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"In Frankfurt
sind die Menschen VIEL freundlicher!"
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Von
M. Gänsel
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Der
DB-Regionalexpress 1 ist zurzeit immer schön voll, weil
die Leute zurecht versuchen, ganz ohne S-Bahn auszukommen. Willste
von B nach Potsdam, biste mitm Regio auch bestens versorgt,
gute Viertelstunde ab Zoo, doll.
Als ich
also zum Behufe der Rückfahrt nach B zusammen mit vierhundert
Radfahrern, zweihundert Fußtouristen und sechs Seniorengruppen
auf dem Potsdamer Bahnsteig des Zuges harre, laufe ich bei Eintreffen
desselben nach vorn vorn vorn, weil sich dort erfahrungsgemäß
am wenigsten Menschengewühle sammelt. So steige ich denn
erfreut und allein ein, wende mich nach links und sehe im Abteil
gleich vorn einen Vierer, in den nur eine Person sitzt. Die
Tür pendelt auf, ich sehe:
1 Frau,
mittelalt, die Nase recht tief in einem dicken Buch steckend,
am Fenster sitzend. Auf dem Sitz neben sich einen fetten kleinen
Rucksack. Ihre Beine hat sie nicht nur lang ausgestreckt, sondern
auf die Sitze gegenüber drapiert. Ja, beide: Das linke
Bein angewinkelt an der Fenstersitzkante, das rechte liegt locker
auf dem Gangplatz. Sie hat eine Hose an. Muss sie auch.
Ich frage:
Darf ich?
Ich deute auf den Gangplatz, möchte ja unser beider Beinfreiheit
auch in Zukunft nicht gefährden.
Sie schaut
kurz auf, reagiert aber weder verbal noch körperlich.
Ich lege
meine Tasche vorsichtig auf den Fensterplatz ihr gegenüber,
ihr Fuß bleibt in der Stellung.
Gut, lass
ichs drauf ankommen: Ich setze mich unter Anspannung der Oberschenkelmuskeln
langsam, aber bestimmt, zur Not eben auf ihren rechten Fuß.
Nee, mit einem kurzen Blick und Ruck wird das Gebein zurück
gezogen.
Ich suche
Blickkontakt, bekomme keinen. Ich zucke die Schultern, hole
meine Zeitung raus und lese.
Weil es
einen Gott gibt, kommen aber schon wenige Minuten nach Abfahrt
Menschen aus dem hinteren Teil des Zuges, die dort erwartungsgemäß
nicht fündig und also nach wie vor auf der Suche nach einem
Sitzplatz sind. Wie magnetische Flummis werden sie von freien
Plätzen angezogen, oft ist es nur einer. Paare agieren
wie im Film: Nimm du den da, ich versuchs hier!
Wir zwei
Drohnen in unserem Vierer bleiben lange verschont, doch dann
steht plötzlich ein älterer Mann an unserer Schwelle
und zeigt auf den kleinen fetten Rucksack meiner Mitfahrerin.
Sie
gestatten?
Keine Reaktion.
Er schaut
mich an.
Ich hebe die Augenbrauen.
Er, lauter:
Entschuldigung, könnte ich bitte... Dabei fasst
er den Rucksack an der Schlaufe oben.
Die Bewegung
in ihre Richtung nimmt sie trotz vertieftesten Lesens wahr.
(Bis dahin
dachte ich noch, sie KÖNNTE auch taub, stumm oder kirgisische
Steppenzaunreparateurin sein.)
Sie greift
nach dem Rucksack hält ihn fest und möfft:
Da
drüben ist doch auch noch was frei.
Und zeigt
auf meine Tasche, ihr gegenüber!
Der Mann
schaut entgeistert erst zu ihr, die bereits wieder liest.
Dann zu
mir. Ich atme hörbar ein, und während ich meine Tasche
und den Rest meiner Zeitung flugs auf meinen Schoß bugsiere,
meine Beine zur Seite nehme und ihn neben mich lasse (Danke
schön, sehr freundlich. - Bitte, sehr sehr
gerne.), schwappt eine Welle der Empörung bis unter
meinen Haaransatz.
Mein
Gott, sind Sie unhöflich, sage ich zu ihr.
Nichts.
NICHTS.
Nichts.
Die liest. Bzw. tut so. Die Hand noch immer auf ihrem fetten
kleinen Rucksack, die Nase im Buch. Mein Blick muss ihr körperliche
Qualen bereiten, aber sie strahlt eine derart festgezurrte Umsichselbstkümmerei
aus, dass ich passen muss. Ich könnte sie anschreien, die
tät nicht aufschaun.
Der Mann
neben mir nimmt mich leicht am Arm, damit ich ihn anschaue,
und schließt dann kurz die Augen, winkt mit der anderen
Hand ab. Wurscht, sagt das.
Ich lese
weiter Zeitung. Der Mann schaut aus dem Fenster. Sie musste
natürlich ihren linken Fuß auch vom Sitz nehmen und
hat jetzt viel weniger Beinfreiheit. Ich bin kurz davor, meine
Schuhe auszuziehen und die nackten Sommertagsquanten auf ihren
Rucksack zu packen, um ihr zu zeigen, wie viel PLATZ ich habe.
Ich lese
natürlich nicht weiter Zeitung, sondern echauffiere mich
gepflegt, d.h. innerlich.
Was für
eine Unverschämtheit!
Beim Aussteigen
projiziere ich gnadenlos. Als eine Truppe von Radfahrern mich,
die in der Tür unseres Abteils steht, ängstlich anschaut,
weil sie schon ahnen, dass sie NIE rauskommen, wenn ich und
die hinter mir Wartenden erst einmal losrammeln, beruhige ich
mit einem sonoren Ich lasse Sie vor, und ernte Dank,
Lächeln und Infos über deren Tagesausflug (Werder).
Als der
Zug hält, rufe ich nach hinten: Ich will auch raus,
aber wir lassen erst mal die Radfahrer vor! Von hinten
zustimmendes Gebrummel, dann einer: Alter geht vor Schönheit!
Alle
ich, die Radfahrer, die hinter mir kichern.
Rationaldiskurs
1:
Die Tasche auf den Sitz neben sich zu stellen ist durchaus Usus.
Ungeschriebenes Gesetz aber ist die sofortige Umbettung derselben
bei Anmeldung einer menschlichen Sitzoption. Ich habe schon
Leute beobachtet, die sich ungeachtet von der Belegung durch
eine Tasche ohne Vorwarnung setzten, die Tasche dabei halb oder
ganz unterm Hintern begrabend, was deren Besitzer zu sehr riskanten
Rettungsversuchen motivierte. Da wird dann beidseitig kurz geblafft,
und dann hat sichs.
Rationaldiskurs
2:
Das war ein ÄLTERER MANN, kein 15jähriger Bierflaschenflegel.
Der hat ganz höflich gefragt. Wie kommt die dazu, dem derart
zu begegnen? Den so abzukanzeln? Der war ja so erschrocken,
dass er gar nicht gewagt hat zu protestieren: Ich will
aber HIER sitzen. Die hatte was sehr aufgestaut wirkendes
Aggressives an sich, bei deren Ausbruch er nicht dabei sein
wollte. Aber was IST denn mit dem Respekt vor dem Alter? Woher
NIMMT die die Frechheit sich und ihren fetten kleinen Rucksack
für mehr / besser / im Recht stehender zu halten als einen
sich setzen wollenden 50-Jährigen?
Es ist ein
Elend.
Irrationaldiskurs
1:
Wann kapieren Menschen wie die denn endlich, dass wir wir WIR
es sind, die Gesellschaft, Leben, die Qualität der Öffentlichkeit
in diesem Land gestalten?! Die Masse ists, die breiiite Mitte
ists, die verantwortlich ist für das Wohl von Leib und
Leben. Wie wir mit Fremden, Bekannten umgehen, von den eigenen
Lebensmenschen gar nicht zu reden das macht uns aus,
daran misst sich ein entscheidender Wert bei der Qualität
unseres Daseins.
Irrationalsdiskurs
2:
War ein langer Tag gestern: Kurz vor zehn bei KAISER's an der
Kasse, vor mir ein Alki mit zwei Flachmännern, vor dem
eine Mittvierzigerin im Sommerkleid, deren Gesicht einen NOCH
längeren Tag vermuten lässt eher zwei, drei
Tage.
Dem Alki
fällt ein Flachmann runter, zerbricht aber nicht, sondern
landet etwas verzwickt zwischen Füßen und Korbrädern
des Sommerkleids. Sie schaut und beugt sich weg, gehen kann
sie nicht, gibt der Platz nicht her. Er wartet kurz, bückt
sich dann, muss sich hinhocken, wankt, angelt dann aber doch
erfolgreich die Flasche und erhebt sich. Mault: Da kann
man ja auch mal nett sein und die Flasche aufheben...
Sie, sofort
auf 150, 160: Warum sollte ICH Ihre Flasche aufheben?!
Ich, noch
immer projizierend, dass die Schwarte kracht:
Weil
es NETT ist, jemandem zu helfen.
Er: Genau.
Einfach nur nett sein, mann ey.
Q. e. d.
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Lehrter
Berlinhauptstadtbahnhof
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The Minority Report
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Von
Hans-Jürgen Schlicke
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Neunhundertachtundneunzig
von tausend Berlinern hat es einen Scheißdreck interessiert,
wie der neue Bahnhof hinterm Kanzleramt, das alle Berliner übrigens
verschmitzt schmunzelnd Waschmaschine nennen, benannt sein soll.
