Hauptbibliothek Guben
... wo Bildung nichts kostet
Von Mathias Deinert

Es ist schon eigenartig, auf dem Parkplatz einer Stadtbücherei nicht länger als eine Stunde seinen Wagen abstellen zu dürfen; in Guben (Uferstraße 22-24) ist dies leider so. Aber warum auch nicht, beruhigt man sich als arbeitswilliger Lesegast nach dem kurzen reizvollen Gedanken, einen kleinen lautstarken Eklat in der nahe gelegenen Polizeistation vom Zaune zu brechen. Immerhin ist der Gubener Durchschnittsbürger mit anderen Dingen ausgelastet, als sich nun gerade seiner Lesebegier in einer Bibliothek hinzugeben.

[Stellt sich die Frage: Was tut man hier stattdessen? Nun, einige machen - wohl angesichts gähnender Langeweile - Jagd auf Ausländer. Manchmal auch auf Einheimische, die wie Auswärtige scheinen. Bestimmt machen es alle im Gesamtschulalter. Hinlänglich bekannt. Eigentlich ist unserer bigotten Nation nur dies bekannt. Und genau besehen ist es ja auch überaus begrüßenswert, dass mit diesem hiesig geradezu salonfähig gewordenen Volkssport jetzt endlich auch die ehemals traditionsreiche Tuch-, Woll- und Hutstadt Guben ein Erkennungszeichen hat, das man mit ihr und ihren Bürgern unlösbar in Verbindung bringt. Ja, fast lässt sich sagen: Was Hamburgern der Fischmarkt - ist Gubenern inzwischen die Fremdenhatz.]

Nun ist die Leihbücherei Guben auf den ersten Blick hinsichtlich ihres Buchbestandes und Personals längst nicht so herausragend wie andere ihrer Art. Ihr sind jedoch Dinge eigen, die sie zu einem bislang verkannten Juwel in der deutschen Bibliothekenlandschaft machen: So besitzt sie gesammelte Werkausgaben nahezu aller Dichter der Edelfäule, führt das vollständige Repertoire Waltraut Schulz' und Herbert Roths auf etwa sechs antiquarischen Musikkassetten und muss (weil die engen Räumlichkeiten einen starken Zuwachs des Bestandes nicht zulassen) oftmals sehr ungefragte Bücher aussortieren - worunter sich großartige Gedichtsammlungen, berühmte Lebensbilder oder selten abgedruckte Briefwechselsammlungen befinden, die nicht etwa verkauft, sondern verschenkt werden! Ein Brauch, den man mittlerweile in von westlichem Bourgeoisie-Kapitalismus arg verkrebsten Gegenden gar nicht mehr kennt.

Die angestellten Damen halten sich tagsüber während der langen Dienstzeiten mit Kaffee bei Laune; und geradezu warmherzig und kaffeeselig ist auch die Art, wie sie - bildlich gesprochen - die ratsuchenden Wissbegierigen mit Sachkenntnis und tränenrühriger Natürlichkeit an ihre große Brust drücken! In nur vier kleinen wurmfräßigen Holzkästchen wird alles aufbewahrt, was man zur Verwaltung eines kleineren Nutzerkreises benötigt: Karteikarten! Streng sortiert nach ›aktiv‹ und ›passiv‹. Auch ein leistungsstarker Rechner ziert den kleinen Thekenplatz; doch die Frauen stehen ihm samt und sonders mit gesunder Skepsis gegenüber, und sie sehen in ihm eher einen kleinen launischen Nichtsnutz denn einen geschätzten Helfer, reden von ihm auch wie von einem unliebsamen Überzähligen nur in abschätziger dritter Person ("Was macht er denn heute wieder ...!"), weshalb sie ihn nur in äußersten Notfällen, wie beispielsweise Bestandsfragen bemühen wollen.

Doch es braucht schon eine ausgebuffte Anfrage ganz unüblicher Natur, die kundigen Frauen überfragt und darum mit suchenden Fingern über die verhasste graue Tastatur kreisen zu sehen! Meist nämlich spielen sich Tests ihrer Treffsicherheit etwa wie folgt ab: Man fragt z.B. nach Büchern über Ausdruckstanz, einen Ausdruckstänzer oder irgendwelche Rezensionen gewisser Ausdruckstanzdarbietungen - und steht darauf erstmal einen Augenblick ratlos, in welchem man keine Antwort erhält, sondern gemustert wird. Nicht aber kalt gemustert! Nein, warmherzig schmunzelnd. Wie der fleischgewordene Archetypus einer weisen Frau, der Urmutter, die mit ihrem Wissen segenspendend und unheilbringend wirken kann. Alle Titel, die man in noch pubertärer Neugier vor Jahren ausgeliehen hatte, steigen in ihrem Innern auf (von Ovids "Liebeskunst" über Freunds "Homosexualität beim Manne" bis hin zu Weck-Erlens "Kodex für beide Geschlechter"), und eine neue Rubrik wird dem Wissen über das leutselige Gegenüber allen Datenschutzbestimmungen trotzend, wortlos, lächelnd einverleibt.

