Die Rosen im Schnee
Mittwoch
Von P. Brückner


Dass Potsdam italienisches Flair besitzt, weiß ja irgendwie jeder. Es fällt dem Potsdamer an sich nur manchmal schwer, sich dieses Faktes sicher zu sein, erst recht während der Rushhour in der Straßenbahn. Hier beginnt die Geschichte, an einem Mittwoch, der sehr, sehr sonnig war. Ich, wieder mal zu spät, hetze zur Straßenbahnhaltestelle Luisenplatz, um die Bahn zu kriegen, die in 2 Minuten abfährt und .... verpasse sie natürlich. Groll steigt in mir auf. Warum ich? Was bleibt zu tun? Na klar, warten auf die nächste, die fährt in 10 Minuten. Prima, ich werde also richtig zu spät kommen. Der Groll weicht Ärger.

Dann kommt die Bahn und ich wenigstens einen Sitzplatz, meine Laune wird dadurch nicht besser. Ein Blick ins Rund der Mitfahrer macht klar, auch die sind genervt und abgehetzt. So ärgert man sich gemeinsam bis zum Platz der Einheit/West. Teils prinzipiell, teils der immer mehr zusteigenden BUGA-Touries. Es ist voll, es ist heiß, es ist stickig. Und am Platz der Einheit wird es noch voller, was noch heißer und stickiger bedeutet.

Hier passiert es nun, es steigen zwei ältere Damen zu, und ich sage Damen, weil ich Damen meine. Beide um die siebzig und standesgemäß für den öffentlichen Auftritt angezogen. Sie betreten also die Bahn - und, Wunder über Wunder, ein Teenagerpaar steht auf und bietet ihnen ihre Plätze an. Ein Lächeln huscht über das Gesicht der Damen, sie bedanken sich artig und setzen sich. Nun entspinnt sich folgendes Gespräch.

"Das hier ist der Platz der Einheit/West, ob es noch einen Andern gibt, gar einen Platz der Einheit/Ost?" Die restlichen Fahrgäste verdrehen die Augen und denken, "Na klar, auf der anderen Seite, seid bloß ruhig ihr beiden!" Aber die zwei bemerken es nicht und philosophieren weiter, dass es ja so wunderbar sei, das man nun, seit der Einheit, ohne Probleme auch nach Potsdam könne. "Aha" denken alle "noch mehr Touries also!" Wer noch zweifelt, wird jetzt eines besseren belehrt, jemand kommt angehetzt um wie ich vorhin, die Bahn noch zu kriegen, und ihm werden die schon verschlossenen Türen wieder geöffnet. "Das ist ja nett", sagt eine der beiden, "in Franfurt (offensichtlich Main) hätten sie ihn draußen stehen lassen." "Nein wie gemein" denken alle und finden es plötzlich schon gar nicht mehr so schlimm. Klar ist es voll, aber man darf wenigstens mit.

Die Damen legen auch sofort nach. "Überhaupt," geben sie laut kund, "überhaupt ist in Potsdam alles so nett, die BUGA, die Stadt und die Potsdamer." "Na wenn ihr wüsstet" denken alle und geben sich gleichzeitig Mühe, jetzt auf jeden Fall nett auszusehen. Mittlerweile fährt die Bahn auch endlich weiter, und ein kollektives Lächeln macht sich in ihr breit, wird doch jede Haltestelle mit großem Holla von den beiden Damen begrüßt und jedes Mal festgestellt, wie beneidenswert der ist, welcher das Glück hat, in dieser Stadt zu wohnen. Frankfurt dagegen, was soll ich sagen.

