Bad Touch
Donnerstag
Von M.Gänsel

Letzte S-Bahn nach Potsdam, am Savigny-Platz gerade so gekriegt. Nacht, kalt, ein Viererabteil für mich allein bitte. Danke, ich setze mich, ziehe die Zeitschrift aus der Tasche, beginne zu lesen. Schicksal: Schon an der nächsten Station, in Charlottenburg, steigen ein: 2 Personen, eine weiblich, eine männlich. Mein Alter, also IRGENDWAS zwischen 25 und 35. Beide so schluffimäßig gekleidet, der aufgeklärte Bildungsbürger nennt das wahrscheinlich LEGÈR - also 501 und Boots und Wetterjacken mit zu großen Taschen. Sie stehen kurz rum und wissen nicht, in welches der zehn freien Viererabteile sie sich setzen sollen, keiner will entscheiden, was bedeutet, dass sie sich nicht so gut kennen. Die Frau entscheidet schließlich und stellt damit klar, wer hier das Sagen hat. Sie quetscht sich neben mich, NATÜRLICH. Tausend freie Plätze, aber sie muß NEBEN mich kommen, nicht gegenüber, nicht dahin wo der Pfeffer wächst - NEBEN MICH.

"Ich kann nicht rückwärts fahren", sagt sie zu ihrem Begleiter, der mich anguckt und damit sicherstellen möchte, dass ich die Entschuldigung akzeptiere. Ich ignoriere und lese. Denkste. Sie: "In London geht das ja alles automatisch." Er: (grunzt) -- (hat Mitleid) -- "Was?" Sie: "Na in der U-Bahn, also die Türen und so, da muß man nicht mehr raufdrücken, geht alles automatisch." Er "Hmhm." Sie beginnt, in meiner Zeitschrift mittzulesen. Sie wissen das, es gibt so Dinge im Leben, die STÖREN einen das eine Mal, das andere Mal findet man sie ganz witzig, manchmal (GANZ selten) ist es einem auch egal. Ich sah sie an: "Tut mir leid, aber ich HASSE das," und sie sagt ganz doll viel auf einmal. Ich lese weiter, der Typ grinst. Er summt einen Song vor sich hin. Bloodhoundgang, The Bad Touch. Sie: "Cooler Song. Geht einem gar nicht mehr aus dem Kopf, nicht?" Er: (summt weiter) Sie: "Hast du mal auf den Text geachtet?"

Ich lese zum ZEHNTEN MAL dieselbe Zeile, überlege kurz, ob ich mich woanders hinsetze, aber in Westkreuz sind zuviele eingestiegen, nix mehr frei. GANZ langer Fahrtabschnitt jetzt: Grunewald-Nikolassee: 10 Minuten. Er hat nicht auf den Text geachtet. Ich ja. Ich weiß auch, was kommt, aber ich bin angeekelt gespannt, wie sies formulieren wird. Sie: "Die singen doch da im Refrain immer 'So let's do it like they do on the Discovery Channel', weißte?" Er: (pult an der Sohle seiner Boots und versucht rauszukriegen, welche Zeitschrift ich lese) -- "Hmhm." Sie: "Also in London, da gibts so einen Fernsehkanal, und der heißt so. Also in England gibts den." Wenns nicht die letzte S-Bahn wäre... ich winde mich. Sie: "Und da zeigen die immer Naturfilme."

Ich stimme innerlich ein Lied von Funny van Dannen an JA UND DANN FRAGST DU MICH WAS SCHAUST DU AM LIEBSTEN AN UND ICH SAGE NATURFILME WEIL MAN DA SEHEN KANN WIE SCHÖN DIE WELT IST UND WAS DIE TIERE TUN WOHIN DIE VÖGEL ZIEHN WENN ES KALT WIRD IN BERLIN - no chance. Sie: (mit grundschullehrerhaft obszönem Ton) "Naja und du kannst dir ja denken, was man da am meisten sieht... NATURfilme... TIERE und so." Sie beugt sich verschwiemelt anbiedernd vor. Er sieht sie entsetzt an. Sie: "'Let's do it like they do on the Discovery Channel'..." Und dann macht sie eine Geste. Ich sehe es, weil ich neben ihr sitze und Dreidimensionalität leider nichts ist, das man abstellen kann. Sie macht die Geste, DIE Geste, die für Ingo Apelt und Udo Lindenberg der INBEGRIFF von Geschlechtsverkehr ist: Sie ballt die Rechte zur Faust und knallt sie in die Handfläche der Linken. Es pofft dumpf. Sie: "Verstehst du?! Deswegen auch die KOSTÜME im Video!" Sie schreit jetzt ein bißchen, ist hysterisch, wahrscheinlich auch sexuell erregt. Er sieht sie beruhigend grinsend an, er hat Angst, ich sehe das ganz deutlich.

Sie lehnt sich triumphierend zurück, sieht kurz zu mir hinüber, ich schließe die Augen, lehne meinen Kopf an die Scheibe. Als ich sie wieder öffne, stehen die beiden, am Horizont kommt Nikolassee näher. Natürlich, Nikolassee. Jugendherberge, wahrscheinlich. Vermufft, aber billig, und Frühstück ist ok. Wahrscheinlich muß er ran diese Nacht, aber er scheint keine Lust zu haben, rennt quasi aus der S-Bahn, will sie nicht in seiner Nähe haben. Sie ist das, was Mütter gerne als "PATENT" beschreiben. Ich klappe die Zeitschrift zu, starre aus dem Fenster und summe vor mich hin. YOUR BEST FRIEND IS YOU I'M MY BEST FRIEND TOO.

© POTZDAM 2001 - M. Gänsel