Berlinale 2014
Inhalt
 

Schaulaufen auf dem roten Teppich
6.–16. Februar 2014
Von Astrid Mathis

Jeff Goldblum

Sechster Tag
11. Februar 2014
Von Astrid Mathis

Die Vorteile des silbernen Bären

Gestern saß beim Nachmittagsfilm "Aimer, boire et chanter" Michael Gwisdek neben mir. Er half mir aus dem Mantel, als ich mich platzieren wollte, und da hatte er gleich einen Stein bei mir im Brett. Wann kommt das während der Berlinale schon mal vor? Wann kommt das überhaupt noch vor? Kurzum, ich fand Michael Gwisdek vorher schon toll, jetzt erst recht. Und er erzählte auch gleich, dass er angesichts der 1000 Leute langsam dahinterkomme, warum er sich so früh am Kino einfinden sollte. Er war dort nämlich als Kritiker im Einsatz. Also wie meinesgleichen. Ob ich schon einen Bären gesehen hätte. Nö. Er komme jetzt ja überall rein, somit habe es sich ausgezahlt, selbst mal einen silbernen Bären ergattert zu haben. Selbst kurzfristig zu irgendeiner Premiere oder Party. Hm. Sein Friedrich in "Oh, Boy" hatte mir auch sehr gefallen. Ach, ja. Er war ganz bescheiden. Ich holte aus. So was wie "Arturo Ui", das sei was Unvergängliches. "Wer hat denn damals den Schauspieler gespielt?" fragte er. Na, will der mich ins Bockshorn jagen? "Sie, selbstverständlich. - Fand ich auch toll." Bei der Gelegenheit, na, wo er schon mal neben mir saß, musste ich doch nach seiner Signatur fragen, das gehörte sich doch so, und ich würde es sonst bereuen. Machte er gerne. Nun sollte der Film beginnen. Gleich war klar, Theater im Film. Alle wollen George auf seiner Reise begleiten, weil er das Zeitliche alsbald segnen soll und er nur sie lieben würde. Das gleiche Versprechen für drei Frauen, damit kann man einen Film füllen. Selbstverständlich würde man George nie sehen. Ich merkte, wie mir die Augen zufielen. Wie ich gehen wollte. Wie ich nicht gehen konnte, weil das einen unmöglichen Eindruck auf Michael Gwisdek machen musste. Ich hielt durch. Das Licht ging an. "Schönes Theaterstück. Ob der Film einen Bären bekommt?" wollte Michael Gwisdek noch wissen. "Auf keinen Fall", hörte ich mich sagen und dachte für einen Augenblick an den Alfred-Bauer-Preis für innovative Neuentdeckungen. Auf keinen Fall. Und schon war Herr Gwisdek im Getümmel verschwunden.

Berlinale Spezial

Die zwei Gesichter des Januars
Der Streicher - ganz zart

Pressekonferenzen zu besuchen, ohne den Film gesehen zu haben, ist schon komisch, aber bei Viggo Mortensen ging es nicht anders. Da nahm ich gern in Kauf, ahnungslos mittenmang dem Frage-Antwort-Spiel zu lauschen. So richtig kam es allerdings nicht ingange. Auf dem Podium hatten die Schauspieler Viggo Mortensen, Daisy Bevan und Regisseur Hossein Amini Platz genommen. Er sei stolz auf den Film, alles wurde mit so viel Anmut, ja, Grazie gemacht. So Mortensen, der Anke Engelke nach ihrer Frage darauf hinwies, dass noch andere Leute auf dem Podium säßen außer ihm. Ein großes Vergnügen war es, in Griechenland zu drehen, bekannte der Regisseur. 25 Jahre war es her, seit er mit der Geschichte erstmals in Berührung kam. Der Roman von Patricia Highsmith aus den 60ern hatte mit Griechenland die ideale Kulisse, auch wenn es dort nicht mehr wie in den 60ern aussähe und vor dem Hotel gestreikt wurde. Seine Lieblingsszenen seien die ohne Dialog, mit einem Blick könne man so viel mehr sagen. Tja, mit Viggo Mortensen hatte er den richtigen an seiner Seite. Der sagte selbst jetzt am liebsten nichts, ließ sich immerhin dazu hinreißen zu erklären: "Hoss ist ein Gentleman." Der zur Ruhe riet. Die Geschichte bestehe eben darin, dass erst alles schön sei und dann in interessanter Weise zerfalle. Das sei gutes Geschichtenerzählen. Daisy, die wohl als Einzige nicht lüge, habe etwas von der personifizierten Unschuld, bemerkte einer der Journalisten. Daisy: "Aber die wird beschädigt." Auf die Frage nach Highsmith-Lieblingsromanen meint Mortensen: "Der talentierte Mr. Ripley". Nach knapp einer halben Stunde weiß auch die Moderatorin nichts mehr zu fragen.


