Warten auf Niveau

Eine Leiche macht noch keinen Ersatzverkehr
Von Mathias Deinert

Schlössernacht, Freitag, kurz vor Neun: Vor der großen Bühne am Neuen Palais sammeln sich die Massen für den Auftritt der drei jungen Tenöre. Auf den Terrassen zählt die Tanzschule ADTV Walzerschritte. Gerade geht milchig rot die Sonne unter. Stimmung also, wie sie schöner nicht sein kann!

Doch berichten wir nicht von dem, was alle erlebt haben:

Fernab jeder Zivilisation, in einem zwielichtigen Örtchen namens Golm, sitzen um diese Zeit nämlich sechs finstere Gestalten in der kleinen Wartehalle am Bahnhof. Die Schlössernacht ist für sie kein Thema; sie waren noch nie da, wollen da auch nicht hin, und wenn sie da jemals wären, dann nur als Störenfriede für Aug und Ohr.

Diesem Trüppchen nähert sich nun eine junge Studentin - Häkel-Rucksack auf dem Rücken, Brille auf der Nase, züchtig geflochtene Haare, bestimmt ein Tenor-Groupie - und stellt sich vor den Busplan. Sie schaut auf den Plan, auf die Uhr, auf den Plan, auf den Pulk und fragt ängstlich: "Ist der 21-Uhr-Bus schon hier gewesen?"

Das schmutzige Häufchen johlt.

Es ist die einzige Antwort, die sie der kleinen süßen Dirn geben. Und sie wendet sich angewidert ab.

Ein Mann stößt zu den Spießgesellen, sichtlich erregt. "Wisst ihr, warum der Zug ausgefallen ist?" röchelt der Mittfünfziger. "Man hat jemanden überfahren zwischen Wustermark und Golm."

Die Gruppe grunzt überrascht.

Eine Glatze mit Bomberjacke und Schnürstiefeln rotzt verächtlich aus. "Janaund? Könnense danich' nochma' rüberfahrn? Der is'doch eh tot!"

Eine Frau in den Wechseljahren, scheinbar seine Mutter, weißt ihn schüchtern zurecht: "Mensch, die müssen doch erst die Leichenteile von den Schienen räumen." Und sie rümpft die Nase. "Man kann das da doch nicht einfach liegen lassen."

Der Mittfünfziger berichtet weiter, während er sich mit einem benutzten Herrentaschentuch die schwitzige Nase unter der Hornbrille wischt: "Der liegt fuffzehn Meter weit auf den Schienen verstreut! Fuffzehn Meter!"

"Krass, Alter!" schnuddelt die Glatze dazwischen.

"Ja, fuffzehn Meter weit! Darum sind bis auf weiteres die Züge ausgesetzt und es gibt Schienenersatzverkehr." Der greise Späher schnäuzt ins Tuch und stopft es weg. "Aber hier kam noch kein Ersatzverkehr, wa?"

Wieder lacht und johlt die Gruppe, dass einige ihrer lumpengefüllten Kaufland-Tüten umstürzen. "Nee, hier kam seit einer Stunde nüscht. Kein Zug, kein Bus, kein Ersatzverkehr. Die Kleenen müssen det ja immer ausbaden!"

"Ick vasteh nich," seiert die Rotzglatze, "wiesodieda so'n Jewese drummachen! Det jibt sovilleMenschen uff daErde, und um mir würdesich doch ooch keenaJedanken machen!"

Da plötzlich biegt ein Taxi auf den Bahnhofsvorplatz. Der Haufen gafft. Und wer sitzt, baumelt mit den kurzen Beinen. Aussteigt der Fahrer, hilfsbereit und freundlich, und nicht schon genug damit bestraft, zur Schlössernacht Dienst tun zu müssen, hat er nun für diese Mischpoke auch noch Ersatzverkehr zu spielen! "Sie wollen alle nach Potsdam rein?" lächelt er. Und der Pöbel glotzt nur. "Oder etwa nicht?"

"Na kucken Sie sich mal um, junger Mann. Kriegen Sie uns etwa alle weg?" Die Frau in den Wechseljahren deutet auf ein Dutzend Zellophanbeutel und ein schmandiges Herrenrad mit langen Einweckgummis am Gepäckträger.

Der Taxifahrer wundert sich. "Das nicht, aber ich kann ja schon mal die anderen mitnehmen, und dann nach einem Großraumtaxi funken."

Doch seine Hilfsbereitschaft wird nur mit verächtlichem Hohngelächter gewürdigt.

Die Glatze rotzt wieder sein Innerstes auf die Straße. Die wechseljährige Frau schaut beleidigt zur Seite. "Das ist schon unerhört, wissen Sie, einen hier so sitzen zu lassen…"

Indes räumt der Fahrer ruhig die Taschen der Fahrwilligen ins Taxi. "Tja, es wird gleich noch ein zweites Taxi kommen. Wir wurden ja auch nur hier hin beordert."

"… und das, obwohl man schon eigentlich vor einer Stunde hätte zu Hause sein können…"

Dem Fahrer wird unbehaglich. "Ich sagte Ihnen doch, wir können nichts dafür. Wir haben das nur gesagt bekommen. Wir haben's doch nicht verursacht. Da müssen Sie sich an die Bahn wenden."

"…aber nein, weil für so einen Lebensmüden natürlich wieder alle Hebel in Bewegung gesetzt werden, und die armen Leidtragenden, die dafür nichts können, es ausbaden müssen…"

"Beruhigen Sie sich, wir werden eine Lösung finden für Ihr Fahrrad!" Doch der Taxifahrer kann noch nicht losfahren, weil noch niemand aus der Truppe zum Einsteigen bereit ist.

"Det falln hier sowiesoständig Züje aus, und et kümmertsich keena drum! Findense det inOrdnung?" Die Stimmung der wartenden Meute wird angriffslustiger. "Die solln een Bus schicken, vadammtnochma'!"

Nun wird auch der Taxifahrer laut.

Zur selben Zeit biegt ein Bus auf den Platz. Die Linie 605. Pünktlich wie selten. Alle Haltestellen des ausgefallenen Zuges fährt auch sie ab. Der Pulk aber ist zu sehr mit dem Taxifahrer beschäftigt, und der Taxifahrer zu sehr mit der Angst um seine Gesundheit, als dass irgend jemand diesen Bus bemerken könnte - der beinahe alle über den Haufen karrt.

Die schüchterne Dirn steigt ein. Niemand sonst. Die Türen schließen sich. Keiner kuckt. Von drinnen hört man, wie sich verstandesbegabte Menschen anschreien.

© POTZDAM 2001 - Mathias Deinert