ÖPNV
Inhalt

Fettes B
„In Frankfurt sind die Leute VIEL freundlicher!“ 


Lehrter Berlinhauptstadtbahnhof

The Minority Report
  
Ungezwungenes Multikulti...
...oder ob in Japan ein Sack Reis umfällt

Von vorne nach hinten
Halt - Stellen Sie sich wo anders hin!
 
Die Festung

Potsdam ist kein Pilot

 
Streckenirrsinn

Odyssee rund um den ORB

 
Wienerwalzer
 
Was ich nicht mehr sehen will
Heute: Im Öffentlichen Nahverkehr

 
Gute Nacht, Ferien!
Urlaub im Nachtreisezug der DB
 
Tausendmal passiert
 
Halt dich fest, Marie!

Besen mit dem Bus vertauscht

 
Man muss auch mal Prioritäten setzen können

Toleranz nach Regeln

Es fährt ein Zug nach Jerichow...
Reise in die 5. Dimension
 
Liebe ist...

...wenn man trotzdem Bahn fährt
 

In
der Stadtschnellbahn früh um halb Neun
Ansichten eines Prolls
 
 
 

Fettes B
"In Frankfurt sind die Menschen VIEL freundlicher!"
Von M. Gänsel

Der DB-Regionalexpress 1 ist zurzeit immer schön voll, weil die Leute zurecht versuchen, ganz ohne S-Bahn auszukommen. Willste von B nach Potsdam, biste mitm Regio auch bestens versorgt, gute Viertelstunde ab Zoo, doll.

Als ich also zum Behufe der Rückfahrt nach B zusammen mit vierhundert Radfahrern, zweihundert Fußtouristen und sechs Seniorengruppen auf dem Potsdamer Bahnsteig des Zuges harre, laufe ich bei Eintreffen desselben nach vorn vorn vorn, weil sich dort erfahrungsgemäß am wenigsten Menschengewühle sammelt. So steige ich denn erfreut und allein ein, wende mich nach links und sehe im Abteil gleich vorn einen Vierer, in den nur eine Person sitzt. Die Tür pendelt auf, ich sehe:

1 Frau, mittelalt, die Nase recht tief in einem dicken Buch steckend, am Fenster sitzend. Auf dem Sitz neben sich einen fetten kleinen Rucksack. Ihre Beine hat sie nicht nur lang ausgestreckt, sondern auf die Sitze gegenüber drapiert. Ja, beide: Das linke Bein angewinkelt an der Fenstersitzkante, das rechte liegt locker auf dem Gangplatz. Sie hat eine Hose an. Muss sie auch.

Ich frage: „Darf ich?“
Ich deute auf den Gangplatz, möchte ja unser beider Beinfreiheit auch in Zukunft nicht gefährden.

Sie schaut kurz auf, reagiert aber weder verbal noch körperlich.

Ich lege meine Tasche vorsichtig auf den Fensterplatz ihr gegenüber, ihr Fuß bleibt in der Stellung.

Gut, lass ichs drauf ankommen: Ich setze mich unter Anspannung der Oberschenkelmuskeln langsam, aber bestimmt, zur Not eben auf ihren rechten Fuß. Nee, mit einem kurzen Blick und Ruck wird das Gebein zurück gezogen.

Ich suche Blickkontakt, bekomme keinen. Ich zucke die Schultern, hole meine Zeitung raus und lese.

Weil es einen Gott gibt, kommen aber schon wenige Minuten nach Abfahrt Menschen aus dem hinteren Teil des Zuges, die dort erwartungsgemäß nicht fündig und also nach wie vor auf der Suche nach einem Sitzplatz sind. Wie magnetische Flummis werden sie von freien Plätzen angezogen, oft ist es nur einer. Paare agieren wie im Film: „Nimm du den da, ich versuchs hier!“

Wir zwei Drohnen in unserem Vierer bleiben lange verschont, doch dann steht plötzlich ein älterer Mann an unserer Schwelle und zeigt auf den kleinen fetten Rucksack meiner Mitfahrerin.

„Sie gestatten?“

Keine Reaktion.

Er schaut mich an.
Ich hebe die Augenbrauen.

Er, lauter: „Entschuldigung, könnte ich bitte...“ Dabei fasst er den Rucksack an der Schlaufe oben.

Die Bewegung in ihre Richtung nimmt sie trotz vertieftesten Lesens wahr.

(Bis dahin dachte ich noch, sie KÖNNTE auch taub, stumm oder kirgisische Steppenzaunreparateurin sein.)

Sie greift nach dem Rucksack – hält ihn fest und möfft:

„Da drüben ist doch auch noch was frei.“

Und zeigt auf meine Tasche, ihr gegenüber!

Der Mann schaut entgeistert erst zu ihr, die bereits wieder liest.

Dann zu mir. Ich atme hörbar ein, und während ich meine Tasche und den Rest meiner Zeitung flugs auf meinen Schoß bugsiere, meine Beine zur Seite nehme und ihn neben mich lasse („Danke schön, sehr freundlich.“ - „Bitte, sehr sehr gerne.“), schwappt eine Welle der Empörung bis unter meinen Haaransatz.

„Mein Gott, sind Sie unhöflich,“ sage ich zu ihr.

Nichts.

NICHTS.

Nichts. Die liest. Bzw. tut so. Die Hand noch immer auf ihrem fetten kleinen Rucksack, die Nase im Buch. Mein Blick muss ihr körperliche Qualen bereiten, aber sie strahlt eine derart festgezurrte Umsichselbstkümmerei aus, dass ich passen muss. Ich könnte sie anschreien, die tät nicht aufschaun.

Der Mann neben mir nimmt mich leicht am Arm, damit ich ihn anschaue, und schließt dann kurz die Augen, winkt mit der anderen Hand ab. Wurscht, sagt das.

Ich lese weiter Zeitung. Der Mann schaut aus dem Fenster. Sie musste natürlich ihren linken Fuß auch vom Sitz nehmen und hat jetzt viel weniger Beinfreiheit. Ich bin kurz davor, meine Schuhe auszuziehen und die nackten Sommertagsquanten auf ihren Rucksack zu packen, um ihr zu zeigen, wie viel PLATZ ich habe.

Ich lese natürlich nicht weiter Zeitung, sondern echauffiere mich gepflegt, d.h. innerlich.

Was für eine Unverschämtheit!

Beim Aussteigen projiziere ich gnadenlos. Als eine Truppe von Radfahrern mich, die in der Tür unseres Abteils steht, ängstlich anschaut, weil sie schon ahnen, dass sie NIE rauskommen, wenn ich und die hinter mir Wartenden erst einmal losrammeln, beruhige ich mit einem sonoren „Ich lasse Sie vor,“ und ernte Dank, Lächeln und Infos über deren Tagesausflug (Werder).

Als der Zug hält, rufe ich nach hinten: „Ich will auch raus, aber wir lassen erst mal die Radfahrer vor!“ Von hinten zustimmendes Gebrummel, dann einer: „Alter geht vor Schönheit!“

Alle – ich, die Radfahrer, die hinter mir – kichern.

Rationaldiskurs 1:
Die Tasche auf den Sitz neben sich zu stellen ist durchaus Usus. Ungeschriebenes Gesetz aber ist die sofortige Umbettung derselben bei Anmeldung einer menschlichen Sitzoption. Ich habe schon Leute beobachtet, die sich ungeachtet von der Belegung durch eine Tasche ohne Vorwarnung setzten, die Tasche dabei halb oder ganz unterm Hintern begrabend, was deren Besitzer zu sehr riskanten Rettungsversuchen motivierte. Da wird dann beidseitig kurz geblafft, und dann hat sichs.

Rationaldiskurs 2:
Das war ein ÄLTERER MANN, kein 15jähriger Bierflaschenflegel. Der hat ganz höflich gefragt. Wie kommt die dazu, dem derart zu begegnen? Den so abzukanzeln? Der war ja so erschrocken, dass er gar nicht gewagt hat zu protestieren: „Ich will aber HIER sitzen.“ Die hatte was sehr aufgestaut wirkendes Aggressives an sich, bei deren Ausbruch er nicht dabei sein wollte. Aber was IST denn mit dem Respekt vor dem Alter? Woher NIMMT die die Frechheit sich und ihren fetten kleinen Rucksack für mehr / besser / im Recht stehender zu halten als einen sich setzen wollenden 50-Jährigen?

Es ist ein Elend.

Irrationaldiskurs 1:
Wann kapieren Menschen wie die denn endlich, dass wir wir WIR es sind, die Gesellschaft, Leben, die Qualität der Öffentlichkeit in diesem Land gestalten?! Die Masse ists, die breiiite Mitte ists, die verantwortlich ist für das Wohl von Leib und Leben. Wie wir mit Fremden, Bekannten umgehen, von den eigenen Lebensmenschen gar nicht zu reden – das macht uns aus, daran misst sich ein entscheidender Wert bei der Qualität unseres Daseins.

Irrationalsdiskurs 2:
War ein langer Tag gestern: Kurz vor zehn bei KAISER's an der Kasse, vor mir ein Alki mit zwei Flachmännern, vor dem eine Mittvierzigerin im Sommerkleid, deren Gesicht einen NOCH längeren Tag vermuten lässt – eher zwei, drei Tage.