 

Premiere im Zoo-Palast

Als ich das Gewimmel am roten Teppich vor dem Zoo-Palast bemerke, keimt in mir die Hoffnung auf, es könne sich doch um einen großartigen Film handeln. Wie ich meine Kamera nach oben hangle, höre ich aber schon Kommentare wie: "Wer is'n da? Eener von GZSZ?" Egal. Viggo gibt Autogramme und lächelt sogar ein bisschen. Drinnen sichere ich mir am Eingang rechts den Platz und eile noch einmal ins Foyer, um einen Blick zu erhaschen.


 

Schließlich ist der Moment der Crewvorstellung da. Kirsten Dunst wird schmerzlich vermisst. Ich bin gespannt auf die Rolle von Daisy. Viggo Mortensen sieht irgendwie verloren aus zwischen Bodyguards und Dieter Kosslick. Langsam habe ich den Eindruck, er hätte den Film nur gemacht, um seine Familie zu ernähren. Die Europapremiere von "Herr der Ringe" sah garantiert anders aus.

 
Der Film

Alles sehr schön. Wirklich. Ein Traumpaar in Beige und Weiß. Er - ein bisschen älter, aber sehr, sehr attraktiv. So schön muss Liebe sein, wenn man in Griechenland Urlaub macht. Das Paar wird beobachtet. Rydal Keener, ein Fremdenführer, sucht Kontakt und bekommt ihn. Offensichtlich ist der junge Mann im Tricksen besonders fit. Er fälscht beim Schmuckhändler und beim Amerikaner gleich mit. Was soll's?! Er ist sympathisch, woraufhin die Amis ihn mit Begleitung gleich zum Abendessen einladen. Soweit die Rolly von Daisy Bevan. Gemütliches Beisammensein, aber ach. Die Uhr der Liebsten bleibt im Taxi. Der Feilscher muss zurück. Indessen hat sich ein unangenehmer Gast im Zimmer der Amerikaner angekündigt. Einer, den Chester kaltmacht. Unglücklicherweise. Beim Umlagern ewischt ihn auch noch der junge Mann. Sie müssen sofort verschwinden. Rydal will Pässe besorgen, alle sitzen in einem Bus. Doch irgendwie herrscht zwischen ihnen keine gute Stimmung. Schon einmal ist Chester vor Eifersucht ausgerastet. Als der Bus Pause macht, rächt er sich eindeutig an seinem Widersacher, erwischt blöderweise auch noch seine Frau auf der Treppe. Was nun? Flucht! Er trifft sich mit dem Passdealer, während sich der Niedergeschlagene aufrappelt und die begehrte Frau (Colette) tot am Boden liegend vorfindet. Kurz vor der Passkontrolle hat er ihn, zwei in einem Boot. Mein Vater, sagt er.

Viggo Mortensen und Hossein Amini haben den Saal schon mit der ersten Einstellung verlassen.

Ein solide erzählter Krimi vor schöner Kulisse mit vielen Blicken.


Panorama

"Finding Vivian Maier"
Auf der Suche nach einer ungewöhnlichen Frau

Man stelle sich vor, da ist einer, - nennen wir ihn John Maloof -, der ersteigert eine Kiste mit Fotofilmen und Negativen und allerlei mehr und entdeckt, dass diese Zeitdokumente gar nicht schlecht aussehen, einen Sinn ergeben. Mehr noch, sie sind verdammt gut, Kunst! Hinter dem Fotografen verbirgt sich eine Nanny, die ihr liebstes Hobby im Zimmer versteckte. Die einen französischen Akzent vorgab, ohne französische Wurzeln zu haben und der Attribute von "sehr eigen" bis "sehr merkwürdig" anhaften. So der Tenor der Befragten. Was für ein Wahnsinn, solch eine Entdeckung zu machen. Zuerst interessiert sich niemand, und auf einmal organisiert Maloof Ausstellungen in der ganzen Welt, die Betrachter sind hin und weg von den Aufnahmen mit einer Rolleiflex.

In seiner Dokumentation nimmt John Maloof den Zuschauer mit auf eine Reise in die Vororte von Chicago, wo er die Familien befragt, bei denen sich Vivian Maier einrichtete. Sie alle beschreiben ihren ulkigen, militärischen Gang, die Sehnsucht nach Abgeschiedenheit und Reisen in ferne Länder, von der Marotte, Zeitungen aufzutürmen und Artikel mit skurrilen Kriminal- und Mordfällen aufzubewahren. Sie formen aber auch das Bild einer Frau, die mit wachem Blick Szenen auf der Straße per Kamera einfing und streng zu den betreuten Kindern sein konnte. Vivian Maier starb am 21. April 2009 einsam im Alter von 83 Jahren.