Bisher hieß er - seit 1885 wohl - Lehrter Stadtbahnhof,
was dem kleinen Nest Lehrte in der Nähe von Hannover eigentlich
nie wirklich geschadet hat. Zwei von tausend Berlinern hat es
interessiert, welchen Namen der Bahnhof tragen soll. Sie setzten
sich kämpferisch dafür ein, dass er weiter so heißen
möge wie bisher, Lehrter Stadtbahnhof eben.
Wir wissen ja in Berlin, was aus Zentralisierungen
bei Benennungen so wird: Der Hauptbahnhof hieß Hauptbahnhof
von der 750-Jahr-Feier bis zur Revolution 1989, dann wieder
Ostbahnhof. Dass der Flughafen Tempelhof in der Unterzeile eigentlich
auch noch Zentralflughafen heißt, weiß kein Schwein.
Dass Schönefeld mal Zentralflughafen hieß, wussten
die Westalliierten schnell wieder zu ändern. Wegen Tempelhof.
Aber niemand lernt daraus und man nennt den Lehrter Bahnhof
- der größte Kreuzungsbahnhof Europas übrigens
(wo sind eigentlich der zweit- und der drittgrößte
Kreuzungsbahnhof Europas?) - nun Hauptbahnhof. Das kommt davon,
wenn sich nur zwei von tausend für etwas interessieren!
Man soll auch nicht länger als einsdreißig über
dieses Thema nachdenken. Das ist vertane Zeit.
Länger als einsdreißig regte sich die
Berliner Abendschau des SFB-Fernsehens darüber auf und
holte sich auch noch gleich den Stadtentwicklungssenator Peter
Strieder (SPD) ins Studio, um ihm mal so richtig die Meinung
zu geigen. Der wiederum geigte zurück und meinte, es wäre
schon hilfreich, wenn ein Ausländer im Ausland am ausländischen
Bahnhofschalter sagen könne, wohin in Berlin er denn fahren
wolle mit der Eisenbahn. Und da wäre es schon gut, wenn
Berlin einen Hauptbahnhof habe.
Totschlag-Argument nennt man das. Weil doch die
Züge oft sowieso auch in Alexanderplatz, Charlottenburg,
Friedrichstraße, Ostbahnhof, Schönefeld, Spandau
oder Zoologischer Garten halten. Aber das weiß Strieder
nicht. Muss er auch nicht. Er soll seine wertvolle Zeit nicht
damit verschwenden, am Ticketschalter anzustehen. Das will ich
gar nicht. Das sollen seine Adepten machen und ihm dann erzählen,
wie so was funktioniert.
Ich fahre übrigens mit der S-Bahn jeden Tag
zwei Mal durch den Lehrter Stadtbahnhof und bin schon mal überhaupt
nicht hämisch gespannt, wie oft sich der gestresste Zugabfertiger
künftig verhaspeln wird: "Ähem hier Lehrter Berlinstadtbahnhof,
ach nee, Moment ... Berlin, Lehrter Hauptbahnhof, nee, ooch
nich, wartense ..."
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Ungezwungenes
Multikulti...
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...oder ob in Japan
ein Sack Reis umfällt
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|
Von
Markus Wicke
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Am
Potsdamer Hauptbahnhof steigen neben mir noch zwei Kinderwagen
in die Straßenbahn. Dazu gehören eine blässliche
Ex-Pionierleiterinnen-Erscheinung angetan mit einem "action®"*-farbenen
Top und einem Jugendmode®**-Jeans-Rock
sowie eine zierliche junge Japanerin, die statt des propren
Pionierleiterinnen-Nachwuchses nur einen ca. 10 Kilo schweren
Reissack in ihrem Wägelchen vorzuweisen hat.
Reissack hin oder her, das gemeinsame Ächzen
und Wuchten beim Transport der Gefährte in die Tram schweißt
zusammen; mit Ausländern reden ist eh schwer angesagt;
also beginnt die Potsdamer Mutti ganz ungezwungen ein Gespräch:
"Na, haben Sie auch ein Kind?"
"Ja!", antwortet die Japanerin höflich aber bestimmt.
"Aha, und wo sind Sie geboren?" will
die Blasse weiter wissen?
"Potsdam-Drewitz!", antwortet die nicht sehr sprachsichere
Japanerin knapp, wohl denkend, die Frage ziele auf Ihren Wohnort.
"We can call english!" ändert die
Mutti nun Ihre Gesprächstaktik, was Ihre ungewollte Gesprächspartnerin
schweigend mit einem freundlichen Lächeln quittiert.
"Is the rice typical japanese rice?"
versucht es die Pionierleiterin mit Verweis auf den Reissack
nun weiter. "Yes, for me and my friend!" Erneutes
Schweigen.
Doch nun setzt die politisch korrekte Phase der
Interviewerin ein: "And is it easy for you to live in Germany?"
Dass es ganz schlimm ist in Deutschland, die Landschaft zwar
schön, aber der viele Rechtsradikalismus; aber dass es
auch ganz viel nette Menschen gibt, so wie sie; all das will
die nette Pionierleiterin nun sicher hören, aber da kommt
die nächste Station der Japanerin ganz recht. Mit fast
entschuldigender Geste steigt sie aus und lässt die Pionierleiterin
nur halb glücklich zurück.
Neue Abwechslung bringt da nur das kleine gelbe
Fläschchen Sonnenmilch, welches rasch aus dem Kulturbeutel
gezogen wird. Ein fetter Flaatz der milchigen Flüssigkeit
wird auf den Fingerchen verteilt und flugs überall hin
verteilt: Arme, Beine, Füße, zwischen den Zehen.
Und wo der Rock stört, wird er schnell ein wenig gelupft
und weitergeschmiert.
Ganz ungezwungen.
*action ®
- in der DDR schwer angesagte Jugendkosmetikserie mit pinkfarbenem
Etikett
**Jugendmode
® - DDR-Verkaufseinrichtung für jugendliche "Mode"
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Halt - Stellen Sie
sich wo anders hin!
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Von
P. Brückner
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Es gibt Orte auf
dieser Welt, an denen das Rätselhafte greifbar in der Luft
liegt. Die Pyramiden, die großen Kathedralen, das neue
Bundeskanzleramt. Der Betrachter staunt und fragt: "Wie
haben die das wohl gemacht?" Und: "Wie funktioniert
das?" Es sind nicht nur berühmte Bauwerke der Welt,
die uns diese Fragen aufdrängen. Auch kleine, nebensächlich
wirkende Orte können uns zum Staunen, Wundern und sogar
zum Mitmachen animieren.
In Potsdam nennt man diese Orte Straßenbahnhaltestellen.
Nun sieht man einer profanen Haltestelle nicht sofort an, dass
sie einen Raum materialisiert, der Mystik und Magie Gestalt
werden lässt. Viele Haltestellenbesucher werden jetzt ein
wenig befremdet den Kopf schütteln. Doch greifen wir uns
einfach eine Haltestelle heraus, die am Hauptbahnhof scheint
geeignet.
Bei Tag ist sie einfach ein Drehkreuz
zwischen Bahnhof und Potsdam, doch nach Einbruch der Nacht wird
sie zum Zentrum rätselhafter Geschehnisse und Ritualen,
die einst in keltischen Steinkreisen stattfanden, nicht unähnlich.
Es geht um die Vorhersage der Zukunft: Wie wird das Wetter?
Werden wir den Krieg gewinnen? Oder eben: Wo wird die Straßenbahn
halten?
Sie kennen das: Sie verlassen den
Bahnhof gegen 23.12 Uhr, stellen fest, dass die nächste
Bahn den Haltepunkt in 4 Minuten erreichen wird und wandern
gemütlich die 20 Meter Weg bis zur Haltestelle. Sie stellen
sich ganz nach vorn, denn Sie wissen, nachts hat die Bahn nur
einen Wagen. Sie sehen die Bahn um die Ecke biegen - und wie
sie 10 Meter von Ihnen entfernt zu stehen kommt. Nun laufen
Sie die 10 Meter, die Sie vorher gemütlich geschlendert
sind, zurück, um die Bahn besteigen zu können. Sie
sind ärgerlich, aber Sie lernen aus diesem Vorfall. Beim
nächsten mal sparen Sie sich einfach 10 Meter des Weges.
Leider müssen Sie DANN erleben, wie die Bahn mit hohem
Tempo an Ihnen vorbei rauscht, um 10 Meter vor Ihnen just an
jener Stelle zum Stehen zu kommen, an der Sie das letzte Mal
warteten.
Was bleibt, ist die brennende Frage,
an welcher Stelle die Bahn nun halten wird. Eine Vorhersage
scheint unsicher wie der Wetterbericht, nur statistisch signifikantes
Material hilft weiter. Also hat PotZdam keine Mühen gescheut,
um im Selbstversuch an diese Daten zu gelangen.
Dabei sind wir zu sensationellen
Ergebnissen gelangt. Nachdem unsere Versuchsperson an mehreren
aufeinanderfolgenden Tagen eine Straßenbahn nach der anderen
an sich vorbeifahren oder weit vor sich halten sah, half uns
der Zufall weiter. Zwei weitere Fahrgäste, welche nicht
zur Experimentanordnung gehörten, gesellten sich an der
Haltestelle zu unserem Probanden. Sie ließen sich auch
durch den leidenschaftlichen Appell unsererseits nicht von ihrem
Vorhaben, Straßenbahn zu fahren, abbringen. Allerdings
ließ die Argumentation unseres Testers ihn in den Augen
der Beiden wohl ein wenig verdächtig erscheinen, worauf
sie von ihm abrückten. So warteten die Zwei am oberen Ende
der Haltestelle, wogegen unsere Testperson am unteren wartete.
