Schlössernacht,
Freitag, kurz vor Neun: Vor der großen Bühne am Neuen
Palais sammeln sich die Massen für den Auftritt der drei
jungen Tenöre. Auf den Terrassen zählt die Tanzschule
ADTV Walzerschritte. Gerade geht milchig rot die Sonne unter.
Stimmung also, wie sie schöner nicht sein kann!
Doch berichten wir nicht von dem, was alle
erlebt haben:
Fernab jeder Zivilisation, in einem zwielichtigen
Örtchen namens Golm, sitzen um diese Zeit nämlich
sechs finstere Gestalten in der kleinen Wartehalle am Bahnhof.
Die Schlössernacht ist für sie kein Thema; sie waren
noch nie da, wollen da auch nicht hin, und wenn sie da jemals
wären, dann nur als Störenfriede für Aug und
Ohr.
Diesem Trüppchen nähert sich nun
eine junge Studentin - Häkel-Rucksack auf dem Rücken,
Brille auf der Nase, züchtig geflochtene Haare, bestimmt
ein Tenor-Groupie - und stellt sich vor den Busplan. Sie schaut
auf den Plan, auf die Uhr, auf den Plan, auf den Pulk und fragt
ängstlich: "Ist der 21-Uhr-Bus schon hier gewesen?"
Das schmutzige Häufchen johlt.
Es ist die einzige Antwort, die sie der
kleinen süßen Dirn geben. Und sie wendet sich angewidert
ab.
Ein Mann stößt zu den Spießgesellen,
sichtlich erregt. "Wisst ihr, warum der Zug ausgefallen
ist?" röchelt der Mittfünfziger. "Man hat
jemanden überfahren zwischen Wustermark und Golm."
Die Gruppe grunzt überrascht.
Eine Glatze mit Bomberjacke und Schnürstiefeln
rotzt verächtlich aus. "Janaund? Könnense danich'
nochma' rüberfahrn? Der is'doch eh tot!"
Eine Frau in den Wechseljahren, scheinbar
seine Mutter, weißt ihn schüchtern zurecht: "Mensch,
die müssen doch erst die Leichenteile von den Schienen
räumen." Und sie rümpft die Nase. "Man kann
das da doch nicht einfach liegen lassen."
Der Mittfünfziger berichtet weiter,
während er sich mit einem benutzten Herrentaschentuch die
schwitzige Nase unter der Hornbrille wischt: "Der liegt
fuffzehn Meter weit auf den Schienen verstreut! Fuffzehn Meter!"
"Krass, Alter!" schnuddelt die
Glatze dazwischen.
"Ja, fuffzehn Meter weit! Darum sind
bis auf weiteres die Züge ausgesetzt und es gibt Schienenersatzverkehr."
Der greise Späher schnäuzt ins Tuch und stopft es
weg. "Aber hier kam noch kein Ersatzverkehr, wa?"
Wieder lacht und johlt die Gruppe, dass
einige ihrer lumpengefüllten Kaufland-Tüten umstürzen.
"Nee, hier kam seit einer Stunde nüscht. Kein Zug,
kein Bus, kein Ersatzverkehr. Die Kleenen müssen det ja
immer ausbaden!"
"Ick vasteh nich," seiert die
Rotzglatze, "wiesodieda so'n Jewese drummachen! Det jibt
sovilleMenschen uff daErde, und um mir würdesich doch ooch
keenaJedanken machen!"
Da plötzlich biegt ein Taxi auf den
Bahnhofsvorplatz. Der Haufen gafft. Und wer sitzt, baumelt mit
den kurzen Beinen. Aussteigt der Fahrer, hilfsbereit und freundlich,
und nicht schon genug damit bestraft, zur Schlössernacht
Dienst tun zu müssen, hat er nun für diese Mischpoke
auch noch Ersatzverkehr zu spielen! "Sie wollen alle nach
Potsdam rein?" lächelt er. Und der Pöbel glotzt
nur. "Oder etwa nicht?"
"Na kucken Sie sich mal um, junger
Mann. Kriegen Sie uns etwa alle weg?" Die Frau in den Wechseljahren
deutet auf ein Dutzend Zellophanbeutel und ein schmandiges Herrenrad
mit langen Einweckgummis am Gepäckträger.
Der Taxifahrer wundert sich. "Das nicht,
aber ich kann ja schon mal die anderen mitnehmen, und dann nach
einem Großraumtaxi funken."
Doch seine Hilfsbereitschaft wird nur mit
verächtlichem Hohngelächter gewürdigt.
Die Glatze rotzt wieder sein Innerstes auf
die Straße. Die wechseljährige Frau schaut beleidigt
zur Seite. "Das ist schon unerhört, wissen Sie, einen
hier so sitzen zu lassen
"
Indes räumt der Fahrer ruhig die Taschen
der Fahrwilligen ins Taxi. "Tja, es wird gleich noch ein
zweites Taxi kommen. Wir wurden ja auch nur hier hin beordert."
"
und das, obwohl man schon eigentlich
vor einer Stunde hätte zu Hause sein können
"
Dem Fahrer wird unbehaglich. "Ich sagte
Ihnen doch, wir können nichts dafür. Wir haben das
nur gesagt bekommen. Wir haben's doch nicht verursacht. Da müssen
Sie sich an die Bahn wenden."
"
aber nein, weil für so
einen Lebensmüden natürlich wieder alle Hebel in Bewegung
gesetzt werden, und die armen Leidtragenden, die dafür
nichts können, es ausbaden müssen
"
"Beruhigen Sie sich, wir werden eine
Lösung finden für Ihr Fahrrad!" Doch der Taxifahrer
kann noch nicht losfahren, weil noch niemand aus der Truppe
zum Einsteigen bereit ist.
"Det falln hier sowiesoständig
Züje aus, und et kümmertsich keena drum! Findense
det inOrdnung?" Die Stimmung der wartenden Meute wird angriffslustiger.
"Die solln een Bus schicken, vadammtnochma'!"
Nun wird auch der Taxifahrer laut.
Zur selben Zeit biegt ein Bus auf den Platz.
Die Linie 605. Pünktlich wie selten. Alle Haltestellen
des ausgefallenen Zuges fährt auch sie ab. Der Pulk aber
ist zu sehr mit dem Taxifahrer beschäftigt, und der Taxifahrer
zu sehr mit der Angst um seine Gesundheit, als dass irgend jemand
diesen Bus bemerken könnte - der beinahe alle über
den Haufen karrt.
Die schüchterne Dirn steigt ein. Niemand
sonst. Die Türen schließen sich. Keiner kuckt. Von
drinnen hört man, wie sich verstandesbegabte Menschen anschreien.
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