Im anschließenden Q & A im Cinestar rückte John Maloof, der die Liebe zu Flohmärkten und Zwangsversteigerungen von seinem Vater hat, raus mit der Sprache. Seit dem Tag der Ersteigerung im Jahr 2007 beschäftigt er sich mit dem Leben einer fremden Frau. Ungläubig fragte einer der Kinozuschauer: "Und sie haben ein ganzes Zimmer voller Sachen von dieser Frau, die sie nicht kennen?! Ein ganzes Leben?" Alles im Keller verstaut, versicherte Maloof. Er hatte nach dem Kauf der ersten Kiste eine Adresse gefunden, die auf eine Familie hinwies, deren Kindermädchen Vivian Maier war. So ging es los. Manche Kinder standen Vivian näher als deren Eltern, und sie lebte auch zu dem Zeitpunkt der Ersteigerung noch, ohne dass Maloof Kontakt zu ihr finden konnte. Im Alter von 72 Jahren war sie von der letzten Familie weggezogen, ihre Straßenfotografie wurde durch John Maloof seit der ersten Ausstellung 2011 weltbekannt. Es sind noch einige 100 Filme zu entwickeln.

Anmerkung: Lieber John Maloof, wenn du noch ein Zimmer frei hast, kannst du mich gern beerben. Ich habe viele Fotos und Texte, die nur darauf warten, von einem so engagierten Menschen wie dir entdeckt zu werden.

 

Fünfter Tag
10. Februar 2014
Von Astrid Mathis

Es geht schon gut los. Wieder mal sitze ich in einem Film und denke: "Hätte ich bloß die Kurzbeschreibung durchgelesen!" Der chinesische Wettbewerbsbeitrag "Tui na - Blind Massage" war nichts. Der Film ist keine Minute ingange, da schlitzt sich der blinde Protagonist schon mit einer Keramikschale im Gehen den Hals auf. Leider fiel mir nicht ein, einfach selbst zu gehen. Leider schlief ich nicht die zwei Stunden durch, sondern war in den schrecklichen Momenten hellwach. Die zu schildern, überlasse ich anderen. Im Pressebereich des Hyatt treffe ich eine Kollegin, die sich gerade Karten für den nächsten Tag geholt hat. "Ach, warst du gar nicht in dem Film?" frage ich. Sie: "Blinder Mann verliebt sich in sehende Prostituierte. Massagesalon. Ach, hör' mir doch auf mit chinesischen Filmen! Da weiß man ja schon alles." Ich verkünde stolz: "Ich bin mit Mandarin jetzt auch durch." – Nicht, dass ich den Eindruck erwecke, zimperlich zu sein. Ich kann schon was ab. Zum Beispiel, wenn es aus Norwegen kommt.


Wettbewerb
"Kraftidioten" - "In Order of Disappearance"
Sonne oder Wohlfahrt

Der norwegische Regisseur Hans Petter Moland hat alles richtig gemacht. Er hat Stellan Skarsgard die Hauptrolle in seinem neuesten Film gegeben. Er spielt in Norwegen bei schönstem Schneefall, denn Skarsgards Figur ist Oberschneeschieber. Mit seiner Schneefräse und anderen technischen Trickmaschinen karrt Nils Dickman alles weg. Das macht er so gewissenhaft, dass er als Ehrenbürger ausgezeichnet wird. Der Morgen nach der Preisverleihung ist grausam. Sein Sohn Ingvar wurde mit einer Überdosis tot gefunden. Er kann es nicht glauben, seine Frau wütet und schweigt dann. Dickman will das Problem allein lösen und erfährt, dass sein Sohn wie erwartet in Drogengeschäfte hineingezogen wurde und ein großer Fisch dahintersteckt. Um diesem auf die Schliche zu kommen, bedarf es einiger Leichen, über die Nils gehen muss. So klatscht Moland dem Zuschauer in regelmäßigen Abständen ein Kreuz mit Namen vor die Linse, damit man auch weiß, wer verschwunden ist. Der große Fisch ist übrigens ein sehr weiblicher, durchgeknallter, von seiner Frau getrennter, junger Norweger-Mafiaboss namens "Graf" (sehr schön überzogen: Pal Sverre Hagen). Der kommt erst mal nicht drauf, wer ihm ans Leder will und vermutet eine andere Mafiosigang. Sein Gegenspieler ist serbisch, Bruno Ganz mimt ihn mit Countenance und Kaltblütigkeit. Das einzig Romantische im Film ist übrigens eine Szene zwischen zwei Dienern des Grafen, die sich offensichtlich ineinander verliebt haben und sich ausgiebig über die schlechte wirtschaftliche Situation in Sonnenländern und die Wohlfahrtsstaaten in Skandinavien unterhalten - frei nach dem Motto "Sonne oder Wohlfahrt". Der Knast soll da ganz wunderbar sein. Einer der Schurken hat da kostenfrei seine Zähne sanieren lassen. Diese und andere heitere Anekdoten gibt es en gros. Kein Gewinnerfilm, aber sehr erfrischend.