Prompt hielt die Bahn direkt vor unserem allein wartenden Lockvogel.
Es war also zwangsläufig anzunehmen,
dass die quantitative Verteilung der Wartenden an der Haltestelle
Einfluss auf das Bremsverhalten der Straßenbahn nimmt.
Und siehe da: Nachfolgende Tests ergaben die Richtigkeit unserer
Vermutung.
Scheinbar ist in Potsdamer Straßenbahnen
ein Sensor integriert, der, um für die Sicherheit der Fahrgäste
zu sorgen, die Bahn nie unmittelbar vor Ihnen zum Stehen bringt.
So können Verletzungen durch Überrollen verhindert
werden. Die Bahn entscheidet sich im Zweifelsfall eben für
die kleinere Anzahl potentieller Opfer.
Bei unseren Tests konnten wir nicht
umhin festzustellen, dass dieses geheimnisvolle Gerät erstens
an der Haltestelle selbst und nicht an der Bahn angebracht sein
muss, denn beschriebenes Verhalten ist nur an ausgewählten
Haltepunkten zu beobachten. Zweitens scheint die Feinjustierung
nicht so genau zu sein, wie man sich wünschen sollte.
Das Gerät ist nicht in der Lage,
zwei Gruppen, die jeweils mehr als fünf Wartende umfasst,
genau zu bestimmen, so dass das Halten hier wortwörtlich
zum Glücksspiel wird.
An diesem Punkt schienen unsere Ermittlungen
in eine Sackgasse zu führen. Zwar konnten wir jetzt mit
einer relativ großen Sicherheit bestimmen, wo die Bahn
halten würde, doch die Nutzanwendung hielt sich in Grenzen.
Sie würde immer genau dort halten, wo man gerade nicht
stand.
Wir veranstalteten weitere Versuche,
doch die verliefen katastrophal. Als sich unser Proband an der
Haltestelle versteckte, führte dies dazu, dass die Bahn
gar nicht hielt und er die nächste Bahn nehmen musste.
Als wir - voller List - zwei Personen an den beiden voneinander
am weitesten entfernten Punkten des Haltestellenbereichs platzierten,
kehrte die Bahn kurz vor der Haltestelleneinfahrt einfach um.
Auch fuhren an diesem Tag, trotz mehrstündigem Wartens,
keine Bahnen mehr diese Haltestelle an, und unsere Tester mussten
zu Fuß nach Hause gehen. Wir standen kurz vor dem Abbruch
des Experiments, zumal erste Opfer zu beklagen waren. Eine Testperson,
felsenfest gewillt, die Bahn nicht erst vor der kleineren Gruppe,
sondern sofort zum Halten zu bewegen, warf sich auf die Gleise.
Leider muss man dieser Versuchanordnung völliges Scheitern
attestieren - die Bahn hielt da, wo es zu erwarten gewesen war
und der Rest der Gruppe kam um den Lauf zur Bahn nicht herum.
Wieder war es ein Zufall, der die
verfahrene (sic!) Situation doch zu einem guten Ende führte.
Bei einem der unzähligen Versuchswarten beobachtete einer
unserer Straßenbahnkandidaten, wie nebenan zwei Maskierte
daran gingen einer alten Dame die Handtasche mit Gewalt zu entreißen.
Gerade wollte er eingreifen, als pünktlich die Straßenbahn
nahte und, ihm in Handgriffweite den Türöffner präsentierend,
hielt.
Alles um sich herum vergessend, bestieg
er die Bahn. Mit der Gewissheit, das Problem gelöst zu
haben, fuhr er davon.
Tragen Sie in Zukunft also immer
zwei bis drei Straßenbahndummys bei sich und platzieren
Sie diese genau dort, wo Sie NICHT warten werden. Die Ergebnisse
werden Sie verblüffen. Sollte Ihnen diese Methode als zu
anstrengend oder kostenintensiv erscheinen, erzielen Sie ähnlich
gute Ergebnisse, in dem Sie Passanten, welche NICHT die Absicht
haben, die Bahn zu benutzen, spontan fragen, ob sie nicht mit
Ihnen auf die Bahn warten möchten.
Nun, nachdem Sie wissen, wie es geht,
fragen Sie sicherlich: "Funktioniert das auch bei S-Bahnen?
Regional-Expressen?" Wir wissen es nicht, aber ein Versuch
dürfte sich in jedem Fall lohnen.
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Von
M. Gänsel
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Nach einem alle sozialen Sinne fordernden
Arbeitstag war K. nun verdientermaßen auf dem Weg nach
Haus, stand in Vorfreude auf Frau und Kind lächelnd am
Bahnsteig und erwartete den Vorortzug. Die Abendsonne schmeichelte
dem abgetragenen Anzug und der ganzen abgearbeiteten Person
- ja selbst die Aktentasche zu seinen Füßen schien
weicher, harmloser und weniger kantig. K. rauchte, denn im Bureau
war das Rauchen seit Anfang des Jahres nur in einer Kammer gestattet,
die vorab als Aufbewahrungsort für Schuldner-Akten diente
und entsprechend roch.
Plötzlich stand, sich mit einer überraschenden Bewegung
von hinten um ihn herum schraubend, eine Uniformierte vor ihm.
K. sah ihr ins viel zu nahe Gesicht, sie war etwas größer
als er, fülliger auch. Sie schaute nach unten, K. errötete
und senkte ebenfalls den Blick. Sie hielt ein kleines Ding in
der Hand, orange-farben. Ihre Hand berührte fast seinen
Anzugstoff; K. begann leicht zu schwitzen. Er hob den Blick,
und jetzt sah sie ihn auch an.
"Ick möschte Sie bittn die ßigarette hier rein
ßu machen."
K. verbeugte sich leicht, lächelte noch immer, schließlich
freute er sich noch immer auf Frau und Kind. "Wie bitte?"
Die Uniformierte hielt das kleine orange-farbene Ding jetzt
nah vor sein Gesicht. Er erkannte das Zeichen der Bahngesellschaft
und eine Zigarette, durchgestrichen. Er nahm all seinen Mut
zusammen und ihr das Ding aus der Hand. Sie ließ ihn gewähren,
beobachtet jede seiner Bewegungen. Sie war auf der Hut, das
spürte K. Was wollte sie? Er hielt das Ding nun in der
Linken, zog seine Rechte vorsichtig zwischen sich und der Uniformierten
dazu und stieß die Zigarette leicht hinein, Asche fiel
ab. Fragend sah er zu ihr hinauf.
"Wenn Sie sisch weigern die ßigarette im dafür
vorgesehenen Raucherareal ßu rauchen mussick Sie bitten
die ßigarette hier drinne ausßumachen.
"Ein Raucherareal? Wo ist das?" K. war ganz ruhig,
obgleich der ihm entgegengebrachte Ton fordernd und drohend
war. Es schien, als sei die Uniformierte auf Widerworte eingestellt
und gleichsam drei Schritte zu weit in der Unterhaltung. K.
wollte nicht widersprechen, er wollte verstehen. Sie hob den
linken Arm in eine Richtung und nickte mehrmals zuckend mit
dem Kopf. K. bückte sich, nahm seine Aktentasche auf, hielt
noch immer die Zigarette und das Ding in den Händen. Er
drehte sich der von ihr geforderten Richtung zu und bot ihr
den Arm. Sie wich einen Schritt zurück, setzte sich aber
wie er in Bewegung.
Ein paar Meter entfernt erkannte K. eine schmale, hüfthohe
Stahlsäule, deren oberes Ende, nach innen gestülpt,
wohl einen Aschenbecher darstellte. Also darum war es ihr gegangen!
Er teilte ihr sein Verstehen mit, sie nickte barsch.
"Das Rauchen auf den Bahnsteigen is nur noch an den dafür
vorgesehenen Raucherareals gestattet. Zuwiderhandlungen..."
- "Aber ich habe doch nicht zuwider gehandelt!", rief
K. Sie blickte ihm ins Gesicht, als sähe sie ihn gar nicht.
Ihr Kopf war leicht nach hinten geneigt, als wäre er größer
und nicht sie. Dadurch betrachtete sie ihn doppelt von oben
herab, ihr Kinn verdreifachte und ihre Augen mühten sich,
die Sicht so gut wie irgend möglich über die gewölbten
Wangen zu retten. K. hatte die Aktentasche wieder abgestellt,
hielt die Zigarette über die Stahlsäule und lächelte
noch immer.
"Sie sind einsichtig!" Ihr Ton war unverändert,
er vermeinte immer das Falsche zu hören. Sie sagte das
ja, als hätte er sich geweigert! In K. wuchs das Verlangen
ihr ein Lächeln zu entlocken. So ein schöner Abend,
so weich das Licht, so klein das Problem! Er nickte ihr aufmunternd
zu und begann wortreich sein Verständnis zu artikulieren.
Er wisse ja um die Verunreinigungen durch Zigarettenreste, er
ahne ja die Motivation für diese Entscheidung, und die
Kosten!
"Sie sind einsichtig!", murmelte die Uniformierte
ein zweites Mal. K. redete einfach weiter in ihr Gesicht hinein,
der Kopf war nicht mehr nach hinten geneigt, die Augen schienen
ihn langsam wahrzunehmen. Ihre Wangen waren im Abendlicht dunkel-orange
und passten farblich perfekt zu dem Behelf-Aschenbecher, den
er noch immer in der Hand hielt. "Darf ich den behalten?"
