Schlüsselmeisterlich
Freitag
Von Mathias Deinert


Es ist Nacht. Finstre Nacht über dem kleinen Universitätsdörfchen Golm. Alles liegt ruhig. Nur eine einzelne geschlossene Gesellschaft feiert im Campushauptgebäude noch die Jugendweihe ihres jüngsten Sprosses. Frivol geht es her, und abstoßende Partygeräusche hallen durch die Gänge des Hauses Vierzehn.

Im dritten Stock wird ungeacht der späten Stunde noch gearbeitet. Da sitze ich. Ein Arbeitsbericht der zurückliegenden Woche will vervollständigt und private e-Post beantwortet sein. Keins von beidem fließt mir gut aus den Fingern. Sei's.

Mit einem Male höre ich, wie eine kehlige Stimme über die langen Flure gellt. Zuerst ist sie kaum vernehmbar. Dann kommt das Rufen näher. "Hallooo?" Ein Schaudern überläuft mich. Werden nicht ständig unschuldige Leute auf hiesigen Campusgeländen überfallen und vergewältigt? So etwas fürchte auch ich um diese Zeit! Und so halte ich inne. Wartend ob die Stimme ein zweites Mal zu mir dringt.

Sie tut's. Verflucht noch eins! Leise schleiche ich zur Tür. Wieder das entsetzliche Rufen. Beherzt öffne ich die Tür - und vor mir tappst orientierungslos einer der Wachthabenden unseres Sicherheitsdienstes in der Dunkelheit umher.
"Sie wünschen?" (Auch noch außerhalb des Dienstes Etikette bewahren; ja, so bin ich!) Da spuckt's mir entgegen:
"Du, Du wolltest doch um Elfe hier Schluss machen!"
Verdammt! Er hat recht, der zottelige Uniformierte! (Ich musste mich, um den Haustürschlüssel zu bekommen, nicht allein ins Schlüsselvergabebuch eintragen, sondern auch noch unvernünftigerweise eine Zeit angeben, zu der ich ungefähr fertig sein würde.) Nicht ohne ein inneres Seufzen versichere ich ihm, nun zum Ende zu kommen. Er hustet. Lange hustet er. Bestimmt mit Auswurf. Und fragt dann:
"Bei welchen Professor arbeitste hier?" Ich antworte.

Während ich nun den PC herunterfahre, steht er im Vorzimmer und lacht dreckig. Bestimmt geht das Lachen gleich in ein röchelndes Husten über. Widerlich! Ebenso widerlich wie die Zotteln, die überall an seinem grobschlächtigen Körper herauszuwuchern scheinen. (Unweigerlich muss ich an F.W. Murnaus Episodenfilm "Satanas" denken, wo der Teufel stets in Gestalt der …)

"Sach ma, is dit die Brischitt Bardoh?" unterbricht er meinen Gedankengang und deutet mit wurstigen Fingern auf eine Postkarte an der Wand. Ich übergehe diese infame Bemerkung wortlos. Dann treten wir auf den Flur. (Hoffentlich müssen wir nicht so lange auf den Fahrstuhl warten, sonst labert der mir noch …)

"Kennste 'n Witz, Kleena?" (Langsam beginne ich zu ahnen, was unsere neue Sicherheitsfirma so preiswert macht. Die Firma wurde nämlich des Geldes wegen gewechselt.) Ich verkrampfe innerlich. "Nö", bringe ich heraus und drücke zitternd nach dem Fahrstuhl. Gott sei Dank öffnen sich sofort die Türen.

"Pass uff: Sitzen zwee im Jefängnis. Sacht der eene zum andan: 'Ick hatte letzte Nacht jeträumt, ick bin mit'n Fahrrad hier ausjebrochen und inne Freiheit jefahr'n.' Sacht der andre: 'Ick hatte ooch 'n Traum: Brischitt Bardoh stand nackicht vor mir und hat mit mir rumjemacht.' Schreit der eene: 'Mensch, was haste mir denn nich jeweckt?' Und der andere druff: 'Na, du warst doch mit'n Fahrrad unterwegs!' Und wieder dieses schlimme Röcheln, dass ich denken muss, das Urviech verendet mir im Fahrstuhl. "Fastehste, Kleena, der war doch mit'n Fahrrad unterwegs!" Darauf das diabolische Lachen. (Scheußlich!)

"Wie kommt es denn, das man in Universitätsgebäuden Jugendweihe feiern darf?" frage ich themenwechselnd. Der Fahrstuhl gibt uns frei. "Ja, die feian Jugendweihe!" erläutert der uniformierte Neandertaler ausweichend. "Hattest du schon Jugendweihe?" (Wenn jetzt die Haustür abgeschlossen ist, schreie ich um Hilfe!) "Ja klar!" antworte ich wohlerzogen. (Herr des Himmels! Freiheit!!) "Ick ooch!"

Schnell kann ich in die Nacht entkommen. So trennen sich unsere Wege. Er schlurft zurück in das Häuschen, in dem die geheuerten Männer, denen man ihre Qualifizierung nicht sofort anmerkt, stets sitzen und sich einschließen. (Wohl, damit sie selbst nicht überfallen werden, die langen zwei Stunden, in denen sie das Pförtnerhaus besetzt halten.) Und statt zwei Wachhabende pro Schicht einzuteilen, wie es das Beste wäre, macht sich nun bloß noch ein Hintern im ausladenden Bürostuhl breit. Unverantwortlich!

Was nämlich tun, wenn dieser eine ausfällt (sei es - man hat so etwas ja alles schon gehört - durch einen plötzlichen fremden Überfall, eigenen Schlaganfall, spontane Selbstentzündung oder bleierne Müdigkeit) und Golm unter die Fuchtel maraudierender Dorf-Schergen gerät? Ich denke, darüber müssen wir uns keine Gedanken machen; denn solche Leute, vor denen früher die Schranke runterfiel, haben nun das Wachhäuschen in ihrer Gewalt. Was hier nachts auch geschieht, es wird ungesehen und ungemeldet bleiben. Und unsere neue Sicherheitsfirma mit ihren finsteren Gesellen hat, bei Licht besehen, wirklich nur den einen Vorzug:

Sie ist billig!

© POTZDAM 2001 - Mathias Deinert