Die Strecke macht es ihnen aber auch leicht, fährt die Bahn doch durch eine Abendsonne, die plötzlich nicht mehr brennt, sondern golden durch die Scheiben der Bahn scheint und die Alleen, die durchquert werden, in ein malerisches Licht taucht. Es ist Friede, alle Last ist von uns anderen Fahrgästen abgefallen, kein Gedanke mehr, ich könnte zu spät kommen. Heiter, fast schwerelos gleiten wir dahin, und das Loblied auf Potsdam wird weitergesungen, von zwei feinen, alten Damen, die die BUGA besucht haben und nun ein Ziel ansteuern, von dem sie nur die Anzahl der zu fahrenden Stationen kennen, die zählen sie nämlich nebenbei mit. Als sie schließlich den Fahrkartenautomaten der Bahn bemerken, sind sie schlichtweg hingerissen, denn in Frankfurt, so erfahren wir, gibt es so etwas nicht. Man verpasst schon einmal die eine oder andere Bahn, weil die Automaten halt so weit entfernt sind. Wer von uns jetzt noch nicht begeistert war, in Potsdam und nicht in Frankfurt zu wohnen, ist es nun endgültig, ob dieses ungeheuren Luxus.

Währenddessen schwelgen die beiden in Erinnerungen, als es noch den Bahnservice schlechthin gab, den Schaffner. Bedauern über sein Verschwinden macht sich bei uns breit, aber die beiden appellieren gleich an unser Verständnis, denn "wer kann denn das heut noch bezahlen!" Sie hätten es sich nicht wünschen sollen, denn an der nächsten Haltestelle steigen drei dubiose Herren ein, die von Profis sofort als Kontrolleure in Zivil erkannt werden. Leider tun dies unsere beiden nicht, als einer an sie herantritt und im gewohnt barschen Ton "Fahrkarten!!" grummelt.

Er erntet einen Blick, der Verwunderung und Abscheu in sich trägt. Die Sonne verschwindet, dafür erscheint die Schwerkraft, die Freude ist dahin. Schweigen macht sich breit, bis eine der Damen sich schüttelt und "Warum?" fragt.

Der Kontrolleur weicht zurück, das ist er nicht gewohnt, darauf hat ihn niemand vorbereitet. "Weil ich es sage!" raunzt er zurück. Die Damen sind verunsichert, haben aber nicht vor, die Realität des Ganzen zu erfassen und schauen den Kontrolleur mit blitzenden Augen an. Der starrt zornig zurück, und wir übrigen Fahrgäste ringen mit unserer Starre, die dieser frostige Einbruch der VIP-Realität in unser sonniges Gefühl verursacht hat. Wir wollen helfen und können doch nicht, weil unsere Hirne die Kollision von Freundlichkeit mit dem Potsdamer Servicealltag nicht verarbeiten können.

Zwei Punks, die hinter den Damen sitzen, schaffen es als erste. "Zeigt se ihm, die sind hier immer so" rufen sie den Damen zu. Die nun völlig konsterniert tun, wie ihnen geraten. Der Kontrolleur ist zufrieden und zieht weiter, zurück bleiben zwei Häufchen Elend. Kein Wort mehr über ein freundliches Potsdam ist von ihnen zu hören. Die Hoffnung aller, in Frankfurt wäre man wenigstens noch prophylaktisch zusammengeschlagen worden, und so schlimm war's ja gar nicht, wird enttäuscht. Ein Desaster!

Es wird noch schlimmer, als die beiden bemerken, das sie vergessen haben, weiterhin die Haltestellen zu zählen, und nun quasi Lost in Potsdam sind. Die Punks wissen jetzt aber genau, was sie zu tun haben. Frontal werden die Damen von ihnen gefragt, "wo se den hin wolln." Sie wollen zur S-Bahn nach Babelsberg. "Da wolln wa och hin", sagt einer der Punks, "da nehm wa se mit!" Die beiden Damen wissen nicht, ob sie diese Offerte annehmen wollen, aber nun ist es zu spät, denn hier ist die richtige Haltestelle. Einer der Punks ergreift die Hand einer Dame, und diese lässt ihn gewähren!

Schon in der Tür dreht sie sich zur anderen um und sagt: "Zwar nicht die Kontrolleure, aber die Punks, die sind viel, viel netter als in Frankfurt!" Erleichtert und wieder froh, fahren wir anderen unserem Ziel entgegen.

© POTZDAM 2001 - P. Brückner