Jetzt begann sie zu reden. Ganz unvermittelt sprudelte es aus
ihr heraus, es hörte sich nach einem Aktenvermerk an, sie
hatte sicher ihre Vorschriften, K. kannte sich da aus. Es sei
eben nur ein Arbeiter, der in der Nacht alle drei Bahnsteige
zu säubern hätte. Sie hätten nur diesen einen!
Und die Gleise, Tabak zersetze, das sei Gift! Wenn Sie sich
einen Raucher vorstelle, der rauche ja wo er stehe und gehe!
Und damit sei Schluss! Deswegen die Säule, ganz neu sei
das.
"Wird das hier in Potsdam getestet?" - "Nee,
Pilot war Bonn." Es schien ihr nicht wenig auszumachen,
dass es die ferne Stadt und nicht ihr Bahnhof war, der die Neuigkeit
als erste umsetzen durfte. Auch diese Frustration kannte K.,
er stand jetzt leicht nach vorn gebeugt, die Zigarette war längst
im Stahlbauch verschwunden, das Abendlicht der nahenden Dunkelheit
gewichen. Sein Zug fuhr ein. Er hielt das kleine Ding nach oben.
"Darf ich das behalten?"
"Des jefällt Ihnen, wa? Ja ick find die och janz knuffig!"
Er stand auf dem Abtritt und winkte ihr. Sie war ganz geschäftig
und hatte keinen Blick für ihn. K. drehte sich gerade herum
und wollte die letzte Treppe nehmen, da rief sie ihm nach: "Erzählenses
rum! Aber positiv!" K. nickte, er lächelte nun nicht
mehr. Er verstand sie, er verstand sie ja so sehr. Aber was
war mit den anderen? K. wurde traurig, als er an die Zukunft
dachte, an die vielen Uneinsichtigen, Zuwiderhandelnden, die
der Uniformierten das Leben schwer machen würden. Die Arme!
Sie hatte bis zum Ende nicht gelächelt. Einen Anflug von
Heiterkeit glaubte er wahrzunehmen, als er sie, leicht amüsiert,
fragte, was denn nun geschähe, wenn er nicht "einsichtig"
wäre. Da hatte sie fast gelächelt und den Kopf nach
wieder nach hinten geneigt: "Zwanzig Euro!", triumphierte
sie in sein staunendes Gesicht.
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Von
Mathias Deinert
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Seit dem grandiosen
Fahrplanwechsel des Jubeljahres 2003 fährt die Linie 696
nicht mehr vom S-Bhf Griebnitzsee zum Stern-Center und zurück,
sondern fährt einen Ring um das Filmparkgelände. Gut
und schön. Wenngleich kaum mehr Leute diese Linie benutzen:
Fahren doch jene, für die der Medienring-Bus gedacht ist,
sowieso alle Auto. Wie dem auch sei. Ich frug mich, wieso der
Bus laut Fahrplan ganze 10 Minuten brauchen soll für eine
Strecke, die er eigentlich in 4 Minuten fährt.
Seit ich nun jeden Morgen diese leere Linie nutze,
weiß ich, wo die Zeit bleibt.
Zum einen gibt es Touristen mit eigentümlichen
Fragen: "Fahren Sie zum Bahnhof?" - "Weiß
ich ja nicht, von welchem Bahnhof Sie sprechen!" Und Recht
hat er, der Mann im grünen Hemd. "Na, zum Bahnhof.
Zum Potsdamer Bahnhof." Der Fahrer indes bleibt stur: "Wir
haben hier fünf, sechs Bahnhöfe. Weiß ich ja
nicht, von welchem Bahnhof Sie sprechen." Verdutzte Blicke
hinter dunklen Gläsern. "Fahren Sie denn nun zum Bahnhof?
Wir wollen zurück nach Berlin." Aber der Mann hinterm
Buslenker beharrt: "Ich weiß nicht, von welchem Bahnhof
Sie sprechen!" schließt alle Türen und braust
weiter.
Das nächste Hindernis können Schulklassen
oder kleinere Familiengruppen bilden, die das Schild "Nach
70 Metern rechts!" nicht deuten können und verzweifelt
den Eingang zum Filmgelände suchen - vorzugsweise auf der
Fahrbahn des Busses 696.
Wenn er sich endlich auf der Straße befindet,
die kaum Platz für EIN größeres Auto bietet,
aber an der Filmhochschule vorbeiführt, versperren ihm
andere Hindernisse die Durchfahrt: Lieferwagen zum Beispiel,
deren Fahrer sich in irgendeinem der umliegenden Gebäude
befinden statt im Führerhaus. Manchmal sind es auch einfach
in der zweiten Reihe parkende Privatautos - der Leute, für
welche der neue Bus gedacht ist.
Unter hundert Flüchen müssen Busfahrer
der Linie 696 dann aussteigen, den Millimeter-Spielraum zwischen
zwei Kotflügeln schätzen und sich wohl oder übel
am Straßenparker vorbei zwängen. Das mehrmalige plötzliche
Bremsen wegen Filmstudenten, die unvermittelt über die
Straße laufen oder skäten, weil sie dem stotternden
Bus keine Geschwindigkeit mehr zugestehen, erwähne ich
gar nicht!
Hat der Bus am ORB seine Adrenalinfahrt fast überstanden
und steht in der Warteschlange zur Hauptstraße, kann es
passieren, dass ein Auto vor ihm den ersten Gang mit dem Rückwärtsgang
vertauscht und aufs Gas drückt. Busfahrer der Linie 696
beweisen nach solchen Augenblicken eine ungeheure Menschenfreund-
und Sachlichkeit.
Ist es angesichts all dieser Missstände verwunderlich,
wenn ViP ganze Busstrecken wegkürzt, weil dessen Fahrer
dem Irrsinn verfallen?
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|
Von
Hans-Jürgen Schlicke
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Ich schreib' das
gleich zu Beginn, sonst vergess' ich's bloß wieder: Die
Österreicher haben bei allen Problemen, die man sich mit
ihnen machen kann, etwas sehr Angenehmes. Sie ziehen so eine
Art Weichzeichner über unsere gemeinsame deutsche Sprache.
Stimmt doch? Oder kann sich wer vorstellen, dass die sich vor
ihr Schloss in Wien hinstellen und "Revoluzzion!"
brüllen? Das wäre denen viel zu laut, zu harsch und
zu endgültig. Wenn überhaupt, ließen die sich
vermutlich zu einem "Könnten'S bittschön zurücktreten?"
hinreißen, aber schriftlich übergeben von einer kleinen,
handverlesenen Delegation, der mindestens ein Geheim- sowie
ein Legationsrat, selbstverständlich ein Magister, dann
noch ein Ingenieur und eine Frau Professor und ein Herr Installateur
angehören müssten. An diese positive Seite der Österreicher
musste ich immer denken, wenn ich früher diesen österreichisch,
grünen, liberalen Moderator in einer dieser norddeutschen
Fernsehtalkshows bewunderte. Der mit den buschigen Augenbrauen,
die er immer so schön provokant heben konnte. Was seinerseits
übrigens der Gipfel der Provokation in diesen Talkshows
war. Dieser feingeistige Mensch sagte gern "Im Grund' genommen"
an Stellen, wo andere profan "prinzipiell" oder "grundsätzlich"
dahinblafften. Das gefiel mir. Und da das in meiner Entwicklung
so etwas meilensteiniges hat, weise ich hier in aller Form darauf
hin, dass ebenjener Moderator quasi das Copyright auf "Im
Grund' genommen" hat. Zumindest in diesem Text.
Mein lieber Sohn hatte, vor allem zu Beginn des
dritten Drittels seiner Pubertät, eine sehr kreative Phase
im Hinblick auf die, ja doch, Verschönerung der vielen
monochromen Flächen im Stadtalltag. Was dazu führte,
dass er nicht nur nächtens viel unterwegs war. Nein auch
tagsüber. Denn nächtens hatten die einschlägigen
Farbengeschäfte nicht geöffnet, was übrigens
beim genaueren Hindenken eine ziemliche Nachlässigkeit
im Marketingkonzept dieser Läden zu sein scheint. Die Hauptgeschäftstätigkeit
der Klientel findet nun mal nicht tagsüber statt. Aber
nicht nur in den zur falschen Zeit geöffneten Farbengeschäften
war er unterwegs, sondern natürlich auch in solchen, die
die Arbeitskleidung und das Drumherum dieser Subkultur unter
die Leute bringen. Von der irgendwo zwischen den Knien baumelnden
viel zu weiten Jeans, die seltsamerweise aber immer die richtige
Größe hatte, über das Kapuzenshirt bis hin zur
Tarnjacke und zum Basecap. Und so ein Basecap ist ja wie früher
im demokratischen Sektor das Parteiabzeichen, sag ich mal. Kommen
aber auch aus der Mode, die Basecaps. Bei meinem lieben Sohn
war's damit am Ende des dritten Drittels der Pubertät soweit,
und ich setzte mir das Ding mal auf. Der Schirm des Basecaps
macht, dass ich in einem Format in die Gegend schaue, das dem
des Breitwandformates im Kino oder dem des sechszehn-zu-neun-Formates
im Fernsehen nahe kommt.
