Tagen in heftige Diskussionen verfallen wird. "Wir haben einen offenen Geist", verkündet Regisseur Mike Leigh, der Jury-Präsident ist und mit seinem scharfen Verstand und angenehmen Witz nicht hinter den Berg hält. Das Berliner Filmfestival mochte er schon immer. Und auch der Winter hier hat was Spezielles. Jake Gyllenhaal hält sich bedeckt, nicht nur mit der Hand vorm Gesicht, sondern auch mit seinen Äußerungen. Er kann Mike Leigh immer nur zustimmen. Als eine Journalistin fragt, wann sie essen und über die Filme reden und ob sie in Bars gehen und ins Museum, ergreift wieder Mike Leigh das Wort, sagt: "Natürlich reden wir über die Filme, und wir gehen auch viel essen, und wenn wir Zeit haben, tun wir all die anderen Dinge." Einzig die deutsche Schauspielerin Barbara Sukowa erweist sich während der halben Fragestunde ebenfalls als plauderfreudig. Auf die Frage, wie ihre Reaktion auf die Einladung als Jurymitglied war, antwortete sie: "Wenn man als Schauspielerin älter wird, bekommt man eine Menge Jury-Anfragen. Wenn es dafür Geld gäbe, könnte ich davon leben." Jake Gyllenhaal erzählt lediglich, dass er einfach aufgeregt sein musste, weil Festivaldirektor Dieter Kosslick so aufgeregt sei, dass einem keine andere Wahl bliebe.

Mike Leigh erklärt schließlich, es gäbe Weltkino, und es gäbe Hollywood. Dass die Dominanz von Hollywood vom Weltkino aufgehoben wird, stimme ihn optimistisch..So viel mal zur Entwicklung des Kinos. Er gibt noch seine Deutschkenntnisse zum besten, indem er bemerkt: "Alles ist schneebedeckt." Schon ist der Auftakt vorbei.

Francois Ozon, Barbara Sukowa und Mike Leigh (von links)

Charlotte Gainsbourg, Jake Gyllenhaal und Asghar Farhadi (von links)
 

© POTZDAM 2012