Die Pressekonferenz

An was erinnert sich denn Stellan Skarsgard von den Dreharbeiten. "Die Kälte!" kommt es wie aus der Pistole geschossen. Er sei sowieso der "indoor"-Typ, aber alle paar Jahre zwinge ihn Moland in unmögliche Situationen. Am wenigsten kann Skarsgard fassen, dass die Norweger die verrückte Idee hatten, eine Premiere am Originaldrehort anzusetzen. Wo man doch im Dunkeln von der schönen Landschaft und den Bergen überhaupt nichts sähe! Bruno Ganz kann sich dem nur anschließen. "Es war kalt, viel Schnee." Was die Sprache angeht, die er spricht… Ach, sie wussten doch selbst erst nicht, welche Sprache er sprechen soll. Ganz meint schmunzelnd: "Er hat ja eine Narbe am Hals, also wurde ihm in den Hals geschossen. Man versteht ihn meist sowieso nicht, aber es ist serbisch." Stellan Skarsgard spricht natürlich am liebsten in seiner Muttersprache Schwedisch, erzählt er, auch wenn die skandinavischen Sprachen wie Dialekte einzuordnen seien. Am liebsten sonst noch Englisch. "My German is sehr schlecht." Nun mal zu den Frauen. Die spielen im Film nur kleine Rollen, sprechen allerdings Tacheles. Moland unterstreicht in der PK: "Die Frauen sind einfach viel schlauer als Männer. Sie müssen sich mit Schlägereien nichts beweisen." Und das sei der Punkt. Nils Dickman ist nämlich gar kein gewalttätiger Typ, versuche, das ja eigentlich zu vermeiden. Seine besondere Situation bringe ihn dazu zu morden, weil er Gerechtigkeit will. Wo wir gerade beim Tod sind, Bruno Ganz bemerkt klar auf die Frage, was denn komisch am Tod sei: "Ich bin ihm von denen auf dem Podium wahrscheinlich am nächsten. Am Tod ist gar nichts komisch." Er hat sich schon ein Grab gekauft, kostspielige Sache, das Ganze. Schließlich kommt der wohl jüngste der Herren zu Wort. Shootingstar Jakob Oftebro, der mit seinem Kollegen Anders Baasmo Christiansen die Kuss-Szene bestreitet. Als er das Skript las, fand er alles okay. Beim Kuss war sein Reflex: "Oh, no!" Es war sein erster Kuss mit einem Mann überhaupt, gestand er. Wobei Anders ein echter guter Küsser sei. Irgendeiner hätte ja für die Romantik sorgen müssen.



 

Vierter Tag
9. Februar 2014
Von Astrid Mathis

Wettbewerb

"Kreuzweg"
Glaube, Liebe, Ende

War ja klar. Der deutsche Wettbewerbsbeitrag "Kreuzweg" muss ja am Sonntagmorgen laufen. 9 Uhr. Natürlich wird sofort die Erinnerung an den Film "Requiem" wach. Ich schrieb "Sandra Hummer ist der Hammer". Und auch jetzt haut die Hauptdarstellerin Lea van Acken das Publikum von den Sitzen oder besser gesagt, hält es auf den Sitzen. "Was das wohl werden wird", raunten sich die Kollegen vorher zu, doch dann ging niemand. Interessiert und sicherlich, um reinzukommen, verfolgten die Zuschaueraugen den Vorbereitungsunterricht vor der Firmung von Maria noch zweifelnd. Florian Stetter, der als Schiller herausragend schillert, begegnet uns hier als steifer katholischer Pfarrer, der Verzicht als das A und O für einen Katholiken sieht - und dazu zählt auch der Verzicht auf die Kekse, die die Tischmitte zieren. Eine Einstellung, eine Szene, die Minuten dehnen sich, wir sind ganz bei Maria, die ihrem kranken vierjährigen Bruder ein Opfer bringen möchte, um ihn zu heilen und doch keine befriedigende Antwort auf ihre Frage bekommt. Noch mehr, als sich im nächsten Augenblick Maria beim Spaziergang zum Familienfoto aufstellen soll und ihre Mutter nur mit ihr meckert. Aber nicht mal so ein bisschen, sondern richtig. Einzige Verbündete ist Bernadette, das Kindermädchen, das genau wahrnimmt, dass Marias Brüder besser bei der Mutter wegkommen. Ein Aufflackern vom Leben, von dem Leben einer 14-Jährigen, ist spürbar, als sich Maria in der Bibliothek mit einem Mitschüler unterhält. Der mag sie ganz offensichtlich und lädt sie in seinen Chor ein, der Beethoven, aber auch Gospel und Blues einstudiert. Wenig später bittet sie ihre Mutter, am Donnerstag zum Chor gehen zu dürfen, verschweigt jedoch, dass die Einladung von einem Jungen kam. Die Mutter flippt trotzdem aus, schüchtert ihre Tochter ein, macht ihr Vorwürfe, das sei teuflische Musik, dann könnten sie die Firmung gleich vergessen, inklusive Kleid. Spätestens da weiß man, Maria befindet sich tatsächlich auf dem Kreuzweg. Und wie dieser endet, ist ja allgemein bekannt.

Der in Kapitel eingeteilte Film trumpft mit seiner Struktur auf und gewinnt durch die Darstellung der Hauptfigur. Lea van Acken kann ihr Glück selbst nicht fassen. 2011 hatte die 14-Jährige noch in Bad Segeberg bei den Karl-May-Spielen alternierend auf der Bühne gestanden, jetzt ziert sie Plakate auf der Berlinale. "Ich bin ganz normal zum Casting gegangen, und dann hat es geklappt", erzählt sie strahlend. Die Schule will Lea erst mal zu Ende machen. Sie ist übrigens christlich erzogen, aber mit ganz viel Liebe.
 

