»Warum hat die Konradi …«

Von Stolz, Redseligkeit und wilden Gefühlen einer Führerin
Von Mathias Deinert

Schlossführungen sind selten schön: Entweder schnoddern uns halbversierte Studenten kurz einen Geschichtsabriss ins finstre Gesicht, dass einem jegliches Nachfragen vergeht; oder sie sprechen gut, aber ohne Eindringlichkeit und Würze. Nicht so in einigen abgelegenen Orten unseres Landes, in denen man stolz auf seine illustren Vorväter und dankbar dafür ist, was uns von ihnen hinterlassen wurde. Eines dieser vergessenen Kleinode ist der Park und das Schloss Branitz zu Cottbus, beide im englischen Stil von Fürst Pückler und Architekt Schinkel ausgebaut - womit für den geneigten Leser bereits eine Verbindung zu Babelsberg und Glienicke hergestellt ist.

Ein Kleinod ganz anderer Art birgt Schloss Branitz jedoch in Gestalt seiner Touristenführerin Frau Konradi. Sie ist ein echtes märkisches Urgestein: klein von Wuchs, gut im Fleische und (was sie so würdig macht) belesen und geschichtlich sattelfest. Wenn sie so redet von "ihrem" Fürsten Pückler ("hochgewachsen, blauäugig, schwarzhaarig und leidenschaftlich"), merkt man, dass sie seine Tagebücher nicht nur durchblättert hat - sie hat mit ihnen gebuhlt! Nächtelang! "MeinDamundHerrn, dieser Mann war nicht allein ein adeliger Landschaftsgärtner, ein Diplomat und begnadeter Schriftsteller, der getrost neben Goethe und Schiller bestehen kann, ER WAR EIN GENIE!" Bei diesem Satze schließt sie die Augen, und jeder weiß, welche Stellung sie in seinem Leben eingenommen hätte: Zu jeder sexuellen Dummheit mit ihm wäre sie bereit gewesen! Und allein SIE, die Führerin, zu erleben ist einen sonntäglichen Ausflug nach Branitz wert!

Denn nachdem wir verspätet zur Touristengruppe gestoßen waren, trieb sofort eine kleine, üppige, laute Weibsperson im hässlichen Baumwoll-Blazer (der ihr fast bis zu den Knien reichte) uns buntes Häuflein auseinander: DAS war Frau Konradi. Sie wies uns alle an, im grünen Musiksalon Platz zu nehmen. Zack, zack! Hinter uns schloss sie die großen Flügeltüren, räusperte sich, begrüßte uns, stellte sich vor und holte daraufhin tief Luft: "Ich werde Ihnen nun von der wechselvollen Geschichte unseres Schlosses und unseres Fürsten Pückler erzählen. Einiges davon werden Sie vielleicht schon wissen, und wenn Sie an manchen Stellen besonders interessiert sind, können Sie auch nachfragen. Ich lasse mich davon nicht aus der Ruhe bringen!"

Und genau so gestaltete sich Frau Konradis halbstündiger Monolog, zumindest anfangs: punkt- und kommagetreu gab sie ihn zum besten, nicht das kleinste Bindewort war aus dem Augenblick geboren. Geistvolle Spracheffekte, ihre Mimik, scheinbar zufälliges Umhergehen, Fusselabstreifen und Nägelsäubern - alles war treffend gesetzt und wohl dosiert. Dieser ausgefeilte Vortrag hatte ihre Vormachtstellung unter allen Führern des Schlosses Branitz vor etwa zwanzig Jahren markiert, und er - eigentlich eine Darbietung für sich - hat längst ihre überlegene Kompetenz bis zum Ende ihres Wirkens festzementiert. Davon bin ich überzeugt.