Dem Alki fällt ein Flachmann runter, zerbricht aber nicht, sondern landet etwas verzwickt zwischen Füßen und Korbrädern des Sommerkleids. Sie schaut und beugt sich weg, gehen kann sie nicht, gibt der Platz nicht her. Er wartet kurz, bückt sich dann, muss sich hinhocken, wankt, angelt dann aber doch erfolgreich die Flasche und erhebt sich. Mault: „Da kann man ja auch mal nett sein und die Flasche aufheben...“

Sie, sofort auf 150, 160: „Warum sollte ICH Ihre Flasche aufheben?!“

Ich, noch immer projizierend, dass die Schwarte kracht:

„Weil es NETT ist, jemandem zu helfen.“

Er: „Genau. Einfach nur nett sein, mann ey.“


Q. e. d.

 

Lehrter Berlinhauptstadtbahnhof
The Minority Report
Von Hans-Jürgen Schlicke

Neunhundertachtundneunzig von tausend Berlinern hat es einen Scheißdreck interessiert, wie der neue Bahnhof hinterm Kanzleramt, das alle Berliner übrigens verschmitzt schmunzelnd Waschmaschine nennen, benannt sein soll. Bisher hieß er - seit 1885 wohl - Lehrter Stadtbahnhof, was dem kleinen Nest Lehrte in der Nähe von Hannover eigentlich nie wirklich geschadet hat. Zwei von tausend Berlinern hat es interessiert, welchen Namen der Bahnhof tragen soll. Sie setzten sich kämpferisch dafür ein, dass er weiter so heißen möge wie bisher, Lehrter Stadtbahnhof eben.

Wir wissen ja in Berlin, was aus Zentralisierungen bei Benennungen so wird: Der Hauptbahnhof hieß Hauptbahnhof von der 750-Jahr-Feier bis zur Revolution 1989, dann wieder Ostbahnhof. Dass der Flughafen Tempelhof in der Unterzeile eigentlich auch noch Zentralflughafen heißt, weiß kein Schwein. Dass Schönefeld mal Zentralflughafen hieß, wussten die Westalliierten schnell wieder zu ändern. Wegen Tempelhof. Aber niemand lernt daraus und man nennt den Lehrter Bahnhof - der größte Kreuzungsbahnhof Europas übrigens (wo sind eigentlich der zweit- und der drittgrößte Kreuzungsbahnhof Europas?) - nun Hauptbahnhof. Das kommt davon, wenn sich nur zwei von tausend für etwas interessieren! Man soll auch nicht länger als einsdreißig über dieses Thema nachdenken. Das ist vertane Zeit.

Länger als einsdreißig regte sich die Berliner Abendschau des SFB-Fernsehens darüber auf und holte sich auch noch gleich den Stadtentwicklungssenator Peter Strieder (SPD) ins Studio, um ihm mal so richtig die Meinung zu geigen. Der wiederum geigte zurück und meinte, es wäre schon hilfreich, wenn ein Ausländer im Ausland am ausländischen Bahnhofschalter sagen könne, wohin in Berlin er denn fahren wolle mit der Eisenbahn. Und da wäre es schon gut, wenn Berlin einen Hauptbahnhof habe.

Totschlag-Argument nennt man das. Weil doch die Züge oft sowieso auch in Alexanderplatz, Charlottenburg, Friedrichstraße, Ostbahnhof, Schönefeld, Spandau oder Zoologischer Garten halten. Aber das weiß Strieder nicht. Muss er auch nicht. Er soll seine wertvolle Zeit nicht damit verschwenden, am Ticketschalter anzustehen. Das will ich gar nicht. Das sollen seine Adepten machen und ihm dann erzählen, wie so was funktioniert.

Ich fahre übrigens mit der S-Bahn jeden Tag zwei Mal durch den Lehrter Stadtbahnhof und bin schon mal überhaupt nicht hämisch gespannt, wie oft sich der gestresste Zugabfertiger künftig verhaspeln wird: "Ähem hier Lehrter Berlinstadtbahnhof, ach nee, Moment ... Berlin, Lehrter Hauptbahnhof, nee, ooch nich, wartense ..."

 

Ungezwungenes Multikulti...
...oder ob in Japan ein Sack Reis umfällt
Von Markus Wicke

Am Potsdamer Hauptbahnhof steigen neben mir noch zwei Kinderwagen in die Straßenbahn. Dazu gehören eine blässliche Ex-Pionierleiterinnen-Erscheinung angetan mit einem "action®"*-farbenen Top und einem Jugendmode®**-Jeans-Rock sowie eine zierliche junge Japanerin, die statt des propren Pionierleiterinnen-Nachwuchses nur einen ca. 10 Kilo schweren Reissack in ihrem Wägelchen vorzuweisen hat.

Reissack hin oder her, das gemeinsame Ächzen und Wuchten beim Transport der Gefährte in die Tram schweißt zusammen; mit Ausländern reden ist eh schwer angesagt; also beginnt die Potsdamer Mutti ganz ungezwungen ein Gespräch:

"Na, haben Sie auch ein Kind?"
"Ja!", antwortet die Japanerin höflich aber bestimmt.

"Aha, und wo sind Sie geboren?" will die Blasse weiter wissen?
"Potsdam-Drewitz!", antwortet die nicht sehr sprachsichere Japanerin knapp, wohl denkend, die Frage ziele auf Ihren Wohnort.

"We can call english!" ändert die Mutti nun Ihre Gesprächstaktik, was Ihre ungewollte Gesprächspartnerin schweigend mit einem freundlichen Lächeln quittiert.

"Is the rice typical japanese rice?" versucht es die Pionierleiterin mit Verweis auf den Reissack nun weiter. "Yes, for me and my friend!" Erneutes Schweigen.

Doch nun setzt die politisch korrekte Phase der Interviewerin ein: "And is it easy for you to live in Germany?" Dass es ganz schlimm ist in Deutschland, die Landschaft zwar schön, aber der viele Rechtsradikalismus; aber dass es auch ganz viel nette Menschen gibt, so wie sie; all das will die nette Pionierleiterin nun sicher hören, aber da kommt die nächste Station der Japanerin ganz recht. Mit fast entschuldigender Geste steigt sie aus und lässt die Pionierleiterin nur halb glücklich zurück.

Neue Abwechslung bringt da nur das kleine gelbe Fläschchen Sonnenmilch, welches rasch aus dem Kulturbeutel gezogen wird. Ein fetter Flaatz der milchigen Flüssigkeit wird auf den Fingerchen verteilt und flugs überall hin verteilt: Arme, Beine, Füße, zwischen den Zehen. Und wo der Rock stört, wird er schnell ein wenig gelupft und weitergeschmiert.

Ganz ungezwungen.

*action ® - in der DDR schwer angesagte Jugendkosmetikserie mit pinkfarbenem Etikett

**Jugendmode ® - DDR-Verkaufseinrichtung für jugendliche "Mode"

 

Von vorne nach hinten
Halt - Stellen Sie sich wo anders hin!
Von P. Brückner

Es gibt Orte auf dieser Welt, an denen das Rätselhafte greifbar in der Luft liegt. Die Pyramiden, die großen Kathedralen, das neue Bundeskanzleramt. Der Betrachter staunt und fragt: "Wie haben die das wohl gemacht?" Und: "Wie funktioniert das?" Es sind nicht nur berühmte Bauwerke der Welt, die uns diese Fragen aufdrängen. Auch kleine, nebensächlich wirkende Orte können uns zum Staunen, Wundern und sogar zum Mitmachen animieren.

In Potsdam nennt man diese Orte Straßenbahnhaltestellen. Nun sieht man einer profanen Haltestelle nicht sofort an, dass sie einen Raum materialisiert, der Mystik und Magie Gestalt werden lässt. Viele Haltestellenbesucher werden jetzt ein wenig befremdet den Kopf schütteln. Doch greifen wir uns einfach eine Haltestelle heraus, die am Hauptbahnhof scheint geeignet.

Bei Tag ist sie einfach ein Drehkreuz zwischen Bahnhof und Potsdam, doch nach Einbruch der Nacht wird sie zum Zentrum rätselhafter Geschehnisse und Ritualen, die einst in keltischen Steinkreisen stattfanden, nicht unähnlich. Es geht um die Vorhersage der Zukunft: Wie wird das Wetter? Werden wir den Krieg gewinnen? Oder eben: Wo wird die Straßenbahn halten?

Sie kennen das: Sie verlassen den Bahnhof gegen 23.12 Uhr, stellen fest, dass die nächste Bahn den Haltepunkt in 4 Minuten erreichen wird und wandern gemütlich die 20 Meter Weg bis zur Haltestelle. Sie stellen sich ganz nach vorn, denn Sie wissen, nachts hat die Bahn nur einen Wagen. Sie sehen die Bahn um die Ecke biegen - und wie sie 10 Meter von Ihnen entfernt zu stehen kommt. Nun laufen Sie die 10 Meter, die Sie vorher gemütlich geschlendert sind, zurück, um die Bahn besteigen zu können. Sie sind ärgerlich, aber Sie lernen aus diesem Vorfall. Beim nächsten mal sparen Sie sich einfach 10 Meter des Weges. Leider müssen Sie DANN erleben, wie die Bahn mit hohem Tempo an Ihnen vorbei rauscht, um 10 Meter vor Ihnen just an jener Stelle zum Stehen zu kommen, an der Sie das letzte Mal warteten.