Wettbewerb (außer Konkurrenz)

"Nymphomaniac vol. 1"
Liebe ist die beste Zutat

Was hat sich Dieter Kosslick bei dieser Tageszusammenstellung nur gedacht?! Tststs! Die Schlange im Berlinale-Palast will kein Ende nehmen. Lars von Trier ist bekanntermaßen immer für einen Skandalfilm gut, und da kommt er auch schon. Die ersten Minuten tropft Regen von den Dächern in den Rinnstein, das sind die Vorboten, die Assoziationen zum Sex zulassen. Rammstein läuft, Charlotte Gainsbourg liegt verwundet und beschmutzt am Boden. Stellan Skarsgard schlurft mit Einkaufsbeutel daher und bietet Tee an. Hm, sie habe das verdient, meint die Frau, Joe, aber Seligman will ihr nicht glauben. Er erzählt, was wir schon alle einmal über das Fliegenfischen wissen wollten und seit dem Film "Aus der Mitte entspringt ein Fluss" vermisst haben, auch Parallelen zum Sex. Aber rein sachlich. Was anfangs vielleicht interessant und belustigend wirkt, wird in der zweiten Hälfte des Films zur Schlaftablette. Die Gespräche zwischen Joe und Seligman. Also, um es deutlich zu sagen, Männer um mich herum schlafen ein und schnarchen leicht vor sich hin. Dabei ist der Film doch viel unterhaltsamer als erwartet. Stacy Martin spielt die junge Joe, die sich mit ihrer Freundin einen Wettbewerb liefert, wer die meisten Männer im Zug flachlegt. Interessant. Hat was von Schulmädchenreport. Ihr Erster ist, nebenbei bemerkt, Jerôme, von dem sie sich entjungfern lässt, um dann festzustellen, dass sie ihn nie wiedersehen will. Natürlich sieht sie ihn wieder, darin liegt ja der Sinn der Sache. Und zwar lange, nachdem ihre Freundin ihr zuraunt, dass die beste Zutat für Sex die Liebe sei, woraufhin Joe ihr die Freundschaft kündigt. Als Joe Jerôme (Shia LaBeouf) wiedersieht, ist er hin und weg von ihr, sie desinteressiert. Er vertritt seinen Onkel, sie die Auffassung, dass sie mit jedem in der Firma geschlafen haben muss außer mit Jerôme. Doch es kommt, wie es kommen muss. Sie wird ganz vernarrt in ihn, erniedrigt sich selber, indem sie absichtlich Fehler macht, und sie weiß plötzlich, wie brutal Liebe sein kann. "Liebe ist etwas, um das man nicht gebeten hat. Sie passiert." Es wäre zu einfach, die beiden zusammenkommen zu lassen, also heiratet Jerôme seine Sekretärin, und Joe empfängt um die acht Männer am Tag in ihrer Wohnung. Zu blöd, dass einer plötzlich mit Koffer in der Tür steht und dann die Ehefrau mit beiden Söhnen anklopft. Ach, beinahe einzieht! 25 Minuten köstlichster Monolog hat Lars von Trier Uma Thurman zugeschrieben, die in ihrer Theatralik aufgeht und das Publikum begeistert. Und noch ein Plus hat Lars von Trier sich verdient. Er erzählt nämlich auch von der herzlichen Beziehung zwischen Joe und ihrem Vater (Christian Slater), der alles über Blätter, ja, die ganze Natur, weiß. Eine Zärtlichkeit keimt da auf, die nie zwischen ihr und ihrer Mutter spürbar ist. Um so schlimmer ist es für Joe, ihren Vater, der selbst Arzt ist, unheilbar krank zu wissen. Sie hält das kaum aus und schnappt sich zwischendurch ein paar Sexobjekte aus dem Krankenhauspersonal. Seligman hat für alles eine Entschuldigung. Das sei doch keine Sünde. Volume 2 folgt.

Die Pressekonferenz

Lars von Trier lächelt für die Fotografen, auf dem Podium fehlt er wegen seines Verbots, nicht mehr an Pressekonferenzen auf Festivals teilnehmen zu dürfen. Daran hält er sich brav, und die Schauspieler müssen den Film allein ausbaden. Das tut Uma Thurman liebend gern. Sie ist der Star, der mit Christian Slater um die Wette strahlt. "Das waren die besten Tage meines Lebens", schwärmt die Schauspielerin. Während von Trier Christian Slater immer bremste mit "slow down" ("mach langsamer, weniger"), erzählte er Uma Thurman das Gegenteil. Übertreiben! Den Raum so einzunehmen, das hatte schon etwas Maskulines. So spielen zu dürfen, das habe man sonst nie. Mit Lars von Trier zu drehen, bedeutete eine Menge Spaß.

