Sommerherbergsmärchen
Freitag
Von M. Gänsel

Schüchtern stehen Hänsel und Gretel vorm Haus der Hexe. Sie fassen sich bei den Händen. Noch ehe Hänsels Finger den Klingelknopf erreicht, öffnet sich die Tür wie von Geisterhand. Die Kinder schauen mit großen Augen hinein. Plötzlich zuckt ein Rockzipfel um die Ecke, bald der ganze Rock, dann die ganze böse Hexe! Sie ist mindestens dreihundert Jahre alt, klein und verhutzelt, sie hat eine Brille auf der großen Nase, ihre Augen blitzen hier und da. Hänsel und Gretel fassen sich noch fester bei den Händen und sagen "Guten Tag!".

"Schuhe aus!" Die Stimme der Hexe klingt alt und knarzig. "Schuhe aus, los Schuhe aus, na los: Schuhe aus!" Die Kinder zucken zusammen, sehen sich an. Die Hände in die üppigen Hüften gestemmt, tippt die Hexe mit einem Fuß und wartet. Hänsel zieht sich die Schuhe aus. Gretel tut es ihm nach und weint leise. Was ist mit dem Zuckerwerk? Sollen sie gleich in den Ofen?

Hüftschwenkend geht die Hexe voraus, die Kinder hinterher. Das Haus ist dunkel, sie können fast nichts sehen. Hier zeichnet sich ein großer Sessel ab, da hängt irgend etwas an der Wand. Katzen streichen um die Beine. Gretel quiekt leise. Am Ende eines langen Flurs wird die Tür aufgestoßen. Da sollen sie rein. Die Hexe steht im Türrahmen und hält die Hand auf. "Geld," blafft sie. Hänsel holt tief Luft und schaut an ihr vorbei. "Das machen wir morgen," sagt er und rettet so ihrer beider Leben. Die Hexe stößt leise Flüche aus, die allsamt in ihrer Schürze verschwinden. Dort schlagen sie Beulen und Falten, dass es eine Art hat.

Die Hexe ist fort, und die Kinder schauen sich an. Gretels Augen sind noch immer tränennass, und Hänsel muss sie einmal ganz fest in den Arm nehmen. Sie sehen sich in ihrem Verließ um. Zwei Betten, ein Tisch, zwei Stühle. Die Fenster verhangen, dunkel ist es. "Riechst du das," fragt Gretel. Hänsel reißt die Vorhänge zurück und öffnet die Fenster. Sie gehen hinaus, ohne der Hexe zu begegnen. Ihre Schuhe stehen neben dem Eingang!

"Wieso hat sie die Schuhe nicht verbrannt," fragt Gretel. Hänsel zuckt die Schultern. "Lass uns zu Schneeweißchen und Rosenrot gehen," schlägt er vor. Gretel nickt.

Hell strahlt die Sonne, froh summen Bienen, weit liegt das Meer so blau. Die beiden Schwestern haben eine Kutsche gebaut und lassen Hänsel und Gretel auf dem Bock sitzen! Die Kinder lachen, und Schneeweißchen flüstert zu Rosenrot: "Siehst du, ich hab's ja gleich gesagt." Rosenrot lächelt, und wie immer kommen sofort zwei kleine Vögel und setzen sich auf ihre Schultern. "Wir werden einen schönen Tag haben," ruft Gretel. Rasch schwebt die Kutsche durch einen Märchenwald, die Haare fliegen, die Augen strahlen. Am Meer werfen sie alles von sich und stürzen in die Fluten, obwohl Neptun laut lacht, was ein sicheres Zeichen für eine Wassertemperatur unter 18 Grad ist. Kleine Sonnenstrahlkinder tummeln sich in Gretels Haar und machen es hell und heller. Am Abend ist die Hexe fast vergessen.

Doch nun müssen sie zurück in ihr Verließ. Hänsel sieht Gretel an, und Gretel schaut in die Sterne. Sie nickt, und Rosenrot hat Tränen in den Augen, als sie sich verabschieden. "Sagt, dass ihr morgen erst bezahlt," fleht sie die Kinder an. Schneeweißchen zieht sie am Arm und sagt leise: "Komm ins Schloss, Schwesterlein."