Was bleibt, ist die brennende Frage, an welcher Stelle die Bahn nun halten wird. Eine Vorhersage scheint unsicher wie der Wetterbericht, nur statistisch signifikantes Material hilft weiter. Also hat PotZdam keine Mühen gescheut, um im Selbstversuch an diese Daten zu gelangen.

Dabei sind wir zu sensationellen Ergebnissen gelangt. Nachdem unsere Versuchsperson an mehreren aufeinanderfolgenden Tagen eine Straßenbahn nach der anderen an sich vorbeifahren oder weit vor sich halten sah, half uns der Zufall weiter. Zwei weitere Fahrgäste, welche nicht zur Experimentanordnung gehörten, gesellten sich an der Haltestelle zu unserem Probanden. Sie ließen sich auch durch den leidenschaftlichen Appell unsererseits nicht von ihrem Vorhaben, Straßenbahn zu fahren, abbringen. Allerdings ließ die Argumentation unseres Testers ihn in den Augen der Beiden wohl ein wenig verdächtig erscheinen, worauf sie von ihm abrückten. So warteten die Zwei am oberen Ende der Haltestelle, wogegen unsere Testperson am unteren wartete. Prompt hielt die Bahn direkt vor unserem allein wartenden Lockvogel.

Es war also zwangsläufig anzunehmen, dass die quantitative Verteilung der Wartenden an der Haltestelle Einfluss auf das Bremsverhalten der Straßenbahn nimmt. Und siehe da: Nachfolgende Tests ergaben die Richtigkeit unserer Vermutung.

Scheinbar ist in Potsdamer Straßenbahnen ein Sensor integriert, der, um für die Sicherheit der Fahrgäste zu sorgen, die Bahn nie unmittelbar vor Ihnen zum Stehen bringt. So können Verletzungen durch Überrollen verhindert werden. Die Bahn entscheidet sich im Zweifelsfall eben für die kleinere Anzahl potentieller Opfer.

Bei unseren Tests konnten wir nicht umhin festzustellen, dass dieses geheimnisvolle Gerät erstens an der Haltestelle selbst und nicht an der Bahn angebracht sein muss, denn beschriebenes Verhalten ist nur an ausgewählten Haltepunkten zu beobachten. Zweitens scheint die Feinjustierung nicht so genau zu sein, wie man sich wünschen sollte.

Das Gerät ist nicht in der Lage, zwei Gruppen, die jeweils mehr als fünf Wartende umfasst, genau zu bestimmen, so dass das Halten hier wortwörtlich zum Glücksspiel wird.

An diesem Punkt schienen unsere Ermittlungen in eine Sackgasse zu führen. Zwar konnten wir jetzt mit einer relativ großen Sicherheit bestimmen, wo die Bahn halten würde, doch die Nutzanwendung hielt sich in Grenzen. Sie würde immer genau dort halten, wo man gerade nicht stand.

Wir veranstalteten weitere Versuche, doch die verliefen katastrophal. Als sich unser Proband an der Haltestelle versteckte, führte dies dazu, dass die Bahn gar nicht hielt und er die nächste Bahn nehmen musste. Als wir - voller List - zwei Personen an den beiden voneinander am weitesten entfernten Punkten des Haltestellenbereichs platzierten, kehrte die Bahn kurz vor der Haltestelleneinfahrt einfach um. Auch fuhren an diesem Tag, trotz mehrstündigem Wartens, keine Bahnen mehr diese Haltestelle an, und unsere Tester mussten zu Fuß nach Hause gehen. Wir standen kurz vor dem Abbruch des Experiments, zumal erste Opfer zu beklagen waren. Eine Testperson, felsenfest gewillt, die Bahn nicht erst vor der kleineren Gruppe, sondern sofort zum Halten zu bewegen, warf sich auf die Gleise. Leider muss man dieser Versuchanordnung völliges Scheitern attestieren - die Bahn hielt da, wo es zu erwarten gewesen war und der Rest der Gruppe kam um den Lauf zur Bahn nicht herum.

Wieder war es ein Zufall, der die verfahrene (sic!) Situation doch zu einem guten Ende führte. Bei einem der unzähligen Versuchswarten beobachtete einer unserer Straßenbahnkandidaten, wie nebenan zwei Maskierte daran gingen einer alten Dame die Handtasche mit Gewalt zu entreißen. Gerade wollte er eingreifen, als pünktlich die Straßenbahn nahte und, ihm in Handgriffweite den Türöffner präsentierend, hielt.

Alles um sich herum vergessend, bestieg er die Bahn. Mit der Gewissheit, das Problem gelöst zu haben, fuhr er davon.

Tragen Sie in Zukunft also immer zwei bis drei Straßenbahndummys bei sich und platzieren Sie diese genau dort, wo Sie NICHT warten werden. Die Ergebnisse werden Sie verblüffen. Sollte Ihnen diese Methode als zu anstrengend oder kostenintensiv erscheinen, erzielen Sie ähnlich gute Ergebnisse, in dem Sie Passanten, welche NICHT die Absicht haben, die Bahn zu benutzen, spontan fragen, ob sie nicht mit Ihnen auf die Bahn warten möchten.

Nun, nachdem Sie wissen, wie es geht, fragen Sie sicherlich: "Funktioniert das auch bei S-Bahnen? Regional-Expressen?" Wir wissen es nicht, aber ein Versuch dürfte sich in jedem Fall lohnen.

 

Die Festung
Potsdam ist kein Pilot
Von M. Gänsel

Nach einem alle sozialen Sinne fordernden Arbeitstag war K. nun verdientermaßen auf dem Weg nach Haus, stand in Vorfreude auf Frau und Kind lächelnd am Bahnsteig und erwartete den Vorortzug. Die Abendsonne schmeichelte dem abgetragenen Anzug und der ganzen abgearbeiteten Person - ja selbst die Aktentasche zu seinen Füßen schien weicher, harmloser und weniger kantig. K. rauchte, denn im Bureau war das Rauchen seit Anfang des Jahres nur in einer Kammer gestattet, die vorab als Aufbewahrungsort für Schuldner-Akten diente und entsprechend roch.

Plötzlich stand, sich mit einer überraschenden Bewegung von hinten um ihn herum schraubend, eine Uniformierte vor ihm. K. sah ihr ins viel zu nahe Gesicht, sie war etwas größer als er, fülliger auch. Sie schaute nach unten, K. errötete und senkte ebenfalls den Blick. Sie hielt ein kleines Ding in der Hand, orange-farben. Ihre Hand berührte fast seinen Anzugstoff; K. begann leicht zu schwitzen. Er hob den Blick, und jetzt sah sie ihn auch an.

"Ick möschte Sie bittn die ßigarette hier rein ßu machen."

K. verbeugte sich leicht, lächelte noch immer, schließlich freute er sich noch immer auf Frau und Kind. "Wie bitte?"
Die Uniformierte hielt das kleine orange-farbene Ding jetzt nah vor sein Gesicht. Er erkannte das Zeichen der Bahngesellschaft und eine Zigarette, durchgestrichen. Er nahm all seinen Mut zusammen und ihr das Ding aus der Hand. Sie ließ ihn gewähren, beobachtet jede seiner Bewegungen. Sie war auf der Hut, das spürte K. Was wollte sie? Er hielt das Ding nun in der Linken, zog seine Rechte vorsichtig zwischen sich und der Uniformierten dazu und stieß die Zigarette leicht hinein, Asche fiel ab. Fragend sah er zu ihr hinauf.

"Wenn Sie sisch weigern die ßigarette im dafür vorgesehenen Raucherareal ßu rauchen mussick Sie bitten die ßigarette hier drinne ausßumachen.

"Ein Raucherareal? Wo ist das?" K. war ganz ruhig, obgleich der ihm entgegengebrachte Ton fordernd und drohend war. Es schien, als sei die Uniformierte auf Widerworte eingestellt und gleichsam drei Schritte zu weit in der Unterhaltung. K. wollte nicht widersprechen, er wollte verstehen. Sie hob den linken Arm in eine Richtung und nickte mehrmals zuckend mit dem Kopf. K. bückte sich, nahm seine Aktentasche auf, hielt noch immer die Zigarette und das Ding in den Händen. Er drehte sich der von ihr geforderten Richtung zu und bot ihr den Arm. Sie wich einen Schritt zurück, setzte sich aber wie er in Bewegung.

Ein paar Meter entfernt erkannte K. eine schmale, hüfthohe Stahlsäule, deren oberes Ende, nach innen gestülpt, wohl einen Aschenbecher darstellte. Also darum war es ihr gegangen! Er teilte ihr sein Verstehen mit, sie nickte barsch.

"Das Rauchen auf den Bahnsteigen is nur noch an den dafür vorgesehenen Raucherareals gestattet. Zuwiderhandlungen..." - "Aber ich habe doch nicht zuwider gehandelt!", rief K. Sie blickte ihm ins Gesicht, als sähe sie ihn gar nicht. Ihr Kopf war leicht nach hinten geneigt, als wäre er größer und nicht sie. Dadurch betrachtete sie ihn doppelt von oben herab, ihr Kinn verdreifachte und ihre Augen mühten sich, die Sicht so gut wie irgend möglich über die gewölbten Wangen zu retten. K. hatte die Aktentasche wieder abgestellt, hielt die Zigarette über die Stahlsäule und lächelte noch immer.

