Die Lyrik des Saxophons
"Kein Absturz gebrochener Flügel" im NIL
Von Mathias Deinert

Auf einmal fing es einfach an: Ein bebrillter Mittdreißiger in buntem Wollrestepulli und schmandigen 80ger-Jahre-Hosen, - ein wenig abgemickert und uneins darüber, wohin genau die Hände während seiner kurzen Einführungsrede zu verstecken seien: in die Hosentaschen? unter den Pulli? vors Gesicht? - präsentierte sich den buntdurchmischten Freunden brandenburgischer Neuzeitpoesie im Studentenklub "Nil".

Nach einer kurzen Einstimmung auf das Thema durch ,Elke Buchholz am Saxophon' trat auch schon die erste Gelegenheitsdichterin vor das Publikum, stand recht verloren zwischen hohen Lokaltischen und Gewölbepfeilern direkt vor einer kalkigen Wand (wie man mir hinterher erklärte, sollte dies auch genau so unbeholfen wirken), und vielleicht hätte man sie gar nicht bemerkt, wäre nach der Ankündigung nicht sofort höfliche Stille eingekehrt. Denn sie las leise. Sehr leise. Und schnell las sie. Und noch bevor die Zuhörerschaft in einer kurzen Sprechpause eine scheinbar gelungene Metapher (von einem mit Menschenhaut überzogenen See oder ähnlichem) aufschnappen konnte, war der plötzliche Spuk auch schon vorbei. Man klatschte kurz und verhalten; nicht übermäßig. Man musste den übrigen anwesenden Schreibern gegenüber ja fair bleiben! Daraufhin rang Elke Buchholz dem Saxophon erneut eingängige Weisen ab. Wieder klatschte man. Und diesem geradezu liturgischen Wechselspiel unterwarfen sich die Zuhörer nun fortwährend.

Andere lasen auch, ja. Bemerkenswert waren jedoch nur zwei Autoren: zum einen Alfred Bergstedt, Begründer und Leiter der studentischen Literaturbühne '90, dessen Gedichtauswahl sich schon allein dadurch abhob, dass er in Brechtscher Manier bar falschen Gefühls zu großen Männern seiner Zunft, wie Hölderlin oder Ringelnatz, parodistisch Stellung bezog; zum anderen ein gänzlich aus dem angegrauten Einerlei ragender schlesischer Dichter, der mit nur drei Kostproben seiner Stilsicherheit und wohltuend sonoren Stimmbegabung den Zuhörern all das ersetzte, was ihnen vorher an Zuhörerwillen schon geraubt worden war.

Da stand beispielsweise ein Mann vor der Kalkwand, der besonders gefühlvolle Reimgedichte zum besten geben wollte; dessen Sentenzen aber immer mit einem pseudooriginellen Schluss versehen sein mussten. So sinnierte er in einem drolligen Liedchen über Freud und Leid der männlichen Wachstumsphase und endete mit dem sinngemäßen Verslein "nun will ich nicht mehr picklig sein / und bleibe doch ein Warzenschwein!" Es lasen auch studentische Möchtegernpoeten. Aber sie gaben ihren Gefühlen lediglich durch Metaphoriken des Leidens und der Pornographie Ausdruck, wie "wir trafen uns zwischen zwei Schluchten / und du stachst mir in den Bauch". (Wärend nun in meinem Hirn Bilder entstanden, die der Vernünftigkeit widersprechen, sahen einige andere Zuhörer in diesen Sprachbildern die schillerndste Naturpoesie; was mir nicht recht triftig erscheint, beachtet man das Thema des langen Abends.)

Ach, die meisten im Zuschauerraum warteten bereits gespannt auf Elke Buchholz und ihr Saxophon. Sie beide beruhigten das zum Unwillen aufgepeitschte, von nur scheinbar geistvollen Vers- und Reimungetümen arg angegriffene Gemüt wieder; und von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen war sie es, der viel von dem Erfolg des vorgeblich feinsinnigen Abends gebührte. Sie war die eigentliche Lyrikerin, die von den verschiedenen Gefühlen der Liebe behutsam zu erzählen wusste. Als küsse sie es, ruhte das goldene Mundstück an den schmalen Lippen der dunkelhaarigen Schönen. Mit schlanken sicheren Fingern liebkoste sie Taste um Taste; und jeder Kunstfreund, der sich diesem Lyrikabend wie einem Experiment unterzogen hatte, lauschte ihr angerührt und beinahe atemlos. Während der Lesungen hatte sie ihr Instrument liebevoll an ihrer Brust ruhen lassen, hatte es gedankenverloren gestreichelt oder daran ihre zartweiche Wange geschmiegt, um gleich darauf abermals mit geschlossenen Augen dem Blech die schönsten Töne einzuhauchen. Manchmal entglitt ihr auch ein Ton; das war einerlei. Denn ihr Empfinden, ihre innere Musik war echt; warmherzig und anmutig ihr Gestus, lüstern zuweilen ihr Augenaufschlag - immer aber bittersüß und ruhig ihr Spiel, das Auge und Ohr zu fesseln verstand.

Tosender Applaus brach los, als sie ihr letztes Stück vollendet hatte. Kaum hörbar bedankte sie sich kurz verneigend. Der Vorsitzende der Autorenvereinigung verbeugte sich ebenfalls, als gälte der Zuspruch all seinen brandenburgischen Schreibern, ihm eingeschlossen. Man ging gerührt; denn Elke Buchholz - menschgewordene Sinnlichkeit am Saxophon - hatte uns von Liebe gespielt, von Lust erzählt, uns Wehmut ahnen lassen und die Größe echten Fühlens sicher improvisiert.

Am Ausgang sollte man einen Lyrikkalender der besagten Autoren für 7,- DM kaufen; wir taten es nicht, weshalb ich an dieser Stelle den Stumpfsinn manches Geschriebenen nur aus dem Gedächtnis nachbilden konnte. Von Elke Buchholz und ihrem Geliebten, dem goldenen Saxophon, gab es keinen Kalender. Schade … ein Verlust! Die Autoren: Ein Versuch. Der Abend: Eine Erfahrung. Wir Zuhörer: überaus erschöpft.

Nachwort

Ihr lieben brandenburgischen Autoren,
was lest ihr vor den Terroristen im Studentenkeller?
Lasst denen doch ihr Bier,
den Hund samt Kleinstgetier und auch den Glauben,
jeder sei ein Intellektueller,
den sie sich zur Geräuschkulisse leihn.
Vor allem aber nickt nicht traumverloren
beim Lesen eurer Verse selber ein!

© POTZDAM 2001 - Mathias Deinert