Dunkel drückt die Nacht, mit zitternder Hand öffnet Hänsel die Tür. Sie schwingt auf, schwarz liegt das Innere des Hexenhauses. Ein Keckern zieht durch die Räume. Ein Geruch schlägt ihnen entgegen, sauer und scharf, dumpf und böse. "Komm," sagt Hänsel, greift Gretels Hand und rennt los. Sicher erreichen die Kinder ihr Verließ. Plötzlich schreit Gretel auf. "Die Schuhe!" Sie haben die Schuhe angelassen!! Wenn die Hexe nun...! Hänsel zerrt die Schuhe von Gretels Füßen, nimmt seine und stellt sie an die Tür. Beide atmen auf und fallen sich in die Arme. "Ich hab solche Angst," weint Gretel. "Wir verrammeln die Tür," sagt Hänsel düster.

Sie klettern aus dem Fenster und holen Äste, die sie vor die Tür stapeln. Niemand kommt mehr herein. Hänsel stapelt Ast um Ast, bis hinauf zur Decke. Gretel zieht ihn am Ärmel. "Du..." Hänsel sieht sie an. "Och nööööööö," stöhnt er. "Sag, dass das nicht wahr ist!" Gretels Augen blicken zu Boden. "Kruzitürken," flucht Hänsel und löst die Barrikade. Auch Märchenkinder müssen mal.

Die Nacht ist hell vom Mond, und beide schlafen unruhig. Hänsel wirft sich hin und her und murmelt immer wieder "Och nööööööö!" Gretel schmiegt sich an seine Brust und hält ein.

Der Morgen ist freundlich, die Sonne singt froh durchs Fenster. Die Kinder stehen früh auf, waschen sich und ziehen sich an. Die Äste werfen sie aus dem Fenster, das Bett macht Gretel ordentlich. Sie öffnen vorsichtig die Tür und schauen in den langen Gang, der zur Haustür führt. Niemand. Niemand? Ein leises Singen erfüllt das Haus. "Sie ist in der Küche," raunt Hänsel atemlos. "Wir müssen durch die Küche," zittert Gretel. "Also los," sagt Hänsel so laut, dass er selbst erschrickt. Die Hexe steht am Herd und rührt in einem großen Topf. Der Geruch ist betäubend, Gretels Augen beginnen sofort zu tränen. Hänsel späht in den Topf und erstarrt. "Guten Morgen," sagen sie beide. "Moin," möfft die Hexe, und "Geld," schickt sie noch hinterher. "Morgen," sagt Hänsel. "Sag ich doch: moin," ramentert die Hexe. "Nein, das Geld: morgen," flüstert Hänsel. "Da kann ja jeder kommen ist doch immer dasselbe neulich Rumpelstilzchen hat auch gesagt..." Die Kinder rennen an ihr vorbei aus dem Haus. Geschafft!

Sie laufen zu Schneeweißchen und Rosenrot, die bereits an der Kutsche stehen und die Pferde streicheln. "Was war in dem Topf," fragt Gretel. Hänsel haut mit einem Stecken in die Sträucher. "Das willst du gar nicht wissen," sagt er nervös. "Blöder Macho," sagt Gretel.

Rosenrot sieht ihnen an, wie erschüttert sie sind. Sie beginnt ein Lied zu singen, das hundert Strophen hat. Schon nach zehn Strophen greift Hänsel nach Gretels Hand. Gretel legt ihren Kopf an seine Brust, und es wird ein noch schönerer Tag. Das Meer liegt so still, dass sie Neptun atmen hören können. Immer wenn Schneeweißchen lächelt, kommen Möwen und bringen Früchte und Kaffee. Hänsel liest ein Buch über Elfen und erzählt den anderen ein ums andere mal staunend, was er erfährt: "Mensch, wusstet ihr das: Elfen können absolut keinen Spaß verstehen!" Mitten im Singen zieht Rosenrot mit dem rechten Zeigefinger ihr rechtes Auge nach unten, und alle lachen so laut, dass Neptun wach wird.