"Sie sind einsichtig!" Ihr Ton war unverändert, er vermeinte immer das Falsche zu hören. Sie sagte das ja, als hätte er sich geweigert! In K. wuchs das Verlangen ihr ein Lächeln zu entlocken. So ein schöner Abend, so weich das Licht, so klein das Problem! Er nickte ihr aufmunternd zu und begann wortreich sein Verständnis zu artikulieren. Er wisse ja um die Verunreinigungen durch Zigarettenreste, er ahne ja die Motivation für diese Entscheidung, und die Kosten!

"Sie sind einsichtig!", murmelte die Uniformierte ein zweites Mal. K. redete einfach weiter in ihr Gesicht hinein, der Kopf war nicht mehr nach hinten geneigt, die Augen schienen ihn langsam wahrzunehmen. Ihre Wangen waren im Abendlicht dunkel-orange und passten farblich perfekt zu dem Behelf-Aschenbecher, den er noch immer in der Hand hielt. "Darf ich den behalten?"

Jetzt begann sie zu reden. Ganz unvermittelt sprudelte es aus ihr heraus, es hörte sich nach einem Aktenvermerk an, sie hatte sicher ihre Vorschriften, K. kannte sich da aus. Es sei eben nur ein Arbeiter, der in der Nacht alle drei Bahnsteige zu säubern hätte. Sie hätten nur diesen einen! Und die Gleise, Tabak zersetze, das sei Gift! Wenn Sie sich einen Raucher vorstelle, der rauche ja wo er stehe und gehe! Und damit sei Schluss! Deswegen die Säule, ganz neu sei das.

"Wird das hier in Potsdam getestet?" - "Nee, Pilot war Bonn." Es schien ihr nicht wenig auszumachen, dass es die ferne Stadt und nicht ihr Bahnhof war, der die Neuigkeit als erste umsetzen durfte. Auch diese Frustration kannte K., er stand jetzt leicht nach vorn gebeugt, die Zigarette war längst im Stahlbauch verschwunden, das Abendlicht der nahenden Dunkelheit gewichen. Sein Zug fuhr ein. Er hielt das kleine Ding nach oben. "Darf ich das behalten?"
"Des jefällt Ihnen, wa? Ja ick find die och janz knuffig!"

Er stand auf dem Abtritt und winkte ihr. Sie war ganz geschäftig und hatte keinen Blick für ihn. K. drehte sich gerade herum und wollte die letzte Treppe nehmen, da rief sie ihm nach: "Erzählenses rum! Aber positiv!" K. nickte, er lächelte nun nicht mehr. Er verstand sie, er verstand sie ja so sehr. Aber was war mit den anderen? K. wurde traurig, als er an die Zukunft dachte, an die vielen Uneinsichtigen, Zuwiderhandelnden, die der Uniformierten das Leben schwer machen würden. Die Arme!

Sie hatte bis zum Ende nicht gelächelt. Einen Anflug von Heiterkeit glaubte er wahrzunehmen, als er sie, leicht amüsiert, fragte, was denn nun geschähe, wenn er nicht "einsichtig" wäre. Da hatte sie fast gelächelt und den Kopf nach wieder nach hinten geneigt: "Zwanzig Euro!", triumphierte sie in sein staunendes Gesicht.

 

Streckenirrsinn
Odyssee rund um den ORB
Von Mathias Deinert

Seit dem grandiosen Fahrplanwechsel des Jubeljahres 2003 fährt die Linie 696 nicht mehr vom S-Bhf Griebnitzsee zum Stern-Center und zurück, sondern fährt einen Ring um das Filmparkgelände. Gut und schön. Wenngleich kaum mehr Leute diese Linie benutzen: Fahren doch jene, für die der Medienring-Bus gedacht ist, sowieso alle Auto. Wie dem auch sei. Ich frug mich, wieso der Bus laut Fahrplan ganze 10 Minuten brauchen soll für eine Strecke, die er eigentlich in 4 Minuten fährt.

Seit ich nun jeden Morgen diese leere Linie nutze, weiß ich, wo die Zeit bleibt.

Zum einen gibt es Touristen mit eigentümlichen Fragen: "Fahren Sie zum Bahnhof?" - "Weiß ich ja nicht, von welchem Bahnhof Sie sprechen!" Und Recht hat er, der Mann im grünen Hemd. "Na, zum Bahnhof. Zum Potsdamer Bahnhof." Der Fahrer indes bleibt stur: "Wir haben hier fünf, sechs Bahnhöfe. Weiß ich ja nicht, von welchem Bahnhof Sie sprechen." Verdutzte Blicke hinter dunklen Gläsern. "Fahren Sie denn nun zum Bahnhof? Wir wollen zurück nach Berlin." Aber der Mann hinterm Buslenker beharrt: "Ich weiß nicht, von welchem Bahnhof Sie sprechen!" schließt alle Türen und braust weiter.

Das nächste Hindernis können Schulklassen oder kleinere Familiengruppen bilden, die das Schild "Nach 70 Metern rechts!" nicht deuten können und verzweifelt den Eingang zum Filmgelände suchen - vorzugsweise auf der Fahrbahn des Busses 696.

Wenn er sich endlich auf der Straße befindet, die kaum Platz für EIN größeres Auto bietet, aber an der Filmhochschule vorbeiführt, versperren ihm andere Hindernisse die Durchfahrt: Lieferwagen zum Beispiel, deren Fahrer sich in irgendeinem der umliegenden Gebäude befinden statt im Führerhaus. Manchmal sind es auch einfach in der zweiten Reihe parkende Privatautos - der Leute, für welche der neue Bus gedacht ist.

Unter hundert Flüchen müssen Busfahrer der Linie 696 dann aussteigen, den Millimeter-Spielraum zwischen zwei Kotflügeln schätzen und sich wohl oder übel am Straßenparker vorbei zwängen. Das mehrmalige plötzliche Bremsen wegen Filmstudenten, die unvermittelt über die Straße laufen oder skäten, weil sie dem stotternden Bus keine Geschwindigkeit mehr zugestehen, erwähne ich gar nicht!

Hat der Bus am ORB seine Adrenalinfahrt fast überstanden und steht in der Warteschlange zur Hauptstraße, kann es passieren, dass ein Auto vor ihm den ersten Gang mit dem Rückwärtsgang vertauscht und aufs Gas drückt. Busfahrer der Linie 696 beweisen nach solchen Augenblicken eine ungeheure Menschenfreund- und Sachlichkeit.

Ist es angesichts all dieser Missstände verwunderlich, wenn ViP ganze Busstrecken wegkürzt, weil dessen Fahrer dem Irrsinn verfallen?

 

Wienerwalzer
Von Hans-Jürgen Schlicke

Ich schreib' das gleich zu Beginn, sonst vergess' ich's bloß wieder: Die Österreicher haben bei allen Problemen, die man sich mit ihnen machen kann, etwas sehr Angenehmes. Sie ziehen so eine Art Weichzeichner über unsere gemeinsame deutsche Sprache. Stimmt doch? Oder kann sich wer vorstellen, dass die sich vor ihr Schloss in Wien hinstellen und "Revoluzzion!" brüllen? Das wäre denen viel zu laut, zu harsch und zu endgültig. Wenn überhaupt, ließen die sich vermutlich zu einem "Könnten'S bittschön zurücktreten?" hinreißen, aber schriftlich übergeben von einer kleinen, handverlesenen Delegation, der mindestens ein Geheim- sowie ein Legationsrat, selbstverständlich ein Magister, dann noch ein Ingenieur und eine Frau Professor und ein Herr Installateur angehören müssten. An diese positive Seite der Österreicher musste ich immer denken, wenn ich früher diesen österreichisch, grünen, liberalen Moderator in einer dieser norddeutschen Fernsehtalkshows bewunderte. Der mit den buschigen Augenbrauen, die er immer so schön provokant heben konnte. Was seinerseits übrigens der Gipfel der Provokation in diesen Talkshows war. Dieser feingeistige Mensch sagte gern "Im Grund' genommen" an Stellen, wo andere profan "prinzipiell" oder "grundsätzlich" dahinblafften. Das gefiel mir. Und da das in meiner Entwicklung so etwas meilensteiniges hat, weise ich hier in aller Form darauf hin, dass ebenjener Moderator quasi das Copyright auf "Im Grund' genommen" hat. Zumindest in diesem Text.

Mein lieber Sohn hatte, vor allem zu Beginn des dritten Drittels seiner Pubertät, eine sehr kreative Phase im Hinblick auf die, ja doch, Verschönerung der vielen monochromen Flächen im Stadtalltag. Was dazu führte, dass er nicht nur nächtens viel unterwegs war. Nein auch tagsüber. Denn nächtens hatten die einschlägigen Farbengeschäfte nicht geöffnet, was übrigens beim genaueren Hindenken eine ziemliche Nachlässigkeit im Marketingkonzept dieser Läden zu sein scheint. Die Hauptgeschäftstätigkeit der Klientel findet nun mal nicht tagsüber statt. Aber nicht nur in den zur falschen Zeit geöffneten Farbengeschäften war er unterwegs, sondern natürlich auch in solchen, die die Arbeitskleidung und das Drumherum dieser Subkultur unter die Leute bringen. Von der irgendwo zwischen den Knien baumelnden viel zu weiten Jeans, die seltsamerweise aber immer die richtige Größe hatte, über das Kapuzenshirt bis hin zur Tarnjacke und zum Basecap. Und so ein Basecap ist ja wie früher im demokratischen Sektor das Parteiabzeichen, sag ich mal. Kommen aber auch aus der Mode, die Basecaps. Bei meinem lieben Sohn war's damit am Ende des dritten Drittels der Pubertät soweit, und ich setzte mir das Ding mal auf. Der Schirm des Basecaps macht, dass ich in einem Format in die Gegend schaue, das dem des Breitwandformates im Kino oder dem des sechszehn-zu-neun-Formates im Fernsehen nahe kommt.