Wenn ich öffentlich fahre, benutze ich fast
immer die S-Bahn. Und ich sitze in der S-Bahn immer gern da,
wo einerseits rüpelhafte StudentInnen ihre verdreckten
Fahrräder an die Haltetangen lehnen und stinkende Döner
verzehren, drei Plätze belegen und dann noch grimmig blinzeln,
wenn du dich auf dem übernächsten Platz neben ihnen
niederlassen willst. Wo man aber andererseits die Beine wunderbar
ausstrecken kann. Wenn es voll wird, so ab Ostkreuz, muss man
zwar die Beine wieder einziehen. Aber dafür geschieht etwas
anderes wunderbares. Das Breitwandformat wird mehr und mehr
gefüllt mit Schrittansichten. Die Leute stehen ja dann
kaum mehr als einen halben Meter von dir entfernt. Die Oberkante
des Breitwandformates ist ungefähr - ein wenig abhängig
von der Körperhöhe der vor einem parkenden Person
- die gedachte Linie der Brustwarzen. Die Unterkante verläuft
etwa in der Höhe der Knöchel. Um die Schuhe zu sehen,
muss man den Kopf also schon leicht senken. Nach oben schauen
findet kaum statt, nur zur Vergewisserung, dass der aus der
Schrittansicht gewonnene Eindruck nicht trügt.
In diesem Blickbereich spielen sich die unglaublichsten
Dinge ab. Unglaublich deswegen, weil die AkteurInnen zu vergessen
scheinen, dass sie sich in einer Öffentlichkeit befinden,
die öffentlicher kaum sein kann und ja zudem auch noch
so heißt. Da stehen Kerle vor dir, die rücken, schieben
und rappeln ihre Dinge per Hand durch die Gegend, dass es nur
so eine Art hat. Spielen selbstvergessen ganze Klaviersonaten
rauf und runter, was - natürlich - DAZU führen muss.
Mädels, ein Wort, das den Zensor nur selten passiert, Mädels
hingegen haben die Hände übrigens nie da. Mädels
stehen fast nie mit durchgedrückten Knien sondern fast
immer mit einem leicht eingeknickten, an das andere Bein angelehnten
Bein da. Mädels haben auch prinzipiell zwei Auffassungen,
wie eine Hose im Schritt aussehen sollte. Die übergroße
Mehrheit meint offenbar, dass es dort auf die Details nicht
so sehr ankommt, während es ja an anderen Körperpartien
oft nicht anliegend genug sein kann ... Die Minderheit zeigt
auch dort, was sie hat. Ich trau mich noch nicht, das zu moralisieren,
aber die Frage drängt sich schon irgendwie auf, stimmt's?
Und: Mädels machen Bewegungen beim Stehen in der S-Bahn.
Bewegungen mit den Knien, die in den Hüften ausklingen
und die ziemlich deutlich sanften Genuss vermuten lassen, so
zurückhaltend aber anhaltend wie sie ablaufen. Wenn ich
mich reinhöre in die Bewegungen, ist es meistens 'n Wienerwalzer.
Mitten in der Berliner S-Bahn. Und das ist doch im Grund' genommen
zauberhaft. Nicht wahr?
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Was
ich nicht mehr sehen will
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Heute: Im Öffentlichen
Nahverkehr
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|
Von
Siobhan Groitl
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Auf dem Weg zum
Bus/ zur S-Bahn/U-Bahn/ Tram
Was ich sehen will
Blumen, Meer und Wolken
Was ich nicht sehen will
Titten.
Ärsche.
Eier.
FamiliDeutschland Poster.
Im Bus/ in der S-Bahn/U-Bahn/ Tram
Was ich sehen will
Freundliche Menschen, die unaufgefordert nach hinten durchrutschen.
Was ich nicht sehen will
Verschwiemelte Säcke, die jungen Mädels mit Kopftuch
auf den Busen starren.
Was ich sehen will
Fahrer, die erst dann anfahren, wenn sich das zittrige Mütterlein
tatsächlich hingesetzt hat.
Was ich nicht sehen will
Das zittrige Mütterlein, das sich schon Lichtjahre vor
ihrer Haltestelle auf den unendlich langen Weg zur Tür
macht, um mit Tüte und Parkinson den Ausstieg zu blockieren.
Was ich sehen will
Sozialkompetente Großstadtbewohner, die - wenn draußen-
zur Seite treten um rauszulassen und - wenn drinnen - schnell
auszusteigen.
Was ich nicht sehen will
Frauen mit Zwillingskinderwagen und Wocheneinkauf zum Faustkampf
bereit, um den autistischen Stiesel am Einstieg zur Seite zu
drängen.
Was ich sehen will
Wie der Bus grade kommt.
Was ich nicht sehen will
Wie der Bus grade abfährt.
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Urlaub im Nachtreisezug
der DB
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Von
P. Brückner
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Will man in die
Ferien, muss man erst einmal hinkommen. Auto, Flieger, Schiff
oder Zug, all dies sind zu überdenkende Alternativen, wenn
es um eine Reise geht. Will man vielleicht ins europäische
Ausland, kann der Zug eine echte Alternative sein. "Mehr
als 2.000 Verbindungen führen direkt in die beliebtesten
Ferienziele Europas." (Werbeanzeige der DB) Das wäre
wunderbar, wenn man sie auch jederzeit buchen könnte.
Will man jedoch über den Jahreswechsel etwa
nach London und hat diesen Entschluss schon im Juli gefasst,
bleibt einem ab da nur übrig, jede Woche mindestens einmal
am Fahrkartenschalter anzufragen, ob die Zugtickets schon erhältlich
wären. So um den 15. Dezember herum wird man dann erfahren,
dass es nun möglich sei, Fahrkarten zu erstehen - jedenfalls
theoretisch. Praktisch ist der ins Auge gefasste Zug schon überbucht.
Dafür kann man die Bahn jedoch nicht unbedingt verantwortlich
machen, denn England ist weit entfernt, Nachrichtenübermittlung
somit schwierig und überdies scheint die britische Bahn
ihre Fahrpläne als geheime Verschlusssache zu behandeln.
Das ist auch das offizielle Statement der Bahn: An allen ist
nur der Tommy schuld!
Hat man jetzt nicht das Glück auf eine der
wenigen kundenorientierten Servicemitarbeiter der Bahn zu treffen,
kann man gleich bei Air Berlin oder Britisch Airways anrufen
und versuchen wenigstens noch einen Flug zu erhaschen. Mit den
Fahrkarten (selbstständig und umsichtig gebucht von einer
durch die wöchentlichen Besuche im letzten halben Jahr
sehr vertrauten Bahn-Mitarbeiterin), mit den Fahrkarten beginnt
das eigentliche Abenteuer. Mit wem wird man ein Abteil teilen,
wie werden die Bahnhöfe heißen, auf denen man mitten
in der Nacht hält, werden die Sitze im Speisewagen aus
blauem oder roten Samt sein? Gespannte Erwartung und ein Hauch
von Orient Express machen die Urlaubsvorfreude perfekt. Außerdem
kommt man "ausgeschlafen in und aus den Ferien. So eine
Reise im Nachtzug ist ideal für eine Familie mit kleinen
Kindern." (Werbeanzeige DB) Vielleicht hat man ja keinen
Nachwuchs, aber was für Kinder recht ist, kann bekanntlich
für Erwachsene nur billig sein.
Leider irrt sich der Kinderlose hier und das wird
ihm spätestens bewusst, wenn er seine Abteiltür öffnet
und ihm ein Brodem entgegenschlägt, der alles Mögliche
enthält, nur keinen atembaren Sauerstoff. Überall
sind Menschen und Koffer. Vier Erwachsene und ebenso viele Kinder
drängen sich in dem Abteil, das eigentlich für sechs
Menschen konzipiert wurde.
Nach 10minütigem Starren auf die Fahrkarte und die aufgedruckten
fest reservierten Plätze ist es Gewissheit - man ist im
richtigen Wagen und steht exakt vor dem gebuchten Abteil. Der
Haken dabei: Da Kinder der Deutschen Bahn gerade in Nachtzügen
so wichtig sind, fahren sie bis zum 6. Lebensjahr kostenlos,
damit aber auch gänzlich unregistriert. Es hat alles seine
Richtigkeit im Zug. Nur das Abteil ist voll.
Kein Problem, denkt man vielleicht. Man braucht
ja nur zwei andere Sitzplätze. Damit beginnt ein "Vergnügen,
das selbst die Hin- und Rückreise zu einem unvergesslichen
Erlebnis macht." (Werbeanzeige DB)
Denn die Zugbegleiterin ist verständnisvoll
und begibt sich sofort auf die Suche nach einem Abteil mit Platz,
der den erhofften Raum für Bahnromantik und Schlafheischende
bietet. Leider ist sie jedoch für den falschen Teil des
Zuges verantwortlich. In Dortmund wird der Zug nämlich
auseinander gekoppelt und auf getrennten Wegen weiter in die
Welt hinausfahren, und natürlich will man gerade dort,
wohin das Stück der netten Begleiterin fährt, nicht
hin. Doch auch die richtige Hälfte wird ja einen Schaffner
haben. Hat sie auch, er könnte Herr Thiersching heißen.
Das allein wird nicht helfen.
Man könne sich doch auf den Platz, den man
reserviert habe setzen, er könne aber auch gerne das Dach
aufschließen auf das man dort Platz nähme, denn er
habe keinen. Sitzt da, trinkt seinen Kaffee und starrt böse
auf den Störfaktor Fahrgast. Der Zug sei eben zu voll.
Das liege an der Deutschen Bahn, er könne dagegen nichts
machen! Kaffe schlürfen, anstieren.
