Ein Skandal mit Hennetmair
Ungehöriges Verhalten von Senioren in der Öffentlichkeit.
FOLGE 1
Von M. Gänsel

Am 31. März 2001 findet in Potsdam eine Thomas-Bernhard-Nacht statt. Die Fabrik ist der Ort, das Brandenburgische Literaturbüro der Veranstalter, aus dem Roman Ja von Th. B. wird gelesen, Filme werden gezeigt, und der Hauptheld des Abends ist Karl Ignatz Hennetmair - "Wir lesen ja alle gerade Hennetmair," sagt Harald Schmidt, und recht hat er. Und also kommen einige Leute, weniger als man denken möchte, dort zusammen und wollen sich den Mann mal ansehen, der so nah dran war an Thomas über die Jahre. Denn wer Hennetmair gelesen hat, kann erst einmal nur von Thomas reden, Bernhard geht gar nicht, Thomas Bernhard gerade so.

Herr Hennetmair beginnt seine Lesung mit wunderbar österreichischem Hochdeutsch und professionellem Habitus, er zeigt uns einen der Ordner, in denen das alles gesammelt wurde, liest uns einige Briefe vor, die das Verhältnis der beiden aufs genaueste illustrieren - nach ein paar Minuten ist man drin in der Welt von Thomas und Karl, oder doch eher in der von Karl. Dann liest Herr Hennetmair aus dem Buch, dass wir alle lesen derzeit, und wir ärgern uns, dass wir schon so weit sind im Buch, denn diese Worte aus dem Mund des Verfassers zu hören, ist einmal mehr eine ganz andere Geschichte. Der Ohlsdorfer pieselt sich nach 30 Jahren noch in die nächste Ecke, er mag Thomas vor sich sehen, wie er dies und das erzählt, ihn und seine Familie zum Lachen bringt, und wir müssen natürlich mitlachen, denn lustig war der Thomas, und lustig ist der Karl. Es ist ein kleines Fest, auch noch die geringsten Verrichtungen und Tagesabschnittchen zu hören oder das Abendessen von der Suppe bis zum Dessert beschrieben zu bekommen - Herr Hennetmair feiert Thomas, sich und sein Buch, und wir feiern Herrn Hennetmair.

Dann gibt es ein Gespräch mit Herrn Hennetmair, und weil Herr Wirtz von der FAZ kurzfristig ausfällt, wird Herr Hoell das Gespräch führen, ein Germanist, ein Bernhard-Forscher, ein junger Mann. Der sitzt auf einem Stuhl, dann kommt ein Tischchen, und dann kommt Herr Hennetmair, der auf einer Chaiselongue sitzt oder besser kauert, denn Herr Hennetmair ist ziemlich klein, Herr Hoell sehr seit weg von ihm, und so dreht sich der Ohlsdorfer zur Seite, damit er Herrn Hoell da hinten überhaupt sehen kann - dass nicht beide auf der Chaiselongue sitzen, wird sich noch als SEHR gute Entscheidung beweisen.

Herr Hoell ist Germanist, und Herr Hoell eröffnet das Gespräch mit einer Germanisten-Frage, und Herr Hennetmair antwortet mit "Ja richtig," schweigt und grinst verschmitzt - Herr Hoell stellt noch eine Germanisten-Frage, und Herr Hennetmair ignoriert die Frage und fängt einfach an zu erzählen. Das ist auch in Ordnung, das Publikum amüsiert sich, wir erfahren etwas über die Arbeit an dem Tagebuch, die Schwierigkeiten der Veröffentlichung. Herr Hoell schweigt ziemlich lange, weil Herr Hennetmair ziemlich lange erzählt. Dann kommt die nächste Frage, zum Kennenlernen der beiden, wie war das denn damals, als Bernhard den Vierkanthof gekauft hat, und Herr Hennetmair erzählt uns bzw. Herrn Hoell auch das, arrogant sei der Thomas gewesen usw. Herrn Hennetmairs Rede bekommt einen unwirschen Unterton, als Herr Hoell noch ein, zwei weitere Fragen stellt. Fragen u.a. über ein Skandälchen zu Hennetmairs Buch, die Sache mit der Krämerin usw. Das ist ein Fehler, den Herr Hoell vielleicht hätte ahnen können - wenn der Ohlsdorfer zehn Füsse hätte, hätte Herr Hoell ihn zehnmal auf dem falschen erwischt, Herr Hennetmair redet sehr eindringlich, und jeder Einwurf von Herrn Hoell lässt Herrn Hennetmair in den folgenden zehn Minuten immer böser werden, das hört nicht mehr auf, das ist ein Skandal. Am Anfang geht es nur um Dichtung und Wahrheit, in der Mitte geht es um wissenschaftliche Recherche, und am Ende geht es nur noch um die Unzulänglichkeit von Herrn Hoell, ja plötzlich geht es bei Herrn Hennetmair um Herrn Hoells Buch und dessen Unzulänglichkeit.