Wenn ich öffentlich fahre, benutze ich fast immer die S-Bahn. Und ich sitze in der S-Bahn immer gern da, wo einerseits rüpelhafte StudentInnen ihre verdreckten Fahrräder an die Haltetangen lehnen und stinkende Döner verzehren, drei Plätze belegen und dann noch grimmig blinzeln, wenn du dich auf dem übernächsten Platz neben ihnen niederlassen willst. Wo man aber andererseits die Beine wunderbar ausstrecken kann. Wenn es voll wird, so ab Ostkreuz, muss man zwar die Beine wieder einziehen. Aber dafür geschieht etwas anderes wunderbares. Das Breitwandformat wird mehr und mehr gefüllt mit Schrittansichten. Die Leute stehen ja dann kaum mehr als einen halben Meter von dir entfernt. Die Oberkante des Breitwandformates ist ungefähr - ein wenig abhängig von der Körperhöhe der vor einem parkenden Person - die gedachte Linie der Brustwarzen. Die Unterkante verläuft etwa in der Höhe der Knöchel. Um die Schuhe zu sehen, muss man den Kopf also schon leicht senken. Nach oben schauen findet kaum statt, nur zur Vergewisserung, dass der aus der Schrittansicht gewonnene Eindruck nicht trügt.

In diesem Blickbereich spielen sich die unglaublichsten Dinge ab. Unglaublich deswegen, weil die AkteurInnen zu vergessen scheinen, dass sie sich in einer Öffentlichkeit befinden, die öffentlicher kaum sein kann und ja zudem auch noch so heißt. Da stehen Kerle vor dir, die rücken, schieben und rappeln ihre Dinge per Hand durch die Gegend, dass es nur so eine Art hat. Spielen selbstvergessen ganze Klaviersonaten rauf und runter, was - natürlich - DAZU führen muss. Mädels, ein Wort, das den Zensor nur selten passiert, Mädels hingegen haben die Hände übrigens nie da. Mädels stehen fast nie mit durchgedrückten Knien sondern fast immer mit einem leicht eingeknickten, an das andere Bein angelehnten Bein da. Mädels haben auch prinzipiell zwei Auffassungen, wie eine Hose im Schritt aussehen sollte. Die übergroße Mehrheit meint offenbar, dass es dort auf die Details nicht so sehr ankommt, während es ja an anderen Körperpartien oft nicht anliegend genug sein kann ... Die Minderheit zeigt auch dort, was sie hat. Ich trau mich noch nicht, das zu moralisieren, aber die Frage drängt sich schon irgendwie auf, stimmt's? Und: Mädels machen Bewegungen beim Stehen in der S-Bahn. Bewegungen mit den Knien, die in den Hüften ausklingen und die ziemlich deutlich sanften Genuss vermuten lassen, so zurückhaltend aber anhaltend wie sie ablaufen. Wenn ich mich reinhöre in die Bewegungen, ist es meistens 'n Wienerwalzer. Mitten in der Berliner S-Bahn. Und das ist doch im Grund' genommen zauberhaft. Nicht wahr?

 

Was ich nicht mehr sehen will
Heute: Im Öffentlichen Nahverkehr
Von Siobhan Groitl

Auf dem Weg zum Bus/ zur S-Bahn/U-Bahn/ Tram

Was ich sehen will
Blumen, Meer und Wolken

Was ich nicht sehen will
Titten.
Ärsche.
Eier.
FamiliDeutschland Poster.


Im Bus/ in der S-Bahn/U-Bahn/ Tram

Was ich sehen will
Freundliche Menschen, die unaufgefordert nach hinten durchrutschen.

Was ich nicht sehen will
Verschwiemelte Säcke, die jungen Mädels mit Kopftuch auf den Busen starren.

Was ich sehen will
Fahrer, die erst dann anfahren, wenn sich das zittrige Mütterlein tatsächlich hingesetzt hat.

Was ich nicht sehen will
Das zittrige Mütterlein, das sich schon Lichtjahre vor ihrer Haltestelle auf den unendlich langen Weg zur Tür macht, um mit Tüte und Parkinson den Ausstieg zu blockieren.

Was ich sehen will
Sozialkompetente Großstadtbewohner, die - wenn draußen- zur Seite treten um rauszulassen und - wenn drinnen - schnell auszusteigen.

Was ich nicht sehen will
Frauen mit Zwillingskinderwagen und Wocheneinkauf zum Faustkampf bereit, um den autistischen Stiesel am Einstieg zur Seite zu drängen.

Was ich sehen will
Wie der Bus grade kommt.

Was ich nicht sehen will
Wie der Bus grade abfährt.

 

Gute Nacht, Ferien!
Urlaub im Nachtreisezug der DB
Von P. Brückner

Will man in die Ferien, muss man erst einmal hinkommen. Auto, Flieger, Schiff oder Zug, all dies sind zu überdenkende Alternativen, wenn es um eine Reise geht. Will man vielleicht ins europäische Ausland, kann der Zug eine echte Alternative sein. "Mehr als 2.000 Verbindungen führen direkt in die beliebtesten Ferienziele Europas." (Werbeanzeige der DB) Das wäre wunderbar, wenn man sie auch jederzeit buchen könnte.

Will man jedoch über den Jahreswechsel etwa nach London und hat diesen Entschluss schon im Juli gefasst, bleibt einem ab da nur übrig, jede Woche mindestens einmal am Fahrkartenschalter anzufragen, ob die Zugtickets schon erhältlich wären. So um den 15. Dezember herum wird man dann erfahren, dass es nun möglich sei, Fahrkarten zu erstehen - jedenfalls theoretisch. Praktisch ist der ins Auge gefasste Zug schon überbucht. Dafür kann man die Bahn jedoch nicht unbedingt verantwortlich machen, denn England ist weit entfernt, Nachrichtenübermittlung somit schwierig und überdies scheint die britische Bahn ihre Fahrpläne als geheime Verschlusssache zu behandeln. Das ist auch das offizielle Statement der Bahn: An allen ist nur der Tommy schuld!

Hat man jetzt nicht das Glück auf eine der wenigen kundenorientierten Servicemitarbeiter der Bahn zu treffen, kann man gleich bei Air Berlin oder Britisch Airways anrufen und versuchen wenigstens noch einen Flug zu erhaschen. Mit den Fahrkarten (selbstständig und umsichtig gebucht von einer durch die wöchentlichen Besuche im letzten halben Jahr sehr vertrauten Bahn-Mitarbeiterin), mit den Fahrkarten beginnt das eigentliche Abenteuer. Mit wem wird man ein Abteil teilen, wie werden die Bahnhöfe heißen, auf denen man mitten in der Nacht hält, werden die Sitze im Speisewagen aus blauem oder roten Samt sein? Gespannte Erwartung und ein Hauch von Orient Express machen die Urlaubsvorfreude perfekt. Außerdem kommt man "ausgeschlafen in und aus den Ferien. So eine Reise im Nachtzug ist ideal für eine Familie mit kleinen Kindern." (Werbeanzeige DB) Vielleicht hat man ja keinen Nachwuchs, aber was für Kinder recht ist, kann bekanntlich für Erwachsene nur billig sein.

Leider irrt sich der Kinderlose hier und das wird ihm spätestens bewusst, wenn er seine Abteiltür öffnet und ihm ein Brodem entgegenschlägt, der alles Mögliche enthält, nur keinen atembaren Sauerstoff. Überall sind Menschen und Koffer. Vier Erwachsene und ebenso viele Kinder drängen sich in dem Abteil, das eigentlich für sechs Menschen konzipiert wurde.
Nach 10minütigem Starren auf die Fahrkarte und die aufgedruckten fest reservierten Plätze ist es Gewissheit - man ist im richtigen Wagen und steht exakt vor dem gebuchten Abteil. Der Haken dabei: Da Kinder der Deutschen Bahn gerade in Nachtzügen so wichtig sind, fahren sie bis zum 6. Lebensjahr kostenlos, damit aber auch gänzlich unregistriert. Es hat alles seine Richtigkeit im Zug. Nur das Abteil ist voll.

Kein Problem, denkt man vielleicht. Man braucht ja nur zwei andere Sitzplätze. Damit beginnt ein "Vergnügen, das selbst die Hin- und Rückreise zu einem unvergesslichen Erlebnis macht." (Werbeanzeige DB)

Denn die Zugbegleiterin ist verständnisvoll und begibt sich sofort auf die Suche nach einem Abteil mit Platz, der den erhofften Raum für Bahnromantik und Schlafheischende bietet. Leider ist sie jedoch für den falschen Teil des Zuges verantwortlich. In Dortmund wird der Zug nämlich auseinander gekoppelt und auf getrennten Wegen weiter in die Welt hinausfahren, und natürlich will man gerade dort, wohin das Stück der netten Begleiterin fährt, nicht hin. Doch auch die richtige Hälfte wird ja einen Schaffner haben. Hat sie auch, er könnte Herr Thiersching heißen. Das allein wird nicht helfen.

