Geisterbahnhof Guben
Eine ostdeutsche Tristesse
Von Mathias Deinert
"Hier Guben, hier Guben!" tönt es zackig wie zur Kaiserzeit aus den überalteten Lautsprechern der grenzstädtischen Bahnhofsanlage und versucht mit selten gewordenem Charme dem ankommenden Reisenden, dessen Gesicht beim Anblick der ihn umgebenden Backsteinhölle zur Larve erstarrt, über den ersten kurzen Schock hinwegzuhelfen, weil er HIER sicher nicht hin wollte, HIER nicht, überall, nur HIER nicht hin, in diese abendlich menschenleere, immer trübe grenzhalbierte Stadt, deren geballter Hass, wie jedenfalls überall nachplappernd zu hören ist, auf alles Auswärtige gerichtet scheint... Doch was nützt es dem armselig verlassenen Opfer, welches nun auf dem Bahnsteig lediglich noch den kleiner werdenden Rücklichtern des Zuges hinterherseufzen kann: "Einsam bist du. Sehr alleine. Aus der Wanduhr tropft die Zeit ..." Nein. Aus dieser hier nicht. Sie steht. Aber wer kümmert sich darum, ob die Zeit hier stehen bleibt! Man sieht kein Personal mehr, seitdem den Gubenern die direkte Bahnverbindung zur Hauptstadt zugunsten Frankfurts an der Oder gekappt wurde; man wollte der RE-reisenden Welt mit dem erzwungenen Aufenthalt in Frankfurt/Oder wohl zeigen: Es gibt kein hässlicheres Objekt, das je mit deutschen Steinen zum zweifelhaften Wohle der bahnfahrenden Öffentlichkeit erbaut wurde. Und so schleppt man seine schwere Gepäcklast allein und unbeholfen über das holperige Pflaster des Steiges, durch den preußengelb gefliesten Tunnel, die Treppe hinauf, schlägt fast lang hin (was fatal wäre, weil sich sofort eine kleine Traube schaulustiger Taxifahrer umherscharen würde, fragend, ob man das jüngste Opfer einer der rechtsextremen Hetzjagden sei, die hier ja beinahe wie ein Volkssport betrieben würden; oder aber weil plündernd umherziehende Sperrmüllbanden aus dem Nachbarlande nicht etwa dem Gestrauchelten, sondern lediglich einzelnen Gepäckstücken aufhelfen würden), erreicht aber dennoch die rettende Holzbank am Ende der Treppe, auf der man kurz ausruhen kann, bevor man das wartende Auto seiner Bestimmung findet, das einen fortträgt aus dieser schwarzgähnenden Einsamkeit, fort von dem ruhenden Umschlagplatz rostender Geisterwaggons, weg von der Stätte des Spiegelbildes Gubener Stadtseelenlebens, an dessen einstige Herrlichkeit nur noch die geradezu mahnende Frauenstimme aus dem Lautsprecher erinnert: "Hier Guben, hier Guben!"
© POTZDAM 2001 - Mathias Deinert