"Nun war Hermann Fürst von Pückler-Muskau nicht allein in Geldnot, sondern musste sich nach damaliger Sitte im mannhaften Alter auch verheiraten. Nachdem ihm alle englischen Fräulein zu spröde waren, sah er in der neun Jahre älteren Lucie von Pappenheim aus dem Berliner Hochadel eine gewinnbringende Chance; doch da sie seinem Heiratsantrag nicht sofort zustimmte, hielt er gleichzeitig um die Hand ihrer beiden Töchter an und machte daraus auch keinen Hehl. Ich kann mir vorstellen, wie sich Lucie gefühlt haben muss - und sicher können Sie es auch, meinDamundHerrn - und keiner von uns hätte die abschlägige Antwort an den Liederjan noch einmal überdacht."

(…inzwischen flimmerte es mir vor Augen: das Blassgrün der Sitzpolster, das Saftgrün des Dederon-Klavierbezugs und das Abdeckfarbengrün der Wände gingen mit Frau Konradis Blazer eine ganz ungute Kombination ein…)

"Doch hören Sie, was dann geschah: Er zähmte sich vier weiße Rentiere, spannte sie vor eine weiße, herrschaftliche Kutsche und fuhr mit diesem Gespann bis vor die Tür des Berliner Cafés Kranzler. Dort wartete er, bis Lucie und ihre Töchter sich vom täglichen Kaffeehausbesuch auf den Heimweg machten, hielt nochmals förmlich um ihre Hand an, lud sie in die weiße Kutsche - und ich bitte Sie, meinDamundHerrn, wer von uns hätte ihm da noch widerstehen können!?"

Frau Konradis Widerstand jedenfalls war gebrochen.

Und nun schilderte sie uns glühenden Eifers die herausragendsten geschlechtlichen Verirrungen des saftstrotzenden Fürsten, dass es wenigstens mich angesichts solcher Schamlosigkeit erröten ließ.

Dann durchschritten wir die Räumlichkeiten. Als wir ins pfirsichfarbene Zimmer traten, schloss Frau Konradi lächelnd alle Türen. "Die Farbgebung dieses Raumes, meinDamundHerrn, war zum Zeitpunkt der Wiederherstellung des Interieurs völlig unbekannt. Sämtliche Aufzeichnungen widersprachen einander oder waren uneindeutig." Und nachdem sie die ratlosen Blicke der Gruppe abgewartet hatte, setzte Frau Konradi mit einem süffisanten Lächeln fort: "ICH war es, die unsere Restauratoren auf die Einzelheit hinwies, dass sich die Farben aller hier befindlichen Räume in den Kacheln DIESES Ofens wiederfinden, meinDamundHerrn!" und mit großer Geste wies sie auf den unscheinbaren Raumbeheizer in der Ecke. "Das Muster dieser Ofenkacheln mag Ihnen bloß wie eine wirre orientalische Verzierung vorkommen; aber tatsächlich kann aus ihr die fehlende Farbe ermittelt werden: Sehen Sie hier das Blau des blauen Salons, das Rot des roten Salons, das Grün… und schließlich ein Rosé, das nur einem Zimmer zuzuordnen ist," - unsere Nerven knisterten - "diesem hier!" Wer nicht anerkennend aufatmete, verbeugte sich innerlich vor dem Genius der Konradi. Sie aber lächelte nur und bat uns weiter.

Irgendwann machten wir im Schlafzimmer des Schlosses Halt. Interessant war, wie sie die Ausmaße und die Bequemlichkeit aller Möbel mit ihrer Körpergröße und der des Herrn Pückler ins Verhältnis setzte. Und als sie abermals eine Anekdote über die leibgesunden Regungen des schließlich 80-jährigen Fürsten zum besten geben musste - ich sah sie bereits den obersten Knopf ihrer Bluse lösen!

Nun kann ich allen Lesern nur den einen Rat geben: Nutzen Sie einen Sonntagsausflug und fahren Sie 'raus nach Branitz! Stellen Sie sicher, dass Sie die Konradi gewissenhaft durch das Schloss und seine Vergangenheit führt, und Sie werden feststellen, dass Sie sich bei jedem Bildnis des Fürsten erneut fragen, ob Sie auch mit ihm oder der Konradi geschlafen hätten. Ei, ich hätte mich beherrschen können…

... doch immerhin lyrisch musste ich lustgipfeln.

© POTZDAM 2001 - Mathias Deinert