Die Nummer Eins des Tages
Montag
Von M.Gänsel

Alle halbe Jahre muss ich. Zum Ohrenarzt. Weil: ich hab Bauarbeiterohren. Also umgekehrt motivierte Bauarbeiterohren: der Bauarbeiter muss immer, weil er an dreckigen Orten arbeitet und alles reinfliegt. Ich muss immer, weil mir alles Dreckige reinfliegt, egal wo ich mich aufhalte. Heraus kommen in beiden Fällen Bauarbeiterohren, die alle halbe Jahre gespült werden müssen. Das Wohlgefühl danach ist vergleichbar mit etwas Sexuellem, wenn Sie verstehen. Also dass Sie das draußen wieder richtig hören, ist nicht so toll. Aber dass Sie sich innen nicht mehr hören - die reine Wonne.

Aber egal.

Reinkommen, Kärtchen abgeben, hinsetzen, warten. Was lesen. Und was sag ich Ihnen: Herein kommen zwei Bauarbeiter. Ich sehe sie gleich ganz geheimbündlerisch an, aber weil sie meine Ohren nicht kennen und ich keinen Blaumann anhabe, gucken sie nicht zurück. Zu zweit sind sie, aber einer muss nur rein, ganz offensichtlich: Solche Menschen (denken Sie sich selber aus, was ich mit solche Menschen meine) schalten in öffentlichen Gebäuden ja gerne einen Gang runter, also stehen meine Bauarbeiter leise brummend zweite Reihe, vorm Anmeldetresen. Und warten, bis sie aufgefordert werden. "Ja also ick wollte mal ick hab..." - "Karte?!" Und ab, hinsetzen. Der Warteraum ist klein, sie sitzen mir gegenüber, bisschen ungelenk, weil das Sessel sind und keine halbfertigen Mauern. Sie passen auf, dass der Dreck an ihren Schuhen bleibt, und es riecht ein bisschen nach Mörtel.

Bauarbeiter Nr. 1 lehnt sich zurück, er muss ja nicht rein, da wird man immer gleich ein bisschen mutiger. Er zeigt uns einen dicken Bierbetonbauch, steht dann auf und holt für den andern eine Zeitung. Geradezu rührend ist das. Nummer 2 fängt an zu blättern und liest vor. Oh, er liest vor. Was er vorliest ("Kiek ma, der älteste Mensch auf der Welt, is ne Frau, 122 Jahre is die jeworden! - "120, det gibbs ja nisch, also 105, 110 vasteh ick ja, det jeht, aba 120!!!"), ist ziemlich egal, aber er hat eine Stimme! Mannometer, ist die tief! Und sonor und schön und man möchte ihn einpacken, in ein Studio fahren und Hörbücher lesen lassen. Ich nicke ihm aufmunternd zu, doch weiterzulesen. Macht er auch, und ich bin selig. So eine Stimme!! Wunnerbar, aber bestimmt hat er was am Hals, Stimmbänder, oje. Ich lausche andächtig, die andern Patienten schauen auch immer mal auf, wenn diese schöne Stimme ertönt. Ich tue so, als ob ich lese, und dabei höre ich nur.

Und gucke so an meiner Zeitung vorbei auf die Erde. Und sehe zwei Schuhe. Mit Socken. Aber nicht irgendwelche Socken: GLITZERSOCKEN. Also so was hab ich noch nie gesehen: Irgendwie weiß, fast jedenfalls, aber nicht schmutzig, nur die Farbe so fast weiß eben, und drin tausend Glitzerpünktchen, das glauben Sie nicht! Da war was los zwischen Schuh und Hosenaufschlag, eine reine Glitzerparty, ein Leben war da, unglaublich! Und, Sie ahnen es: Mein Blick ging hoch, sie gehörten zu Nummer 1!! Dem Bauarbeiter!!! Ein Bauarbeiter mit Glitzersocken, und ah, er hatte noch ein Glitzersteinchen im linken Ohr, aber er sah doch überhaupt nicht so aus, Bierbauch Blaumann Platte! Und Nummer 2 saß daneben und las und las vor und wunderte sich kein bisschen, die andern Leute guckten mehr so in sich rein, ich halboffenen Mundes, staunend. Mannomann, Glitzersocken.

Und ich sage Ihnen: heute Abend geht der nach Hause, zieht den Fummel über, pink und gülden umwandet steigt er aufs Dach, hat eine Riesenanlage da oben, legt die CD ein und rammelt auf Highstheels und "I WILL SURVIVE"-schreiend durch seine Welt. Um morgen wieder auf die Baustelle zu kommen, den Lidstrich nicht abgeschminkt und irgendwas von "Fasching" murmelnd, mannomann. Hut ab.

© POTZDAM 2001 - M. Gänsel