Man könne sich doch auf den Platz, den man reserviert habe setzen, er könne aber auch gerne das Dach aufschließen auf das man dort Platz nähme, denn er habe keinen. Sitzt da, trinkt seinen Kaffee und starrt böse auf den Störfaktor Fahrgast. Der Zug sei eben zu voll. Das liege an der Deutschen Bahn, er könne dagegen nichts machen! Kaffe schlürfen, anstieren.

Den Einwand, den man nun bringt, er, der Schaffner, repräsentiere gerade die Deutsche Bahn, pariert er mit der zynische Bemerkung, ob man denn wolle, dass er nun die Kinder auf den kalten Gang werfe. Natürlich will man das nicht, denn schließlich "findet der Nachwuchs hier Freiraum, den er im Auto vermisst." (Werbeanzeige DB) Doch ebenso wenig will man die nächsten 10 Stunden selbst auf besagtem, fast frostig zu nennenden Gang herumstehen. Immerhin ist es Dezember. Auto wäre jetzt hervorragend und man könnte sogar sitzen.

Er werde jedenfalls nichts unternehmen und so einem dies gegen den Strich sei, könne man sich ja bei der Bahn beschweren, er habe mit dem ganzen Laden hier eigentlich, die Bahneruniform mal abgesehen, nichts am Hut bzw. an der Mütze.

Dem "unvergesslichen Erlebnis" (Werbeanzeige DB) kann man nun nicht mehr entgehen. Offen ist noch, ob es sich als schwerer grippaler Infekt, lokale Erfrierungen 2. bis 3. Grades oder nur als schwere Entzündung der Hämorriden im Gedächtnis halten wird. Dem Gang ist nicht zu entkommen, denn natürlich ist der Speisewagen völlig überfüllt und auch noch im falschen Teil des Zuges. Man verflucht die Phobie, die vielleicht von der Benutzung des Flugzeuges abhielt. Dort würde man wenigstens schnell sterben und nicht seine Beine dabei beobachten können, wie sie langsam immer gefühlloser werden, bis der Drang sich auf den eisigen Boden zu setzen übermächtig wird, obwohl man weiß, dass dies nur mit einer Lungenentzündung enden kann.

"Die meiste Zeit werden sie sowieso verschlafen und noch lange von dieser Traumreise schwärmen." (Werbeanzeige DB) Ist es noch Schlaf oder schon Koma, in dem man sich befindet? Seltsame Träume geistern quälend durch den schon leicht fiebergeschüttelten Körper - da steht eben dieser Schaffner vor einem und verlangt die Fahrkarte zu sehen. Diese jedoch steckt in der Tasche des armen Mitreisenden, der sich gerade auf gemacht hat, sich durch den Zug zu schleppen, um vielleicht wenigstens eine Wolldecke zu erbetteln, gegen die grimmige Kälte und für den Schlaf.

Ob man den nicht wisse, dass man nur mit einer Fahrkarte diesen Zug benutzen dürfe. Natürlich weiß man dies, doch ebenso weiß man, dass jener Schaffner die Schuld an der eigenen Verdammnis trägt und dies sehr genau wissen muss. Trotz allem nimmt man die letzten Kraftreserven in Anspruch und erklärt sein unwürdiges, aber doch berechtigtes Dasein in diesem Nachtzug der Deutschen Bahn.

Ohne Fahrkarte dürfe man sich nicht in diesem Zug aufhalten. Dass die Bahn Tickets für zwei Personen nur auf eine Fahrkarte drucke, sei ein Problem der Bahn und nicht seines.
Jetzt ist die Lage aussichtslos.

Nichts kann noch retten - es sei denn ein Wunder. Aus dem Bauch entwickelt sich ein Kribbeln. Man öffnet den Mund und staunt über sich selbst. Es ist Hass, der jetzt spricht und er ist laut. Sehr laut. Man kann sich später an den genauen Wortlaut nicht erinnern, doch der Schaffner, nun von Angst getrieben, zückt einen Schlüssel und öffnet - ein gänzlich leeres Dienstabteil, um dann hastig und mit flackernden Augenliedern zu flüchten. Später wird er dann in Begleitung zweier Sicherheitsbediensteter die Fahrkarten kontrollieren.

Man selbst ist der Urlaubsunfähigkeit glücklich entronnen. Weitere Informationen über das "familienfreundliche Nachtzugabteil" braucht man weder telefonisch noch sonst jemals wieder.

 

Tausendmal passiert
Von M. Gänsel

S7 Potsdam-Hauptbahnhof / Ahrensfelde

(Frau mit drei Kindern, zwei ca. 8-jährigen Mädchen und einem kleinen Jungen, steigt Nikolassee ein)

Frau: "Soooo, nun setzt euch mal hin. Der Laurenz setzt sich hier hin und ihr da rüber. Na los, Laurenz! Ja, fein, setz dich mal fein hier hin und schau aus dem Fenster."

Laurenz: (macht, was Mama will)

Mädels: (stehen schüchtern rum und zuppeln an ihren Zöpfen)

(Alle drei Kinder haben einen neon-grünen Zopf, Haarband ist das oder sowas, der ihnen aus dem kurzen Wuschelhaar über die Brust hängt. Mütter können so grausam sein.)

Frau: "Nun SETZT euch doch mal hin, HIER... so... na mein Gott... Jetzt rutsch doch mal richtig durch, die Wenke hat ja gar nicht richtig Platz!"

(Frau steht im Gang, obwohl neben Laurenz noch Platz wäre, und studiert den Stadtplan.)

Frau: "Guckt mal, da drüben ist Stau. Das ist die Avus, da kann man ganz schnell fahren!"

(Alle außer Laurenz schauen auf die Avus und lächeln gnädig.)

Wenke, durchaus berechtigt: "Aber Mama, die fahrn ja gar nicht!"

(Mama schaut konzentriert auf die elektronische Wagenanzeige.)

Wenke: "Was steht denn da?"

Frau: "Savi -" (bricht ab)

Wenke: "Platz! Da steht Platz!!"

Frau: "Ja, das ist ein Platz. Der... Sa... wieg... ni... nihe-Platz."

Wenke, sadistisch: "WIE heißt der?"

Frau: "Nee warte mal, das spricht man anders aus... i g n... das muss Sawinjehplatz heißen!" (murmelt mehrfach "Savinjehplatz, Savinjehplatz" vor sich hin.)

(Alle andern gucken aus dem Fenster oder in ihre Zeitung, Wenke pult am grünen Zopf.)

Plötzlich steht ein Typ auf, geht zwecks baldigen Ausstiegs zur Tür, dreht sich um und ruft lässig:

"ßawickni heißt det!"

Wenke: "Siehste! Du hast das falsch gesagt! Tzawickni!"

Frau: "Möchte der Laurenz was trinken? Na?"

 

Halt dich fest, Marie!
Besen mit dem Bus vertauscht
Von Mathias Deinert

Allen sind sie schon einmal aufgefallen, denn sie sind die Kühler- und Galionsfiguren unserer Stadtbusse: die greisen Fahrweiber. Niemand weiß, woher sie kommen oder wo sie überhaupt eingestiegen sind - sie stehen immer schon da, neben dem Fahrer. Sie beugen sich zu ihm und schwatzen, als seien sie mit ihm per Du; und oftmals SIND sie's sogar. Sie sind nie schön, immer aber zwischen 50 und tot, schlecht angezogen, mit ungekämmten Haaren und Wasser in den Beinen. Sie haben große Ohren und Nasen, die gar nicht selten mit Korkwucherungen überzogen sind. Auch riechen sie häufig abgeranzt.

Ihr Platz ist neben dem Fahrer. Da bleiben sie stehen. Ob nun Leute kommen, die sich beim Einsteigen erst an ihren Röcken oder ihrem ungepflegten Fiffi vorbeischieben müssen ("Ach kiek ma, Sie mag er!"), ob der Bus hält, fährt, bremst, sich in die Kurven legt oder Pause macht: nie weichen sie von des Fahrers Seite. Wenn der Bus anfährt, stützen sie sich gekonnt auf die Einlassschwengel, damit ihre Pfunde nicht aus der Bahn geworfen werden. Schulterblick nach rechts - durch ihre meist angetönten Brillengläser - und dann fühlen sie sich als die Löwinnen der Straße.

Will so eine Busreiterin irgendwann aussteigen, weiß der Fahrer das voraus, und obwohl niemand WAGEN HÄLT gedrückt hat, wird gehalten. Die greise Wichtigtuerin darf natürlich vorn hinaus. Wer von uns dürfte das?

Lässt eine solche Wuchtbrumme sich dennoch dazu herab, hinten auszusteigen, verfängt sich einer ihrer Röcke oder die Leine des Fiffis in den Klapptüren. Ich habe noch nie einen reibungslosen Abgang eines Fahrweibs beobachtet. Und ich habe schon mehr von ihnen gesehen, als meinen fünf Sinnen lieb war.

Ich arbeitete noch an diesem Text, da sagte eines Tages ein beherzter Greis während der Fahrt zu so einer Dame: "Sie dürfen dort nicht stehen bleiben! Gespräche mit dem Fahrer sind verboten." Aber sie tat den Einwand nur durch kurzes Schütteln ihrer Fettzotteln ab. Stille. Nach einer Weile meldete sich der Greis wieder: "Wenn jetzt scharf gebremst wird, fallen Sie ins Fahrerhaus." Und die übelriechende Dame zu ihm: "Ach halt' die Klappe, du alter Bock!" Der Busfahrer verteidigte die Dame durch sein Schweigen.