Nachdem die hundertste Strophe gesungen ist, stehen sie wieder vor ihrem Haus. "Einmal noch," sagt Hänsel. Fast routiniert erledigen sie Schuhe, Barrikade und Toilette. Gretel zittert ein bisschen, als sie im Bett liegt. Doch der Tag war so schön, dass sie gleich einschläft. Hänsel liegt noch lange wach und zählt die Elfen, die am Fenster vorbeikichern. Es sind sechsunddreißig.

Am nächsten Morgen sieht Gretel gleich nach dem Aufstehen einen Riesenberg Kieselsteine auf dem Tisch liegen. "Wo hast du die denn her?" Hänsel wird rot und schaut verlegen. "Na ja gespart," murmelt er. "Für uns," fragt Gretel mit glänzenden Augen. Hänsel nickt. Gretel küsst. "Meinst du, dass es reicht," zweifelt Gretel, "so viele Kieselsteine, aber reichen die denn?" Hänsel zuckt die Schultern und lächelt grausam. "Was sollen wir denn tun, sonst?"

Sie klettern aus dem Fenster und schleichen um das Haus herum. Unterm Küchenfenster macht Hänsel kurz halt und linst hinein. Gretel will es ihm gleichtun, da drückt er sie nach unten. Sie drischt ihm in den Bauch und lugt durch's Küchenfenster. Der Anblick ist grauenvoll. Ein großer Topf steht auf dem Feuer, das hoch lodert. Auf dem Tisch liegen drei Messer, riesig groß. Zwei kleine Schüsseln mit Gewürzen sondern Rauch ab. Über dem Herd hängt ein Blatt Papier, gelblich und zerknittert. Gretel kann "---telrez--t für 3 Per-on-n" lesen. Sie sinkt nach hinten, Hänsel fängt sie auf. "Siehste!" Schnell verlassen sie das Gelände.

Sie sind kaum hinterm Zaun, da hören sie einen markerschütternden Schrei. Gretel fällt wieder in Ohnmacht. Hänsel zieht sie weiter, nur weiter. Da bleibt Gretel stehen. "Unsere Sachen!!" Mit großen Augen sieht sie Hänsel an. "Unsere Sachen, du Idiot, die sind noch im Zimmer, unsere Sachen!!!" Hänsels Lippen werden schmal. "Scheiße," knarzt er. "Wir müssen zurück. Aber ich gehe allein. Du wartest hier." Gretel baumelt an seinem Hals. "Nein, nein, du gehst nicht allein, ich bleibe nicht hier, du kommst nicht wieder und ich... nein!" Hänsel grinst und nickt gnädig. Sie kämmen sich die Haare und klopfen den Dreck von den Kleidern. Sie klingeln bei der Hexe. Ihre Köpfe sind erhoben, der Rücken gerade. Die Hexe öffnet. In ihren Augen blitzt es. Sie steht nur da und blitzt mit den Augen. Aus ihren Taschen fallen Kieselsteine, so voll sind sie. Hänsel schiebt sie zur Seite, geht ins Verließ, schnappt die Sachen und rennt zurück zur Haustür. Szene unverändert, Kieselsteinhexe und Gretel, verblüfft. "Ich glaube, sie kann nicht mehr böse sein," sagt Gretel, "wegen der Kieselsteine." Hänsel grinst. "Meinste?" Er greift nach der Schürzentasche, die ihm am nächsten ist. Blitzschnell packt die Hexe seinen Arm. Hänsel schreit auf und lässt die Kieselsteine fallen. Wieder das Keckern. Gretel packt Hänsel und zieht ihn fort. Die Hexe steht wie erstarrt.

Schneeweißchen packt ihnen Äpfel für die Rückfahrt ein. Rosenrot singt ein letztes Mal und schenkt Gretel vier Haselnüsse. Als sie auf dem Schimmel sitzen und Hänsel die Zügel in die Hand nimmt, drückt sich Gretel ganz fest an ihn. Und genau, als das Tier sich in die Lüfte erhebt, sagt Gretel: "Ich weiß, das klingt jetzt blöd, aber du riechst echt komisch."

© POTZDAM 2001 - M. Gänsel