Den Einwand, den man nun bringt, er, der Schaffner,
repräsentiere gerade die Deutsche Bahn, pariert er mit
der zynische Bemerkung, ob man denn wolle, dass er nun die Kinder
auf den kalten Gang werfe. Natürlich will man das nicht,
denn schließlich "findet der Nachwuchs hier Freiraum,
den er im Auto vermisst." (Werbeanzeige DB) Doch ebenso
wenig will man die nächsten 10 Stunden selbst auf besagtem,
fast frostig zu nennenden Gang herumstehen. Immerhin ist es
Dezember. Auto wäre jetzt hervorragend und man könnte
sogar sitzen.
Er werde jedenfalls nichts unternehmen und so
einem dies gegen den Strich sei, könne man sich ja bei
der Bahn beschweren, er habe mit dem ganzen Laden hier eigentlich,
die Bahneruniform mal abgesehen, nichts am Hut bzw. an der Mütze.
Dem "unvergesslichen Erlebnis" (Werbeanzeige
DB) kann man nun nicht mehr entgehen. Offen ist noch, ob es
sich als schwerer grippaler Infekt, lokale Erfrierungen 2. bis
3. Grades oder nur als schwere Entzündung der Hämorriden
im Gedächtnis halten wird. Dem Gang ist nicht zu entkommen,
denn natürlich ist der Speisewagen völlig überfüllt
und auch noch im falschen Teil des Zuges. Man verflucht die
Phobie, die vielleicht von der Benutzung des Flugzeuges abhielt.
Dort würde man wenigstens schnell sterben und nicht seine
Beine dabei beobachten können, wie sie langsam immer gefühlloser
werden, bis der Drang sich auf den eisigen Boden zu setzen übermächtig
wird, obwohl man weiß, dass dies nur mit einer Lungenentzündung
enden kann.
"Die meiste Zeit werden sie sowieso verschlafen
und noch lange von dieser Traumreise schwärmen." (Werbeanzeige
DB) Ist es noch Schlaf oder schon Koma, in dem man sich befindet?
Seltsame Träume geistern quälend durch den schon leicht
fiebergeschüttelten Körper - da steht eben dieser
Schaffner vor einem und verlangt die Fahrkarte zu sehen. Diese
jedoch steckt in der Tasche des armen Mitreisenden, der sich
gerade auf gemacht hat, sich durch den Zug zu schleppen, um
vielleicht wenigstens eine Wolldecke zu erbetteln, gegen die
grimmige Kälte und für den Schlaf.
Ob man den nicht wisse, dass man nur mit einer
Fahrkarte diesen Zug benutzen dürfe. Natürlich weiß
man dies, doch ebenso weiß man, dass jener Schaffner die
Schuld an der eigenen Verdammnis trägt und dies sehr genau
wissen muss. Trotz allem nimmt man die letzten Kraftreserven
in Anspruch und erklärt sein unwürdiges, aber doch
berechtigtes Dasein in diesem Nachtzug der Deutschen Bahn.
Ohne Fahrkarte dürfe man sich nicht in diesem
Zug aufhalten. Dass die Bahn Tickets für zwei Personen
nur auf eine Fahrkarte drucke, sei ein Problem der Bahn und
nicht seines.
Jetzt ist die Lage aussichtslos.
Nichts kann noch retten - es sei denn ein Wunder.
Aus dem Bauch entwickelt sich ein Kribbeln. Man öffnet
den Mund und staunt über sich selbst. Es ist Hass, der
jetzt spricht und er ist laut. Sehr laut. Man kann sich später
an den genauen Wortlaut nicht erinnern, doch der Schaffner,
nun von Angst getrieben, zückt einen Schlüssel und
öffnet - ein gänzlich leeres Dienstabteil, um dann
hastig und mit flackernden Augenliedern zu flüchten. Später
wird er dann in Begleitung zweier Sicherheitsbediensteter die
Fahrkarten kontrollieren.
Man selbst ist der Urlaubsunfähigkeit glücklich
entronnen. Weitere Informationen über das "familienfreundliche
Nachtzugabteil" braucht man weder telefonisch noch sonst
jemals wieder.
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|
Von
M. Gänsel
|
S7 Potsdam-Hauptbahnhof
/ Ahrensfelde
(Frau mit drei Kindern, zwei ca. 8-jährigen
Mädchen und einem kleinen Jungen, steigt Nikolassee ein)
Frau: "Soooo, nun setzt euch mal hin. Der
Laurenz setzt sich hier hin und ihr da rüber. Na los, Laurenz!
Ja, fein, setz dich mal fein hier hin und schau aus dem Fenster."
Laurenz: (macht, was Mama will)
Mädels: (stehen schüchtern rum und zuppeln
an ihren Zöpfen)
(Alle drei Kinder haben einen neon-grünen
Zopf, Haarband ist das oder sowas, der ihnen aus dem kurzen
Wuschelhaar über die Brust hängt. Mütter können
so grausam sein.)
Frau: "Nun SETZT euch doch mal hin, HIER...
so... na mein Gott... Jetzt rutsch doch mal richtig durch, die
Wenke hat ja gar nicht richtig Platz!"
(Frau steht im Gang, obwohl neben Laurenz noch
Platz wäre, und studiert den Stadtplan.)
Frau: "Guckt mal, da drüben ist Stau.
Das ist die Avus, da kann man ganz schnell fahren!"
(Alle außer Laurenz schauen auf die Avus
und lächeln gnädig.)
Wenke, durchaus berechtigt: "Aber Mama, die
fahrn ja gar nicht!"
(Mama schaut konzentriert auf die elektronische
Wagenanzeige.)
Wenke: "Was steht denn da?"
Frau: "Savi -" (bricht ab)
Wenke: "Platz! Da steht Platz!!"
Frau: "Ja, das ist ein Platz. Der... Sa...
wieg... ni... nihe-Platz."
Wenke, sadistisch: "WIE heißt der?"
Frau: "Nee warte mal, das spricht man anders
aus... i g n... das muss Sawinjehplatz heißen!" (murmelt
mehrfach "Savinjehplatz, Savinjehplatz" vor sich hin.)
(Alle andern gucken aus dem Fenster oder in ihre
Zeitung, Wenke pult am grünen Zopf.)
Plötzlich steht ein Typ auf, geht zwecks
baldigen Ausstiegs zur Tür, dreht sich um und ruft lässig:
"ßawickni heißt det!"
Wenke: "Siehste! Du hast das falsch gesagt!
Tzawickni!"
Frau: "Möchte der Laurenz was trinken?
Na?"
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Besen mit dem Bus vertauscht
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Von
Mathias Deinert
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Allen sind sie
schon einmal aufgefallen, denn sie sind die Kühler- und
Galionsfiguren unserer Stadtbusse: die greisen Fahrweiber. Niemand
weiß, woher sie kommen oder wo sie überhaupt eingestiegen
sind - sie stehen immer schon da, neben dem Fahrer. Sie beugen
sich zu ihm und schwatzen, als seien sie mit ihm per Du; und
oftmals SIND sie's sogar. Sie sind nie schön, immer aber
zwischen 50 und tot, schlecht angezogen, mit ungekämmten
Haaren und Wasser in den Beinen. Sie haben große Ohren
und Nasen, die gar nicht selten mit Korkwucherungen überzogen
sind. Auch riechen sie häufig abgeranzt.
Ihr Platz ist neben dem Fahrer. Da bleiben sie
stehen. Ob nun Leute kommen, die sich beim Einsteigen erst an
ihren Röcken oder ihrem ungepflegten Fiffi vorbeischieben
müssen ("Ach kiek ma, Sie mag er!"), ob der Bus
hält, fährt, bremst, sich in die Kurven legt oder
Pause macht: nie weichen sie von des Fahrers Seite. Wenn der
Bus anfährt, stützen sie sich gekonnt auf die Einlassschwengel,
damit ihre Pfunde nicht aus der Bahn geworfen werden. Schulterblick
nach rechts - durch ihre meist angetönten Brillengläser
- und dann fühlen sie sich als die Löwinnen der Straße.
Will so eine Busreiterin irgendwann aussteigen,
weiß der Fahrer das voraus, und obwohl niemand WAGEN HÄLT
gedrückt hat, wird gehalten. Die greise Wichtigtuerin darf
natürlich vorn hinaus. Wer von uns dürfte das?
Lässt eine solche Wuchtbrumme sich dennoch
dazu herab, hinten auszusteigen, verfängt sich einer ihrer
Röcke oder die Leine des Fiffis in den Klapptüren.
Ich habe noch nie einen reibungslosen Abgang eines Fahrweibs
beobachtet. Und ich habe schon mehr von ihnen gesehen, als meinen
fünf Sinnen lieb war.
Ich arbeitete noch an diesem Text, da sagte eines
Tages ein beherzter Greis während der Fahrt zu so einer
Dame: "Sie dürfen dort nicht stehen bleiben! Gespräche
mit dem Fahrer sind verboten." Aber sie tat den Einwand
nur durch kurzes Schütteln ihrer Fettzotteln ab. Stille.
Nach einer Weile meldete sich der Greis wieder: "Wenn jetzt
scharf gebremst wird, fallen Sie ins Fahrerhaus." Und die
übelriechende Dame zu ihm: "Ach halt' die Klappe,
du alter Bock!" Der Busfahrer verteidigte die Dame durch
sein Schweigen.
