Posttrauma
Montag
Von M.Gänsel

Samstag morgen. Ich sitze am Küchentisch, trinke Kaffee, rauche. Höre von der Tür, wie die Post eingeworfen wird, ich hab so einen Schlitz in der Wohnungstür. Gehe nicht gleich gucken, Post eben. Eine halbe Stunde später geh ich hin und hebe eine blaue Postkarte auf: "Wir haben Sie leider am... um... nicht persönlich angetroffen und Ihre Sendung in... bei... für Sie abgegeben." Die Frechheit, eine Karte reinzuwerfen, obwohl man zuhause ist, ist ja nicht neu - darüber mach ich mir keine Gedanken, das kenn ich. Aber die ADRESSE, die als Depot für mein Paket angegeben ist, gibt mir Rätsel auf: Es ist nicht nebenan, es ist nicht oben drüber, es ist kein NACHBAR. Da steht eine Straße, die immerhin meine ist. Und eine Nummer, die von meiner SEHR weit entfernt scheint. Also ich wohne in der 5, und da steht 47, so in etwa. WO um alles in der Welt IST das?! Ich sehe aus dem Fenster, und ah, auf der andern Straßenseite sind solche Nummern, 44, 45, 46 - ich hänge mich aus dem Rahmen, und siehe da, 47 ist GANZ da hinten! Immerhin, in meiner Straße. Ewig weit weg, aber in meiner Straße, Name steht da auch, also gut. Wie konnte es DAZU kommen?

Ich male mir die krudesten Szenen aus. Der visionäre Postbote steht in der 47, gibt bei denen ein Paket ab, greift sich an die Stirn: "ACH, ich habe da noch eins, muss in die 5, aber passen Sie auf: Ich geb Ihnen das, und dann geh ich dahin und mach da einen Zettel rein, dass sie es sich bei Ihnen abholen können. Ja?" - "Gibt's hier in der Straße einen Menschen, den Sie gerne mal kennen lernen möchten? Wir haben da bei der Post so ein neues Programm, Meet Your Neighbor, damit geht das ganz leicht. Sagen Sie mir einfach Namen und Adresse, und ich gebe Ihnen eine Sendung, die sich derjenige dann bei Ihnen abholen muss. Funktioniert SUPER, die Leute sind dankbar, und Sie wissen endlich, was Sie immer wissen wollten!"

Egal, heute ist Samstag, mittlerweile auch später, am Wochenende will ich da nicht stören, bei WEM immer, ich KENNE die Leute ja nicht. Sonntag geht auch nicht, also mache ich mich am Montag morgen auf den Weg, halb zehn in Deutschland. Nummer 47, hier isses... Hinterhof, aha so sieht das aus hier, wohnen ja einige Leute... Der Name, der auf meinem Post-Kärtchen steht, ist nicht zu finden. Da vielleicht, da steht auch 47 dran... Ah, das könnte der Name sein, ein Buchstabe mehr oder weniger, mein Gott, die Leute bei der Post haben ja nicht jeden Tag mit Schrift zu tun, nicht wahr.

Ich klingle. Es öffnet ein Mann in den 30ern, der eine Anzughose anhat, die oben noch offen ist, der Gürtel hängt links und rechts runter - freier Oberkörper, wenig Haare, kleiner als ich. "Moin!" Er schaut mich freundlich an. Ich beginne einen 3-minütigen Sermon, den ich mit dem Wedeln des Kärtchens begleite. Er nickt, nimmt mir das Kärtchen aus der Hand, schüttelt den Kopf. "Wissen Sie, das ist was anderes. Wir haben kein Päckchen hier." Er nickt weiter, liest sich das durch. "Das bedeutet, dass Ihre Sendung woanders liegt. Also ein Brief, ein Einschreiben oder so was." Er muss Beamter sein oder so was. "Also das ist schon komisch, dass hier der Name steht, die Adresse, stimmt ja alles. Wo, sagen Sie, wohnen Sie?" Ich erkläre es ihm. Erkläre ihm auch, dass er was haben MUSS von mir, sonst hätte ich ja nicht... Er grinst plötzlich, entschuldigt sich förmlich für seinen Aufzug. Lehnt lässig im Türrahmen. Ist wahrscheinlich kurz davor, mich aufn Kaffee reinzubitten.

Ich schiele an ihm vorbei und sehe auf dem Garderobenschränkchen ein Päckchen von Amazon liegen. Büchersendung. "Können Sie mal eben gucken, ob auf dem Päckchen da mein Name steht? Ich erwarte nämlich was von Amazon..." Er nimmt das Päckchen, liest meinen Namen vor, ist von den Socken. "Das muss SIE angenommen haben, kann nur am Dienstag gewesen sein, denn da hatte sie Urlaub!" Er sieht mich beifallheischend an. Ich verkneife mir die Frage, ob sie sonst NIE die Tür öffnen darf, wenn er da ist. Den Eindruck macht er auch nicht, er ist jetzt richtig hibbelig und freut sich wie Bolle. Nett, der Kerl. "Zeigen Sie mir Ihren Ausweis und dann ist gut, ist ja ein Ding, wie die auf so was kommen, na Post eben," murmelt er so kumpel-mäßig, kratzt sich an der Brust und lächelt mich schüchtern von unten an. Ich zücke das Dokument - er IST Beamter - und er gibt mir das Päckchen, ich bedanke mich, er: "Nett, Sie kennen gelernt zu haben, Frau Gänsel!" Ich grienend ab, das WAR ein Sie sind einsam? Kein Anschluss? Kein Problem! Die Post ist da!!! - Programm.

Vor meinem Haus steht ein Post-Auto. Ich gehe kalt lächelnd darauf zu. Die Postfrau macht eben die Schiebetür zu, "Guten Tag," beginne ich freundlich. Schon nach den ersten Worten unterbricht sie mich pfiffig: "Sie sind Frau Gänsel, stimmts?" Ich nicke paralysiert. Stelle mir ein Post-Depot vor, in dessen rauchverhangenem Hinterzimmer mein Foto an einem Schrank prankt, darunter in gelben Lettern: "KUNDIN DER WOCHE" - sie fährt fort: "Ihr Fall ist bekannt, das war eine Aushilfe am Samstag, ein Versehen, wir wissen auch nicht, was den geritten hat, vielleicht hatte er Lust, ein bisschen hin- und herzulaufen." Ich schaue sie zweifelnd an. Sie grinst: "Tut mir leid, der macht das nicht noch mal," senkt sie die Stimme, ich lächle herzerwärmend und versuche "Ist ja kein Problem, ich habs ja, außerdem kenn ich jetzt die Leute in der 47," dem armen Aushelfenden das Leben zu retten. "Der hatte keine Ahnung, ich meine, die über Ihnen, die sind doch IMMER da," verdreht sie die Augen, der Schüler / Student, der sich am Wochenende was dazu verdienen wollte, ist SOWAS von unten durch bei ihr... Ich entferne mich, immer noch lächelnd, und gehe nach Hause. Und warte seitdem auf das nächste Paket, öffne nie die Tür, verhalte mich still und hoffe, dass es eine Aushilfe ist, bitte.

© POTZDAM 2001 - M. Gänsel