Ihr Kollege Stellan Skarsgard beschreibt hingegen, er habe das Buch gelesen und zur Kenntnis genommen, dass er keine Sexszenen hat. Augenzwinkernd schiebt er nach: "Es gibt Schlimmeres, als allein in einem Raum mit Charlotte Gainsbourg zu sein."

Ein männlicher Journalist fühlt sich angesprochen und beginnt mit dem Kommentar: "Ich habe den Film vier Mal gesehen. Der macht ja süchtig! Warum? Können Sie das erklären?" Will ich alles gar nicht wissen, denke: "Besorg' dir lieber mal 'ne Freundin". Und keine Ahnung, was Shia LaBeouf in diesem Moment gedacht hat. Die ganze Zeit saß er mit seinem keimigen Basecap zurückgelehnt da und tat, als hätte er sich aufs Podium verirrt. Nichtsdestotrotz wurde er angesprochen. Die Frage ging an ihn und seine Filmpartnerin, mit der er mehrere Sexszenen hatte. Sehr diplomatisch, fand ich sie, ging es doch um das Vertrauen, das Lars von Trier ihnen vielleicht vermittelt hatte, um das spielen zu können. Shia lässt seiner Kollegin den Vortritt, die das bestätigt. Dann beugt sich Shia vor zum Mikro, faselt was von Fischkutter und Sardinen, die folgen, und verlässt die Pressekonferenz.

Shia vor seinem Weggang

Das Podium danach...

Hat man so was schon gesehen! LaBeoufs Schauspielkollegen verhalten sich großartig. Slater bemerkt: "Und das Skript hat eine Menge Sardinen" und rutscht einfach auf den Platz des Gegangenen. Er sei von Berlin und dem schönen Wetter ganz angetan, hat den Koffer voller Bären, verrät Christian. Stacy erzählt vom sensiblen Umgang Lars von Triers, Stellan ergänzt: "Ich habe noch nie gehört, dass Frauen und Sex was mit dem Teufel zu tun haben."

Warum sollte man sich den Film denn nun ansehen? Stacy antwortet: "Warum nicht? Sexualität gehört zu uns. Außerdem ist es Lars, dann muss man es sehen."

Tja, und dann geht es darin tatsächlich um Gefühle. Auch wenn die Sardinen und Zitate aus der Weltliteratur für kräftige Lacher sorgen.

So schön kann Fotocall sein:



 

Dritter Tag
8. Februar 2014
Von Astrid Mathis

Wettbewerb

"Die geliebten Schwestern"
Drei

Schiller! Das hätte daneben gehen können, aber Regisseur Dominik Graf hat auch das Drehbuch geschrieben und nimmt den Zuschauer mit in eine andere Zeit, in eine Liebesgeschichte dreier Menschen, die zärtlich beginnt und dramatisch endet. Das wäre zu einfach ausgedrückt. Über 13 Jahre erleben und durchleiden der Schriftsteller Friedrich Schiller und die Schwestern Lengefeld die Liebe.

Mit wenigen Bildern und dem richtigen Ton für die Musik schafft Graf schon in den ersten Sekunden eine Atmosphäre, in der alles möglich ist. Ein junger Mann fragt nach dem Weg, und Charlotte von Lengefeld beschreibt ihm diesen vom Fenster aus. Unerhört im Jahre 1788. Dabei bleibt es nicht. Schiller (Florian Stetter) ist häufig zu Gast bei den Lengefelds und lernt neben Charlotte (Henriette Konfurius) deren ältere Schwester Caroline (Hannah Herzsprung) schätzen. Die beiden sind unzertrennlich und gaben sich einst am Rheinfall den Schwur, immer alles zu teilen und keine Geheimnisse voreinander zu haben. Und es ist kein Geheimnis, dass Caroline Friedrich von Beulwitz nur heiratete, um den Familienstand zu retten. Darum sieht ihre Mutter es nicht gern, dass sich ihre Töchter mit dem unvermögenden Schiller herumtreiben, so sympathisch sie ihn auch findet. Louise von Lengefeld (Claudia Messner) glänzt nebenher mit spitzfindigen Bemerkungen wie "Du grinst heute schon den ganzen Tag unter deinem Niveau." "Stolz und Vorurteil" lässt grüßen. - Natürlich kann die Mutter nichts gegen diese Dreiecksbeziehung ausrichten. Sie schreiben einander kodierte Briefe, wärmen den pudelnassen, nackten Schiller mit ihren Kleidern und gestehen sich ihre Liebe. Um die Liebe zu dritt zu ermöglichen, soll Charlotte Schiller heiraten. Caroline bittet den Liebsten schließlich um Rat für ihr eigenes literarisches Werk ("Agnes von Lilien") und schenkt ihm einen hausgemachten Punsch ein, der nicht etwa die Sinne reizen sollte, sondern Mut machen zum wahren Wort über Wörter. Das Glück währt nur ein Jahr, dann zieht sich Caroline zurück. 11 Jahre später - sie steht kurz vor der Scheidung - erwartet sie ein Kind. Von Schiller? Die Schwestern konnten ihren Schwur nicht halten, sie erleben eine Achterbahn der Gefühle, kennen sich selbst nicht wieder, und auch Schiller geht ganz in Gefühls-und Wortwelt auf. Es ist eine Freude, dem Trio zuzusehen, ihm zu lauschen. Natürlich ist der Beginn einer Liebe immer schöner als das Ende - und Gottseidank auch länger - , aber Dominik Graf, der zudem das Drehbuch schrieb, weiß genau, wie er das Publikum fesselt. Und es lässt sich gerne fesseln. Florian Stetter ist ein wunderbarer, hitziger und empfindsamer Schiller. Hannah Herzsprung geht ganz in ihrer Rolle der leidenschaftlichen älteren Schwester auf, und Henriette Confurius hat dieses unschuldige, zarte Wesen, dem Schiller einfach erliegen muss.