Wer sind diese eingebildeten Brezeln? Haben sie ein Recht, dort zu stehen? Vielleicht befindet sich unter unseren Lesern der eine oder andere Busfahrer, der mir etwas auf meine Ratlosigkeit antwortet. Ich trete auch gern mit einem Fahrweib in Kontakt, um ihre Position zu diskutieren. Ein Freund meinte unlängst zu mir, diese Damen habe es bereits zu IKARUS-Bus-Zeiten gegeben und sie seien für BUSFAHRERNUTTEN gehalten worden. Aber solch eine Unaussprechlichkeit kann und will ich nicht glauben… Wer hilft?

 

Man muss auch mal Prioritäten setzen können
Toleranz nach Regeln
Von Hans-Jürgen Schlicke

Unsere Gesellschaft ist weiß Gott angenehm-intellektuell kinderfeindlich, na sagen wir, kinderignorant. In der S-Bahn zum Beispiel würde keine Mama das Risiko eingehen, das schreiende Baby auf dem Nachbarsitz auszuwickeln, zu entwindeln, von seiner gelbgrünen, nur nach sich stinkenden Kinderscheiße zu befreien, abzuwischen, zu ölen und einzucrémen, um es wieder frisch zu windeln. Keiner (übrigens auch keine) würde der Mama etwa hilfreich die volle Windel abnehmen oder vielleicht ein eigenes Tempo reichen. Ausnahmslos angewiderte Reaktionen wären Mutter und Kind gewiss. Schließlich hat man schon genug Toleranz mit den ebenfalls nur nach sich stinkenden, aber wenigstens ruhig schlafenden Suffköppen zu üben, die allerdings ihre versabberten Gesichter bei jedem Bremsen auf die benachbarte Schulter legen wollen.

Ganz anders verhält sich die Gesellschaft zu Radfahrern. Wobei ich diesmal nicht den Charakter "Nach oben buckeln und nach unten treten" meine, sondern die Besitzer und Benutzer von Fahrrädern. Sie (die Gesellschaft) baut den Radfahrern zusätzlich zu den Straßen eigene, geteerte Wege mit fröhlichen Markierungen drauf, toleriert, dass sie in Zehnergruppen nebeneinander die Bürgersteige befahren und den zur Seite springenden, archaischen Fußgängern immerhin fröhlich zurufen, dass in den Unterführungen auch viel Platz ist.

Aber diese Tolerierung braucht - vor allem, wo es ein bisschen eng wird, in der S-Bahn etwa - trotzdem auch Regeln, von denen hier einige genannt sein sollen. Regeln für die Fußgänger.

A) Jedem Fahrradfahrer haben im Klappsitzbereich der S-Bahn mindestens drei nebeneinanderliegende Klappsitze zur Verfügung zu stehen. Schließlich erwirbt man als Fußgänger-Mitfahrer mit dem Ticket nicht das Anrecht auf einen Sitzplatz für eine Person, als Fahhradfahrer-Mitfahrer aber das Anrecht auf Platz für mindestens drei Personen. Ähnlich wie der Hundebesitzer-Mitfahrer. Störrische Fußgänger-Mitfahrer dürfen in den Nichtklappsitzbereich verwiesen werden. Egal ob überfüllt oder nicht. Am besten mit dem locker-fröhlichen Hinweis auf die Schwerbehinderten-Abteile. Zuwiderhandlungen können mit heftigen Radbewegungen geahndet werden, die zum Beschmutzen der vorzugsweise hellen Kleidungsstücke bis in den Kniebereich führen dürfen. Die Reinigungskosten trägt der Fußgänger-Mitfahrer.

B) Aussteigende Fußgänger-Mitfahrer dürfen sich nicht in der Mitte der Tür aufstellen. Grundsätzlich sind Fahrradfahrer-Mitfahrer immer zuerst in die S-Bahn hereinzulassen, bevor danach Fußgänger-Mitfahrer den Versuch starten können auszusteigen. Sollte es wegen mangelnder Entschlussfreudigkeit der Fußgänger-Mitfahrer dazu kommen, dass die Tür bereits wieder verschlossen wird, bevor der Ausstiegsversuch begonnen wurde, trägt der Fußgänger-Mitfahrer die Konsequenzen aus der sich durch das Aussteigen an einer anderen Station ergebenden Verspätung; eventueller Verlust des Arbeitsplatzes inbegriffen.

C) Fahrradfahrer sind hochkommunikativ. Wenn zwei, drei von ihnen nebeneinander mit geschultertem High-Tech-Rad vor einem Fußgänger auf der Treppe stehen und sich angeregt über die neueste italienische 27-Gang-Schaltung unterhalten, kann schon die eine oder andere Stunde darüber ins Land gehen. Da heißt es ideenreich einen anderen Weg ersinnen oder dem Fachgespräch mit weit geöffneten Augen und Ohren lauschen. Und sich fragen, wann man sich endlich auch so ein tolles Gefährt zulegt. Damit man dazu gehört.

 

Es fährt ein Zug nach Jerichow...
Reise in die 5. Dimension
Von P. Brückner

Ich bin ein aufgeklärter Mensch. Ich glaube an zivilisatorischen Fortschritt, die Wissenschaft und das Gute im Menschen. Bei Tageslicht. In mondlosen Nächten natürlich nicht! Gut, an stillen abgelegenen Orten trifft bemerkt man bei Nacht monströse Schatten, Schritte, ein Flüstern hinter dem Rücken - doch Nein , Ebenezer Scrooge hatte Recht: "Alles Mumpitz"!
Und außerdem. Wenn schon Gespenster, dann doch eher in Dartmoor oder Canterville, wo ewiger Nebel auf der Landschaft liegt, und nicht hier bei uns.

Der Glaube an Geister wäre auch sehr hinderlich, wie sollte man sich sonst durchringen, nach Jerichow zu fahren. Sie kennen Jerichow nicht? Nun so ziemlich in der Mitte des Nichts zwischen Potsdam und Magdeburg gelegen, schmückt es sich mit der ältesten romanischen Backsteinkirche Norddeutschlands. Ein Besuch lohnt sich und wird zur zwingenden Verpflichtung, wenn eine Freundin dort einen Vortrag hält.

Dort, in der straßenlaternenlosen Dunkelheit, fällt es schon schwerer, Mumpitz zu sagen. Doch alles verlief ohne Spuk und der RE 1 aus Magdeburg sollte uns Freunde der Referentin nun nach Hause, unter unsere Bettdecken bringen, wo mit Gespenstern ja auf keinen Fall zu rechnen ist. (Glauben Sie übrigens nicht, der Zug würde in Jerichow halten! Sie müssen vorher nach Rande Genthin, die Stadt am Rande des Nichts!)

Wir standen also am Bahnsteig und der Zug zurück war auch korrekt 21 Uhr 12 angezeigt. Noch zwei Minuten, noch eine - ein grässliches Geräusch durchbrach die Stille der Nacht. Mindestens vier Maschinengewehrsalven mussten die Bahnhofsvorsteherin in ihrem Büro getroffen haben und im Fallen hatte sie es noch geschafft, den Mikrophonknopf zu drücken. Dann Stille, die bald darauf von einer krächzenden Stimme unterbrochen wurde. "Der Zug aus *röchel* Magdeburg zur Weiterfahrt *röchel* nach Berlin-Ostbahnhof hat nun Einfahrt *ersterbendes Geröchel*". Doch der Zug rollte nicht in Bahnhof ein und schlimmer noch, die Anzeigentafel leerte sich. Kein Zug, keine Bettdecken - Kälte kroch an den Beinen hoch und ließ uns frösteln. Dann wieder die Maschinengewehre durch die Lautsprecher, denen aber statt einer Ansage nur ein Röcheln folgte.

Verunsichert drängten wir uns aneinander, die Verwegenen unter uns spotteten noch: "Na klar, bei der Bahn gibt es eben keine Verspätung, also ist der Zug pünktlich abgefahren, wir haben es nur nicht bemerkt." Doch ihre Gesichter verrieten Sie. Ihr Spott war nur Pfeifen im Walde. Dann sahen wir Lichter. Lichter, die unzweifelhaft zu einer Lok gehörten. "Gott sei Dank, da ist der Zug - nur weg von hier!" Niemand sprach es aus, aber wir alle dachten das Gleiche. Fünf Minuten später hatten die Lichter uns immer noch nicht erreicht, obwohl die Entfernung doch nur wenige hundert Meter betrug. Doch sie kamen näher, langsam aber unaufhaltsam näher!

Dann wieder das Röcheln, diesmal ohne Gewehrgarbe. Lautlos rollte ein Zug in den Bahnsteig. Mit dem Mut der Verzweiflung drückten wir auf die Türöffner - nichts geschah. Drinnen hämmerten totenbleich Menschen gegen die Türen - erfolglos. Wir wollten hier weg, egal wohin dieser Zug auch ging! Das Röcheln hatte wieder eingesetzt.

Mit dem Mut der Verzweiflung stemmten wir uns gegen die Tür - und sie ging auf. Drei Menschen stürzten mit "ogottogott" aus dem Wagon, doch was blieb uns übrig. Wir sprangen hinein. Das Röcheln hatte wieder eingesetzt.

