Winterzeit, Nepperzeit
Hütet Euch vor den Haustürgeschaftlhubern!
Von Mathias Deinert

"Wunderschönen guten Tag, Frau Schluppke, ich habe Ihnen etwas zu zeigen, was Sie so bald nicht wieder sehen werden. Und Sie dürfen mir glauben: Unter Zehntausenden wurden Sie ausgewählt! Und darauf dürfen Sie stolz sein. Darf ich hereinkommen?

Ich schlage vor, wir gehen einfach ins Wohnzimmer. Ich bin Frau Reibach vom Coron-Verlag. Und nun werden Sie sich fragen, was ist der Coron-Verlag und wie kommt er gerade auf mich. Sie wollen es wissen, Frau Schluppke? Ich will es Ihnen sagen: Der Coron-Verlag hängt mit dem Bertelsmann-Verlag zusammen. Er hat sich spezialisiert auf die Herausgabe einmalig schöner Faksimile-Ausgaben. Und seinen treuesten Kunden macht er ein einmaliges Angebot, dass Sie sich noch heute sichern sollten.

Sind Sie auch ein Freund und Kenner alter Bücher? Schöngeistiger Literatur? Ja? Dann will ich Ihnen Hochglanz-Buchprospekte zeigen, bei denen schon das Prospekt allein sein Geld wert wäre. Sehen Sie zum Beispiel diese wirklich wunderwunderschöne Merian-Bibel! Es gibt nur noch zwei Exemplare weltweit. Es ist eine Bibel aus dem 30-jährigen Krieg. Und ich sag Ihnen ehrlich, was es mit dem Nachdruck dieser Bibel auf sich hat: mein absolutes Lieblingsjuwel aus unserem Angebot!

Aber nicht allein alte Bibeln und Stundenbücher: Sehen Sie sich nur die prächtigen Atlaswerke an, die goldgeschnittenen Breviere und die Gebetbücher mit zum Teil echten Edelsteinen im Einband! Atemberaubend, finden Sie nicht? - Wie teuer? Liebe Frau Schluppke, es ist natürlich so: Jede Kostbarkeit hat Ihren Preis, das wissen Sie. Dieses Gebetbuch von Stefan Lochner beispielsweise könnte ich Ihnen zu einem Preis von nur 55 € im Monat anbieten, wenn Sie zwei Jahre lang in Raten zahlen. Zu teuer, sagen Sie? Aber Frau Schluppke, ob man das Geld nun verraucht oder ein Buch von steigendem Wert abzahlt! Sie rauchen nicht? Trinken Sie vielleicht? Oder spielen Sie?

Naja, es hat Ihnen bisher alles noch nicht so recht zugesagt. Das spüre ich.

Liebe Frau Schluppke, ich will Sie nicht verleiten, wirklich nicht! Die Sammelausgabe aller Literatur-Nobelpreisträger des 20sten Jahrhunderts aber ist einzigartigst. Schauen Sie nur: Alle Texte der Literatur-Nobelpreisträger in 30 wirklich wunderwunderschönen Bänden aus französischer Seide. Wer etwas von Literatur versteht, greift zu! Es ist mein absolutes Lieblingsstück! Und ich sage mal: Als Rentner, verehrte Frau Schluppke, weiß man, was man sich absparen kann und was nicht.

Nein. Ich an Ihrer Stelle würde nicht erst Rücksprache halten mit den Kindern - Sie wissen doch, dass die Kinder dann sagen: Ach, es ist zu viel Geld, gib nicht so viel Geld für mich aus, Mama! Aber ist es nicht ein echter Liebesbeweis, wenn man ihnen etwas hinterlassen kann, das im Wert immer noch wächst, auch wenn man selbst schon längst gegangen ist? Denken Sie darüber nach, Frau Schluppke. Und mit einer einzigen Unterschrift machen Sie sich und Ihre Lieben bleibend glücklich.

Nein, ich kann leider nicht später wiederkommen. Entweder sagen Sie jetzt JA - oder nie! Es ist die Philosophie des Coron-Verlags, nur ein einziges Mal die Kunden, ja, wenn Sie so wollen: zu belästigen. Also wäre, auch wenn Sie wenig später Interesse zeigten, diese einmalige Chance vertan. Ich will Sie nicht drängen, Frau Schluppke, wirklich nicht! Wenn Sie sich unsicher sind, dann machen wir lieber keinen Vertrag miteinander. Nein. Denn Sie sollen ja zufrieden sein. Ihre Zufriedenheit liegt uns am Herzen! Aber überlegen Sie es sich, Frau Schluppke, was sind denn 55 € im Monat? Nein, wenn ich durch diese Tür gegangen bin, gibt es keine Möglichkeit mehr, sich das Angebot des Coron-Verlages zu sichern. Wirklich keine. Und wenn Sie sich so unsicher sind, bleibe ich noch zwei Stunden. Ich habe Zeit, Frau Schluppke, und das Gefühl, Sie werden es sich überlegen.

Ja, zwei Stunden; oder auch länger, je nachdem.

- - Na, sehen Sie!

© POTZDAM 2002 - Mathias Deinert