Ich geh' noch mal rein.

Florian Stetter, Hannah Herzsprung und Regisseur Dominik Graf

 
Die Pressekonferenz

Schiller sei ja jemand, der auch eine gute Karikatur abgeben könnte, mit starkem Dialekt und Marotten, beginnt ein Journalist. Dominik Graf wollte aber einen Schiller, dem man zutraut, dass er mit zwei Schwestern eine Beziehung eingeht. Liebe und Erotik beschreibt nur einen Teil derselben, das gemeinsame Herzschlagen den anderen. Graf hat gleich mal drei Filmversionen in petto: eine für die Berlinale (170 min), eine fürs Kino (130 min) und eine für den TV-Zweiteiler (2 mal 90 min). Nur ein einziger Brief von Caroline von Lengefeld ist Beweis ihrer Konversation per Brief und ihrer Liebe. Indizien für die Beziehung gibt es genug. Dieser Film sei ganz sicher einer über Worte; über Gefühle zu reden und zu schreiben, war mindestens so wichtig wie der erotische Ausdruck, stellt Dominik Graf klar, der zwei Semester Germansitik studierte. Die Knappheit und Direktheit in Schillers Werken faszinierten ihn seit jeher. Auch seine Schauspieler zog er in den Schillerbann. Sie lernten sogar, so wie früher zu schreiben und veränderten dabei ihre Schrift, erklärte Hannah Herzsprung, "denn aus der Schrift kam die Emotion." Überhaupt hatten sie im wunderschönen Weimar Zeit, sich in die Zeit und ihre Rollen hineinzufühlen. "Man hat sich gefühlt wie im Traum", sagt Florian Stetter, der auch die Frage beantwortet, was das mit HEUTE zu tun hat. Vor lauter SMS und verschiedener Kommunikationswege, Beziehungsanfängen und - enden, denn es gibt ja noch so viele -, "kommt man ja gar nicht mehr zum Gefühl. Wie schön und schrecklich die Liebe sein kann, sieht man in diesem Film. Das ist zeitlos." An den 50 Drehtagen habe er übrigens gut geschlafen, so dicht an der Natur dran, und in den normalen Alltag zurückzukehren, war tatsächlich schwierig, ja, traurig.

Produzentin Uschi Reich ("Im Winter ein Jahr") hat auch schon eine Produktion über den Dichter Clemens Brentano gemacht. Die Gegend wie ein Rest aus einer anderen Zeit fasziniere sie immer neu. Es sei etwas um sie von der "Zeit, die wir nicht mehr haben." Das war nicht ihr letzter Film in dieser Landschaft.

Menage-á-trois: Henriette Konfurius, Florian Stetter und Hannah Herzsprung in Gedanken versunken

 
Wettbewerb (außer Konkurrenz)

"The Monuments Men"
Hauptsache Clooney

Was wurde nicht für ein Trara um George Clooney gemacht! Festivalleiter Dieter Kosslick verkündete in der Programm-Pressekonferenz im Januar: "Ja, er kommt. Das ist wichtig für das Land."

Ein Wunder, dass sich überhaupt noch jemand ins Kino wagte oder dafür interessierte. Dem Film gingen nicht gerade gute Kritiken voraus. Allein: Über die Männer zu berichten, die während der Nazizeit Kunstschätze aus deutscher Hand retten wollten, sei aller Ehren wert.

Der Film war keine 15 Minuten ingange, da rief jemand: "Stop, stop!" Ich überlegte, ob die Szene dazu Anlass gegeben hatte. Nein. Es stellte sich ein Notfall heraus, den wiederum Dutzende nutzten, um sich schon mal in den Pressekonferenz-Saal zu setzen, damit auch keiner mehr reinkam, der den Film wirklich bis zum Schluss gesehen hatte. Die Geschichte ist schnell erzählt. George Clooney führt also Regie und spielt den Anführer der Monuments Men, eine Gruppe Männer, der nicht ernsthaft die Rettung zuzutrauen ist. John Goodman ist dabei, Matt Damon sowieso, Jean Dujardin, Bill Murray, Hugh Bonneville, den Journalisten wie ich mindestens seit dem Film "Iris" mit Kate Winslet kennen und andere jetzt nur durch "Downton Abbey". Und so weiter. Die Musik liefert ein Ausrufezeichen nach jeder wichtigen, tragenden Szene. Clooney wollte eben alles richtig machen und vor allem sauber. Bei ihm lässt Matt Damon sogar die Mitarbeiterin Claire, die über die weggeschafften Werke bestens im Bilde ist, einfach so stehen. Hey, die Rolle von Claire spielt Cate Blanchett! Außerdem ist es Paris. Aber geschenkt! Es ist alles mehr gewollt als gekonnt.