Das Publikum windet sich - DIE Teile des Publikums immerhin, die das Ausmaß dieser Auseinandersetzung erahnen. Es scheint, dass der Ohlsdorfer eigentlich niemandem, auch nicht Herrn Hoell, eine Wahrheit über Herrn Thomas Bernhard zugesteht. Herr Hoell nimmts gelassen, die inzwischen programmatisch harschen Sätze Hennetmairs, in die Halle gestanzt und teilweise aus einem kleinen schwarzen Büchlein verlesen, werden von einzelnen Zuschauern frenetisch beklatscht - ich kann Ihnen nicht sagen, woran das erinnert, es ist eine Farce, man möchte aufstehen, man möchte Herrn Hoell helfen, man kann das alles nicht tun, weil man Kinderstube hat und Herr Hennetmair 80 Jahre alt ist.

Herr Hoell wird vorgeführt, ein bisschen beleidigt und als Germanist sowieso belächelt - er nimmts gelassen. Er möchte jetzt zu Thomas Bernhard zurückkehren, aber das ist auch wieder falsch, es ist aus dem Ruder, das Gespräch ist verhunzt. "Lassen Sie uns doch jetzt noch einen schönen Abschluss finden," schlägt Hennetmair vor, und Hoell grient gewinnend "Na dann machen Sie mal ein Angebot" - Fragen aus dem Publikum? "Trauen Sie sich nur," ermutigt uns Hennetmair, und was soll man denn da noch sagen. Aufhören soll es. Ein junger Mann, der stolz betont, kein Germanist zu sein, und dafür von Hennetmair und Teilen des Publikums sofort einen ungeheuren Sympathie-Vorschuss erntet, fragt nach dem Bruch zwischen Karl und Thomas. "DAS ist mal eine GUTE Frage," schwärmt Herr Hennetmair, und also hören wir das auch noch einmal.

Dann kommt ein Mit-Veranstalter auf die Bühne mit Blumen im Arm und flüstert Herrn Hoell was ins Ohr, Herr Hennetmair steht inzwischen und referiert in die Massen. Herr Hoell deutet an, dass man jetzt ja langsam... und es ist ja noch einiges zu erwarten... eine lange Nacht wird das ja, Filme usw. - und dann wird es richtig schlimm, dann schwingt sich Herr Hennetmair auf das Ross des Unverstandenen, schlägt Kapriolen schmerzhaften Märtyrertums und ramentert, dass das ja wohl mal wieder typisch ist, sobald unbequeme Fragen aus dem Publikum kämen, sobald unbequeme Meinungen geäußert würden, hieße es gleich, nun ist keine Zeit mehr, Schluss jetzt, so wie immer sei das, ungeheuer sei das. Alle stehen jetzt, irgendwie schafft es der rettende Dritte, seine Blumen loszuwerden, die beiden Gesprächspartner ab, der Dritte beugt sich ans Mikro und rettet ein bisschen von Herrn Hoell, relativiert schnell und sorgt dafür, das alles nicht mehr ganz so schlimm ist. Ja. Da es äußerst schwierig ist, älteren Mitbürgern an den Karren zu pinkeln, wenn man nicht als undankbarer, unwissender, jungspundischer WURM durchgehen möchte, stehe diese Wiedergabe für sich und sei hier nur noch darauf verwiesen, dass der Herr Hoell ja die Fragen, die ein leichtes, die Lesung fortsetzendes Gespräch ermöglicht hätten, vielleicht beim nächsten Mal stellt. Vielleicht wollte Herr Hoell das auch nicht, vielleicht wollte er kitzeln, provozieren, rauslocken. Nun, das ist ihm gelungen, und die paar Federn, die er dabei ließ, wollen wir aufsammeln und als Lesezeichen für Karl Ignaz Hennetmairs "Ein Jahr mit Thomas Bernhard" verwenden.

© POTZDAM 2001 - M. Gänsel