Mit dem nämlichen gütigen, kraftvollen Blick aber - immer noch gerichtet auf den Bittsteller - treten sie hervor von ihrem Sprelakat®-Tischlein und ziehen den Ratsuchenden hypnotisch mit sich durch Bücherreihen, empfehlen griffsicher ein Buch über Tanztherapie, Volkstanz und Mummenschanz und beteuern, dass man dennoch, obwohl die Bibliothek nun nicht speziell auf Ausdruckstanzliteratur ausgerichtet ist, in den vorgeschlagenen Büchern etwas finden wird. (Wahrlich ich sage euch, wär doch mein Zutrauen so groß als ein Senfkorn, so möcht ich sagen zu dem Weibe: Hebe dich weg von hinnen, lass mich selbst suchen und setze dich wieder hinter deinen Tisch!)

Stattdessen schaue ich mich gelassen durch die sortierten Buchbestände. Die Ordnung des verfügbaren Buchbestandes ist i.Ü. auch für den Laien nachvollziehbar: Ernst Busch wurde zwischen Ernst Barlach und Wilhelm Busch eingegliedert, die Bibel zwischen Schwarzmagie-Taschenbüchern und "Von Ufos entführt!".

Pausenlos kommen Menschen herein und reden ungebeten für jeden hörbar zu den dort angestellten Damen von ihren Lesegewohnheiten und wieviele Bücher sie kürzlich wieder ausgelesen haben und dass sie, nimmermüde Kleingeister!, nach neuer, leicht verdaulicher Kost gieren - wie ich nach dem längst fälligen Amoklauf!

Ich entschließe mich, eine Suchpause einzulegen, bis das kleine Volkstheater hinten bei den Regalen "Herz/Schmerz" (die heißen hier wirklich so!) beendet ist: Ein etwa 60-jähriger Mann knödelt ungefragt prahlend: "Wissen Sie, ich lese ja schon seit über zwanzig Jahren!", woraufhin die geduldige Bibliothekarin mit eigenem profundem Wissen kontert: "Sehen Sie mal, das Buch hier ist auch ein ganz bekanntes von Ihrem Autoren. Ich weiß nicht mehr genau worum es geht, aber ich weiß noch, dass ich es von Anfang bis Ende durchgelesen habe!" (Beispielhaft, wie fein die Bibliothekarin hier unterschwellig vermittels vorsichtiger sprachlicher Distanziertheit das Lesen solcher Blut- und Boden-Literatur zu kritisieren weiß und doch dem Leser, sollte er sich zu diesem heimatduseligen Roman mit schwarz-rot-weißen Lesebändchen entschließen, nichts an Spannung vorwegnimmt!)

Mein Blick sucht indes Zerstreuung und schweift durch die nahen Regale: vorbei am Jagdlexikon, dem Pschyrembel, dem deutschen Filmatlas und dem Lexikon der deutschen Live-Szene, die man allesamt auf einer Höhe findet.

Da stutze ich: Live-Szene? Was soll die umfassen? Ah! Bunte Stichworte von AGENT ORENT ("Die schwäbische Band aus Bissingen hat ihre Wurzeln in den achtziger Jahren ..." - bei solch fatalen Kombinationen heißt es aufpassen!) bis zum ZWINGENBERGER, AXEL ("Wenn Axel auf Achse war ..." - wir sind gerichtet!). Vorgestellt werden in diesem Lexikon etwa fünfhundert deutsche Musiker und Gruppen, darunter Absolute Beginner, die Angefahrenen Schulkinder, Blümchen, Böhse Onkelz, Mambo Kurt, Wolfgang Petry und Young Deenay … Moment ... ja tatsächlich, auf dem Klappentext steht ›Musiker‹ …

Der Mann ist gegangen, aber Ruhe ist bislang nicht eingekehrt. Ich höre klapperndes Kaffeegeschirr. Kaffee, natürlich! Dann laufen hastig Frauen vor meinem Stellplatz hin und her. Ein Wasserhahn tropft. Wahrscheinlich in gestapeltes Kaffeegeschirr im Waschbecken. Hörbar haben sich inzwischen kleine Lachen gebildet. Kleine Wasserpfützen, in welche nun Tropfen um Tropfen pitscht. In dem immer gleichen, nervenaufreibenden Rhythmus … Es ist genug. Mein Geist ist gebrochen!

Bevor ich jedoch gehe, inspiziere ich noch den Tisch mit ausgesonderten Büchern, greife Schiller-, Goethe- und Lessing-Briefe, einen Paul-Fleming-Gedichtband sowie Heines "Reisebilder" (alles vollständige Ausgaben) und muss der Leihbücherei doch eins lassen: Ungefragte Bücher verhökert man hier nicht, sie werden verschenkt! Bildung als Werbung! Verstehen Sie dies hier in Potsdam bitte gleichzeitig als einen Appell!

© POTZDAM 2001 - Mathias Deinert