Wer sind diese eingebildeten Brezeln? Haben sie
ein Recht, dort zu stehen? Vielleicht befindet sich unter unseren
Lesern der eine oder andere Busfahrer, der mir etwas auf meine
Ratlosigkeit antwortet. Ich trete auch gern mit einem Fahrweib
in Kontakt, um ihre Position zu diskutieren. Ein Freund meinte
unlängst zu mir, diese Damen habe es bereits zu IKARUS-Bus-Zeiten
gegeben und sie seien für BUSFAHRERNUTTEN gehalten worden.
Aber solch eine Unaussprechlichkeit kann und will ich nicht
glauben
Wer hilft?
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Man
muss auch mal Prioritäten setzen können
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Toleranz nach Regeln
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Von
Hans-Jürgen Schlicke
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Unsere Gesellschaft
ist weiß Gott angenehm-intellektuell kinderfeindlich,
na sagen wir, kinderignorant. In der S-Bahn zum Beispiel würde
keine Mama das Risiko eingehen, das schreiende Baby auf dem
Nachbarsitz auszuwickeln, zu entwindeln, von seiner gelbgrünen,
nur nach sich stinkenden Kinderscheiße zu befreien, abzuwischen,
zu ölen und einzucrémen, um es wieder frisch zu
windeln. Keiner (übrigens auch keine) würde der Mama
etwa hilfreich die volle Windel abnehmen oder vielleicht ein
eigenes Tempo reichen. Ausnahmslos angewiderte Reaktionen wären
Mutter und Kind gewiss. Schließlich hat man schon genug
Toleranz mit den ebenfalls nur nach sich stinkenden, aber wenigstens
ruhig schlafenden Suffköppen zu üben, die allerdings
ihre versabberten Gesichter bei jedem Bremsen auf die benachbarte
Schulter legen wollen.
Ganz anders verhält sich die Gesellschaft zu Radfahrern.
Wobei ich diesmal nicht den Charakter "Nach oben buckeln
und nach unten treten" meine, sondern die Besitzer und
Benutzer von Fahrrädern. Sie (die Gesellschaft) baut den
Radfahrern zusätzlich zu den Straßen eigene, geteerte
Wege mit fröhlichen Markierungen drauf, toleriert, dass
sie in Zehnergruppen nebeneinander die Bürgersteige befahren
und den zur Seite springenden, archaischen Fußgängern
immerhin fröhlich zurufen, dass in den Unterführungen
auch viel Platz ist.
Aber diese Tolerierung braucht - vor allem, wo
es ein bisschen eng wird, in der S-Bahn etwa - trotzdem auch
Regeln, von denen hier einige genannt sein sollen. Regeln für
die Fußgänger.
A) Jedem Fahrradfahrer haben im Klappsitzbereich
der S-Bahn mindestens drei nebeneinanderliegende Klappsitze
zur Verfügung zu stehen. Schließlich erwirbt man
als Fußgänger-Mitfahrer mit dem Ticket nicht das
Anrecht auf einen Sitzplatz für eine Person, als Fahhradfahrer-Mitfahrer
aber das Anrecht auf Platz für mindestens drei Personen.
Ähnlich wie der Hundebesitzer-Mitfahrer. Störrische
Fußgänger-Mitfahrer dürfen in den Nichtklappsitzbereich
verwiesen werden. Egal ob überfüllt oder nicht. Am
besten mit dem locker-fröhlichen Hinweis auf die Schwerbehinderten-Abteile.
Zuwiderhandlungen können mit heftigen Radbewegungen geahndet
werden, die zum Beschmutzen der vorzugsweise hellen Kleidungsstücke
bis in den Kniebereich führen dürfen. Die Reinigungskosten
trägt der Fußgänger-Mitfahrer.
B) Aussteigende Fußgänger-Mitfahrer
dürfen sich nicht in der Mitte der Tür aufstellen.
Grundsätzlich sind Fahrradfahrer-Mitfahrer immer zuerst
in die S-Bahn hereinzulassen, bevor danach Fußgänger-Mitfahrer
den Versuch starten können auszusteigen. Sollte es wegen
mangelnder Entschlussfreudigkeit der Fußgänger-Mitfahrer
dazu kommen, dass die Tür bereits wieder verschlossen wird,
bevor der Ausstiegsversuch begonnen wurde, trägt der Fußgänger-Mitfahrer
die Konsequenzen aus der sich durch das Aussteigen an einer
anderen Station ergebenden Verspätung; eventueller Verlust
des Arbeitsplatzes inbegriffen.
C) Fahrradfahrer sind hochkommunikativ. Wenn zwei,
drei von ihnen nebeneinander mit geschultertem High-Tech-Rad
vor einem Fußgänger auf der Treppe stehen und sich
angeregt über die neueste italienische 27-Gang-Schaltung
unterhalten, kann schon die eine oder andere Stunde darüber
ins Land gehen. Da heißt es ideenreich einen anderen Weg
ersinnen oder dem Fachgespräch mit weit geöffneten
Augen und Ohren lauschen. Und sich fragen, wann man sich endlich
auch so ein tolles Gefährt zulegt. Damit man dazu gehört.
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Es
fährt ein Zug nach Jerichow...
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Reise in die 5. Dimension
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Von
P. Brückner
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Ich bin ein aufgeklärter
Mensch. Ich glaube an zivilisatorischen Fortschritt, die Wissenschaft
und das Gute im Menschen. Bei Tageslicht. In mondlosen Nächten
natürlich nicht! Gut, an stillen abgelegenen Orten trifft
bemerkt man bei Nacht monströse Schatten, Schritte, ein
Flüstern hinter dem Rücken - doch Nein , Ebenezer
Scrooge hatte Recht: "Alles Mumpitz"!
Und außerdem. Wenn schon Gespenster, dann doch eher in
Dartmoor oder Canterville, wo ewiger Nebel auf der Landschaft
liegt, und nicht hier bei uns.
Der Glaube an Geister wäre auch sehr hinderlich,
wie sollte man sich sonst durchringen, nach Jerichow zu fahren.
Sie kennen Jerichow nicht? Nun so ziemlich in der Mitte des
Nichts zwischen Potsdam und Magdeburg gelegen, schmückt
es sich mit der ältesten romanischen Backsteinkirche Norddeutschlands.
Ein Besuch lohnt sich und wird zur zwingenden Verpflichtung,
wenn eine Freundin dort einen Vortrag hält.
Dort, in der straßenlaternenlosen Dunkelheit,
fällt es schon schwerer, Mumpitz zu sagen. Doch alles verlief
ohne Spuk und der RE 1 aus Magdeburg sollte uns Freunde der
Referentin nun nach Hause, unter unsere Bettdecken bringen,
wo mit Gespenstern ja auf keinen Fall zu rechnen ist. (Glauben
Sie übrigens nicht, der Zug würde in Jerichow halten!
Sie müssen vorher nach Rande Genthin, die Stadt am Rande
des Nichts!)
Wir standen also am Bahnsteig und der Zug zurück
war auch korrekt 21 Uhr 12 angezeigt. Noch zwei Minuten, noch
eine - ein grässliches Geräusch durchbrach die Stille
der Nacht. Mindestens vier Maschinengewehrsalven mussten die
Bahnhofsvorsteherin in ihrem Büro getroffen haben und im
Fallen hatte sie es noch geschafft, den Mikrophonknopf zu drücken.
Dann Stille, die bald darauf von einer krächzenden Stimme
unterbrochen wurde. "Der Zug aus *röchel* Magdeburg
zur Weiterfahrt *röchel* nach Berlin-Ostbahnhof hat nun
Einfahrt *ersterbendes Geröchel*". Doch der Zug rollte
nicht in Bahnhof ein und schlimmer noch, die Anzeigentafel leerte
sich. Kein Zug, keine Bettdecken - Kälte kroch an den Beinen
hoch und ließ uns frösteln. Dann wieder die Maschinengewehre
durch die Lautsprecher, denen aber statt einer Ansage nur ein
Röcheln folgte.
Verunsichert drängten wir uns aneinander,
die Verwegenen unter uns spotteten noch: "Na klar, bei
der Bahn gibt es eben keine Verspätung, also ist der Zug
pünktlich abgefahren, wir haben es nur nicht bemerkt."
Doch ihre Gesichter verrieten Sie. Ihr Spott war nur Pfeifen
im Walde. Dann sahen wir Lichter. Lichter, die unzweifelhaft
zu einer Lok gehörten. "Gott sei Dank, da ist der
Zug - nur weg von hier!" Niemand sprach es aus, aber wir
alle dachten das Gleiche. Fünf Minuten später hatten
die Lichter uns immer noch nicht erreicht, obwohl die Entfernung
doch nur wenige hundert Meter betrug. Doch sie kamen näher,
langsam aber unaufhaltsam näher!
Dann wieder das Röcheln, diesmal ohne Gewehrgarbe.
Lautlos rollte ein Zug in den Bahnsteig. Mit dem Mut der Verzweiflung
drückten wir auf die Türöffner - nichts geschah.
Drinnen hämmerten totenbleich Menschen gegen die Türen
- erfolglos. Wir wollten hier weg, egal wohin dieser Zug auch
ging! Das Röcheln hatte wieder eingesetzt.
Mit dem Mut der Verzweiflung stemmten wir uns
gegen die Tür - und sie ging auf. Drei Menschen stürzten
mit "ogottogott" aus dem Wagon, doch was blieb uns
übrig. Wir sprangen hinein. Das Röcheln hatte wieder
eingesetzt.