Im Zug war keine Menschenseele zu sehen. Wir kauerten uns zusammen und hielten unsere Fahrkarten bereit. Auf keinen Fall wollten wir den Schaffner verärgern, ahnten wir nicht einmal in unseren kühnsten Träumen, in welcher Dimension er beheimatet sein könnte. Lautlos rollte der Zug in die große Dunkelheit davon - mit uns. Das Röcheln hinter uns lassend, fuhren wir einem ungewissen Schicksal entgegen. Doch wir hatten Glück, kein transparentes Wesen schwebte auf uns zu. kein kettenklirrendes Skelett verlangte unsere Fahrkarten. Während der Fahrt sahen wir überhaupt niemanden. Zu unserer Freude hielt der Zug nach vierzigminütiger, geräuschloser, angsterfüllter Fahrt in Potsdam. Auf dem Bahnsteig schüttelten wir uns, um das Grauen hinter uns zu lassen. Doch horcht, da war wieder dieses Röcheln...

 

Liebe ist...
...wenn man trotzdem Bahn fährt
Von M. Gänsel

5 Gründe die Deutsche Bahn AG zu mögen:

1) Herr Schmidt, der launigste unter allen Zugansagern ("Meine sehr verehrten Damen und Herren, mein verehrter Name ist Schmidt und ich bin heute ihr Zugbegleiter. Ich begrüße Sie ganz ganz herzlich hier auf der Fahrt nach Wustermark, wünsche Ihnen eine angenehme Fahrt und freue mich Sie hier an Bord begrüßen zu dürfen. Und da ist auch schon der nächste Halt, wir erreichen in diesen Minuten den Bahnhof Charlottenhof!"), ist nach Monaten schmerzlichen Vermissens wieder aufgetaucht: Auf dem Hauptbahnhof in Potsdam empfängt er nun einfahrende Züge ("Meine Damen und Herren, wir wünschen ein herrrzliches Willkommen in Potsdam Hauptbahnhof!"). Solange Herr Schmidt bei der Bahn arbeiten darf, ist noch nicht alles verloren.

2) Der Ansage-Knopf-Drücker vom Bahnhof Friedrichstraße. Er sitzt definitiv mehrere Kilometer von Mitte entfernt und drückt frei Schnauze die Knöppe. Verspätungen werden frühestens fünf Minuten nach Abfahrtszeit bekannt gegeben, gern in folgender Manier: "Meine Damen und Herren! Der Zug von [PAUSE] Frankfurt [PAUSE] Oder [PAUSE] nach [PAUSE] Brandenburg [PAUSE] verzögert sich heute um [PAUSE] sssschhhhhhschh [einfahrende S-Bahn] Minuten." Während sich auf den Bahnsteigen Wahnsinn ausbreitet, sieht man die ganze lange Zeit über nicht einen uniform-bewehrten DB-Angehörigen. Die sind ja nicht blöd.

3) Die Raucher-Areale auf den Bahnsteigen. Anfangs sozialer Randgruppentreff, hat sich das Raucherareal nun zu einem veritablen Kontaktanbahnungspoint entwickelt. Mittlerweile traut sich jeder dort zu rauchen und man kann über Verspätungen die Augen verdrehen, sich Feuer geben, dem andern den Vortritt beim Ausdrücken der Kippe lassen und einander verraten, wo man hin möchte.

4) Die Klimaanlagen in Regionalexpress-Doppeldeckern. Schweineheiß (Winter) oder arschkalt (Sommer): Dazwischen gibt es nichts. Wenn die Bahn nicht wäre, würden wir unseren Dauerschnupfen loswerden, hätten unsere Jacken immer umsonst mit und könnten keine Gänsehaut kriegenden Teenager beobachten. Außerdem gäbs nix zu meckern.

5) Das Deutsche-Bahn-Rätsel: Die Nächster-Halt-Ansage im RE 1. Wenn wir in Potsdam losfahren, klingt es schon bald "Tüdüütüdelüüütüdüüdülüü - Wir erreichen jetzt den Bahnhof - Berlin Wannsee." Dann geht es weiter, und wegen der unseligen Bauarbeiten am Bahnhof Charlottenburg halten wir dortselbst. Doch hier warnt uns keine Ansage vor. Hat die Zeit nicht gereicht, eine auf Band zu sprechen? Nein: Kaum haben wir den Bahnhof verlassen und rauschen Richtung Zoo, ertönt: "Tüdüütüdelüüütüdüüdülüü - Wir erreichen jetzt den Bahnhof - Berlin Charlottenburg." Und gleich darauf: "Tüdüütüdelüüütüdüüdülüü - Wir erreichen jetzt den Bahnhof - Berlin Zoologischer Garten." Und das ist IMMER so, nie schafft es die Ansage rechtzeitig, IMMER kommt sie nach der Station - zu spät. Touristen, Kirchentager u.a. verzweifeln.

Warum? Wie sind die Ansagen aufgenommen, drückt der Zugführer nicht bei jeder einzeln? Offensichtlich nicht, der Fehler ist immer der gleiche, das ist kein Zufall! Die schönste Erklärung eines Freundes: Die haben eine Kilometer-Schalte: Bei Kilometer 100 kommt Potsdam Hauptbahnhof, bei Kilometer 115 Berlin Wannsee, bei Kilometer 140 Berlin Zoologischer Garten. Nun hätte Charlottenburg Kilometer 132 sein müssen, irgendein Vermassler hat aber Kilometer 135 eingegeben. Schlamassel, für immer! Oder?

Deutsche Bahn, du unser Rätsel. Wir kriegen das raus, bis zur nächsten Nummer!

 

In der Stadtschnellbahn früh um halb Neun
Ansichten eines Prolls
Von Hans-Jürgen Schlicke

Als sich seinerzeit der Tross mit den Schranzen aus Bonn in unser schönes, verschlafenes Berlin auf den Weg machte, war ich überzeugt, dass die paar tausend Bonner in der Hauptstadt unsichtbar bleiben würden wie die kleinen gelben Perlen in einer Liebesperlenflasche. Und zu Beginn hatte es ja auch genau diesen Anschein.

Die Dimido's, wie sie wegen ihrer Drei-Tage-Arbeitswoche genannt wurden, kamen montags per Bundeswehrflieger nach Berlin, wurden in Bundeswehrbussen mit abgedunkelten Scheiben in ihre Internate gekarrt, suchten drei Tage lang unterirdisch ihre Büros auf und gelangten freitags auf umgekehrtem Wege wieder an die heimischen Rheinufer zurück. Nur ganz kurz keimte einmal die Frage in mir auf, ob die abgedunkelten Busfenster UNS vor den Höflingen oder SIE vor den versifften Berlinern bewahren sollten. Aber nur ganz kurz.

Unlängst allerdings hätte ich mich beinahe verliebt in eine, die - im dunkelgrauen, wirklich feinen Zwirn und mit kleinem Flying-Dutchmen-Reisegepäck - an einem Sonnabendmorgen neben mir Platz nahm und nach dem Weg zum Bellevue fragte. Freundlich lächelnd, schönstes Deutsch sprechend und sehr geschmackvoll angemalt, achherrje. Seither sehe ich ständig Bürschchen und Frolleins in die S-Bahn kommen, die exakt dieses Outfit tragen und die jeder S-Bahn-User in den Vorzimmern der Macht wähnt. Der politischen Macht, meine ich. Erst in den Vorzimmern zwar, aber immerhin.

Wo soll das hinführen, Leserinnen und Leser? Nicht genug, dass es in Kreuzberg immer mehr Pinten gibt, wo sie die Verve haben, diese Reissdorf-, Gaffel- oder Gilden-Plörre auszuschenken. Nicht genug, dass die StäV am Schiffbauerdamm langsam zum Muss des Mainstreamtouris geriert, wo sie doch ursprünglich als letzte Zufluchtsstätte für Leute auf Himmel+Aid-Entzug eingerichtet worden war, mit einfachem Gestühl und patriotischer Fotostrecke und dem Umzugsbeschluss im Vorraum zur Toilette. UND nicht genug, dass im BE in der Reihe hinter dir neuerdings noch nicht fertig promovierte Anwärter auf irgendwelche Hilfsreferendarpöstchen im Außenministerium sich lauthals lustig machen dürfen über das geniale Bühnenbild beim Richard II.

Nein. DIE fahren jetzt alle in meiner S-Bahn mit, lesen Berliner Zeitungen und tragen vor allem Klamotten, die allesamt aus Outletts stammen müssen, wo man auch den Staublappen zum Fernseherabwischen von Armani kauft. Das kratzt mein Stil- und Selbstbewusstsein. Sollten die jetzt alle vernünftig geworden sein? Öffentlich verkehren, gemeinsam mit mir, anstatt sich zum kleinen Schwarzen auch noch den kleinen schwarzen Mini oder kleinen silbernen Smart oder kleinen roten A3 zu besorgen? Na ich weiß nicht. Langfristig hab ich keine Lust, von GAP oder Sinn & Leffers oder Springfield auf Mientus umzusteigen, ehrlich mal.

Ich vertraue lieber drauf, dass die beiden Beinahe-Assessoren aus dem BE ziemlich schnell raffen werden, dass ihres Unterstaatssekretärs Sekretärin gerade frisch einen silbernen 100-PS-TDI von ihrem Männe bekommen hat und sie ewig weiter den Kopierer reinigen müssen, wenn sie sich nicht bald mindestens einen TT oder einen 321er zulegen. Farbe egal.

 

© POTZDAM 2001-2009