Im Zug war keine Menschenseele zu sehen. Wir kauerten
uns zusammen und hielten unsere Fahrkarten bereit. Auf keinen
Fall wollten wir den Schaffner verärgern, ahnten wir nicht
einmal in unseren kühnsten Träumen, in welcher Dimension
er beheimatet sein könnte. Lautlos rollte der Zug in die
große Dunkelheit davon - mit uns. Das Röcheln hinter
uns lassend, fuhren wir einem ungewissen Schicksal entgegen.
Doch wir hatten Glück, kein transparentes Wesen schwebte
auf uns zu. kein kettenklirrendes Skelett verlangte unsere Fahrkarten.
Während der Fahrt sahen wir überhaupt niemanden. Zu
unserer Freude hielt der Zug nach vierzigminütiger, geräuschloser,
angsterfüllter Fahrt in Potsdam. Auf dem Bahnsteig schüttelten
wir uns, um das Grauen hinter uns zu lassen. Doch horcht, da
war wieder dieses Röcheln...
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...wenn man trotzdem
Bahn fährt
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|
Von
M. Gänsel
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5 Gründe
die Deutsche Bahn AG zu mögen:
1) Herr Schmidt, der launigste unter allen Zugansagern
("Meine sehr verehrten Damen und Herren, mein verehrter
Name ist Schmidt und ich bin heute ihr Zugbegleiter. Ich begrüße
Sie ganz ganz herzlich hier auf der Fahrt nach Wustermark, wünsche
Ihnen eine angenehme Fahrt und freue mich Sie hier an Bord begrüßen
zu dürfen. Und da ist auch schon der nächste Halt,
wir erreichen in diesen Minuten den Bahnhof Charlottenhof!"),
ist nach Monaten schmerzlichen Vermissens wieder aufgetaucht:
Auf dem Hauptbahnhof in Potsdam empfängt er nun einfahrende
Züge ("Meine Damen und Herren, wir wünschen ein
herrrzliches Willkommen in Potsdam Hauptbahnhof!"). Solange
Herr Schmidt bei der Bahn arbeiten darf, ist noch nicht alles
verloren.
2) Der Ansage-Knopf-Drücker vom Bahnhof Friedrichstraße.
Er sitzt definitiv mehrere Kilometer von Mitte entfernt und
drückt frei Schnauze die Knöppe. Verspätungen
werden frühestens fünf Minuten nach Abfahrtszeit bekannt
gegeben, gern in folgender Manier: "Meine Damen und Herren!
Der Zug von [PAUSE] Frankfurt [PAUSE] Oder [PAUSE] nach [PAUSE]
Brandenburg [PAUSE] verzögert sich heute um [PAUSE] sssschhhhhhschh
[einfahrende S-Bahn] Minuten." Während sich auf den
Bahnsteigen Wahnsinn ausbreitet, sieht man die ganze lange Zeit
über nicht einen uniform-bewehrten DB-Angehörigen.
Die sind ja nicht blöd.
3) Die Raucher-Areale auf den Bahnsteigen. Anfangs
sozialer Randgruppentreff, hat sich das Raucherareal nun zu
einem veritablen Kontaktanbahnungspoint entwickelt. Mittlerweile
traut sich jeder dort zu rauchen und man kann über Verspätungen
die Augen verdrehen, sich Feuer geben, dem andern den Vortritt
beim Ausdrücken der Kippe lassen und einander verraten,
wo man hin möchte.
4) Die Klimaanlagen in Regionalexpress-Doppeldeckern.
Schweineheiß (Winter) oder arschkalt (Sommer): Dazwischen
gibt es nichts. Wenn die Bahn nicht wäre, würden wir
unseren Dauerschnupfen loswerden, hätten unsere Jacken
immer umsonst mit und könnten keine Gänsehaut kriegenden
Teenager beobachten. Außerdem gäbs nix zu meckern.
5) Das Deutsche-Bahn-Rätsel: Die Nächster-Halt-Ansage
im RE 1. Wenn wir in Potsdam losfahren, klingt es schon bald
"Tüdüütüdelüüütüdüüdülüü
- Wir erreichen jetzt den Bahnhof - Berlin Wannsee." Dann
geht es weiter, und wegen der unseligen Bauarbeiten am Bahnhof
Charlottenburg halten wir dortselbst. Doch hier warnt uns keine
Ansage vor. Hat die Zeit nicht gereicht, eine auf Band zu sprechen?
Nein: Kaum haben wir den Bahnhof verlassen und rauschen Richtung
Zoo, ertönt: "Tüdüütüdelüüütüdüüdülüü
- Wir erreichen jetzt den Bahnhof - Berlin Charlottenburg."
Und gleich darauf: "Tüdüütüdelüüütüdüüdülüü
- Wir erreichen jetzt den Bahnhof - Berlin Zoologischer Garten."
Und das ist IMMER so, nie schafft es die Ansage rechtzeitig,
IMMER kommt sie nach der Station - zu spät. Touristen,
Kirchentager u.a. verzweifeln.
Warum? Wie sind die Ansagen aufgenommen, drückt
der Zugführer nicht bei jeder einzeln? Offensichtlich nicht,
der Fehler ist immer der gleiche, das ist kein Zufall! Die schönste
Erklärung eines Freundes: Die haben eine Kilometer-Schalte:
Bei Kilometer 100 kommt Potsdam Hauptbahnhof, bei Kilometer
115 Berlin Wannsee, bei Kilometer 140 Berlin Zoologischer Garten.
Nun hätte Charlottenburg Kilometer 132 sein müssen,
irgendein Vermassler hat aber Kilometer 135 eingegeben. Schlamassel,
für immer! Oder?
Deutsche Bahn, du unser Rätsel. Wir kriegen
das raus, bis zur nächsten Nummer!
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In
der Stadtschnellbahn früh um halb Neun
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Ansichten eines Prolls
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Von
Hans-Jürgen Schlicke
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Als sich seinerzeit
der Tross mit den Schranzen aus Bonn in unser schönes,
verschlafenes Berlin auf den Weg machte, war ich überzeugt,
dass die paar tausend Bonner in der Hauptstadt unsichtbar bleiben
würden wie die kleinen gelben Perlen in einer Liebesperlenflasche.
Und zu Beginn hatte es ja auch genau diesen Anschein.
Die Dimido's, wie sie wegen ihrer Drei-Tage-Arbeitswoche
genannt wurden, kamen montags per Bundeswehrflieger nach Berlin,
wurden in Bundeswehrbussen mit abgedunkelten Scheiben in ihre
Internate gekarrt, suchten drei Tage lang unterirdisch ihre
Büros auf und gelangten freitags auf umgekehrtem Wege wieder
an die heimischen Rheinufer zurück. Nur ganz kurz keimte
einmal die Frage in mir auf, ob die abgedunkelten Busfenster
UNS vor den Höflingen oder SIE vor den versifften Berlinern
bewahren sollten. Aber nur ganz kurz.
Unlängst allerdings hätte ich mich beinahe
verliebt in eine, die - im dunkelgrauen, wirklich feinen Zwirn
und mit kleinem Flying-Dutchmen-Reisegepäck - an einem
Sonnabendmorgen neben mir Platz nahm und nach dem Weg zum Bellevue
fragte. Freundlich lächelnd, schönstes Deutsch sprechend
und sehr geschmackvoll angemalt, achherrje. Seither sehe ich
ständig Bürschchen und Frolleins in die S-Bahn kommen,
die exakt dieses Outfit tragen und die jeder S-Bahn-User in
den Vorzimmern der Macht wähnt. Der politischen Macht,
meine ich. Erst in den Vorzimmern zwar, aber immerhin.
Wo soll das hinführen, Leserinnen und Leser?
Nicht genug, dass es in Kreuzberg immer mehr Pinten gibt, wo
sie die Verve haben, diese Reissdorf-, Gaffel- oder Gilden-Plörre
auszuschenken. Nicht genug, dass die StäV am Schiffbauerdamm
langsam zum Muss des Mainstreamtouris geriert, wo sie doch ursprünglich
als letzte Zufluchtsstätte für Leute auf Himmel+Aid-Entzug
eingerichtet worden war, mit einfachem Gestühl und patriotischer
Fotostrecke und dem Umzugsbeschluss im Vorraum zur Toilette.
UND nicht genug, dass im BE in der Reihe hinter dir neuerdings
noch nicht fertig promovierte Anwärter auf irgendwelche
Hilfsreferendarpöstchen im Außenministerium sich
lauthals lustig machen dürfen über das geniale Bühnenbild
beim Richard II.
Nein. DIE fahren jetzt alle in meiner S-Bahn mit,
lesen Berliner Zeitungen und tragen vor allem Klamotten, die
allesamt aus Outletts stammen müssen, wo man auch den Staublappen
zum Fernseherabwischen von Armani kauft. Das kratzt mein Stil-
und Selbstbewusstsein. Sollten die jetzt alle vernünftig
geworden sein? Öffentlich verkehren, gemeinsam mit mir,
anstatt sich zum kleinen Schwarzen auch noch den kleinen schwarzen
Mini oder kleinen silbernen Smart oder kleinen roten A3 zu besorgen?
Na ich weiß nicht. Langfristig hab ich keine Lust, von
GAP oder Sinn & Leffers oder Springfield auf Mientus umzusteigen,
ehrlich mal.
Ich vertraue lieber drauf, dass die beiden Beinahe-Assessoren
aus dem BE ziemlich schnell raffen werden, dass ihres Unterstaatssekretärs
Sekretärin gerade frisch einen silbernen 100-PS-TDI von
ihrem Männe bekommen hat und sie ewig weiter den Kopierer
reinigen müssen, wenn sie sich nicht bald mindestens einen
TT oder einen 321er zulegen. Farbe egal.
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