Die Pressekonferenz

Das macht aber nichts. Während der Pressekonferenz gibt es ganz andere Themen. Eine mexikanische Journalistin lobpreist die erotische Ausstrahlung Clooneys auf alle Mexikanerinnen, die gleichsam ihre Phantasien anregt. Eine Blondine mit Kater fragt, wie es Matt Damon und George Clooney machen, immer noch so gut auszusehen. All so was. Jemand vom Mitteldeutschen Rundfunk will immerhin was über die Arbeit in der Gegend wissen. Im August waren sie da, und die Leute im Harz waren toll. Bill Murray wanderte zum Hexentanzplatz. Der nächste Halter des Mikrofons zitiert Clooney und Damon aus Pressekonferenzen vergangener Jahre, woraufhin Matt Damon bemerkt: "Ist das alles gegoogelt? Ist die Frage, ob das Filmgeschäft auf Geld aus ist?" Gelächter. - "Ja, wie jedes Geschäft!" Eine Griechin schließt das Ganze ab mit der Frage, welchen Vorschlag (Proposal) Clooney hätte, um die Briten zu bewegen, den Griechen ihre Kunstschätze wiederzugeben. "I'm not good at proposals", spielt Clooney auf seinen Junggesellenstatus an. Dann sagt er ernst, er sei immer dafür, dass diejenigen, die etwas unrechtmäßig an sich genommen haben, die Sachen zurückgeben.

Ach so, ich war übrigens nicht im Saal, sondern vor der Leinwand am Berlinale-Palast. Ich hätte ganz andere Fragen auf Lager gehabt.

248 Die Filmcrew der "Monuments Men"

249 George Clooney und Matt Damon

Zweiter Tag
7. Februar 2014
Von Astrid Mathis

Wettbewerb

"Jack"
Renn, Junge, renn!

Die Idylle währt nur ein paar Augenblicke, dann geht es los. Jack hilft seinem vierjährigen Bruder Manuel in die Klamotten, stellt ihm Frühstück hin, hetzt durch die Wohnung. So, wie eine Mutter, wenn sie verschlafen hat. Jacks Mutter macht das nicht. Die Verantwortung in dieser kleinen Familie trägt Jack. Nicht, dass die Mutter ihre Söhne nicht lieben würde! Wenn sie da ist, kuschelt sie mit ihnen und gibt ihnen die Liebe, die sie so ersehnen. Doch wann ist sie da? Sie, die Jack mit 16 bekam, ist selbst auf der Suche nach Liebe, nach dem Mann, der es jetzt sein könnte. Dann lässt sie alles stehen und liegen und rennt ihrer Sehnsucht nach. Zu Jacks Unglück verbrüht sich sein Bruder am zu heißen Badewasser, Jack kommt ins Heim und trifft auf Kinder, die ihm das Leben schwer machen. Endlich Ferien! Die Mutter - Sanne - meldet sich am Telefon. Sie will ihn erst nach dem Wochenende holen. "Ist doch nicht schlimm, oder?" fragt sie. Jack verneint, aber innerlich bricht er zusammen. Als er den Jungen vom Heim, der ihn ertränken will, in Notwehr niederschlägt, flieht er. Klar, zu seiner Mutter. Die ist nicht zu Hause. Sein Bruder - bei einer Freundin lieblos abgestellt. Immer wieder schreibt Jack Nachrichten auf den kleinen Notizblock neben der Tür, immer wieder versucht er, seine Mutter zu finden, übernachtet im Parkhaus, stiehlt sich durch Discos, O2-World und ernährt sich von Kaffeesahne und Zuckertütchen. Mit Manuel im Schlepptau. Bis seine Mutter endlich nach Hause kommt. Und sie wieder sagt: "Jetzt machen wir es uns richtig schön."

Jack ist nicht nur die Hauptrolle oder gibt die Richtung an, die der Film nimmt. Er gibt die Augenhöhe vor, in die der Film den Zuschauer eintauchen lässt. Ein interessanter Blickwinkel, der schockiert. Kein Erwachsener wird auf allein herumlaufende Kinder aufmerksam. Sie schlüpfen sozusagen durch. Jeder kennt das Gefühl, zu spät oder nicht abgeholt zu werden. Starke Thematik, wenn nur die Filmmusik nicht gewesen wäre!

Die Pressekonferenz

Ivo Pietzker spielt Jack, und es dauert keine drei Minuten, bis jeder im Saal weiß, der Junge hat's echt drauf. Wie gewählt er sich ausdrückt - kein Ähm, kein Hm! Bemerkenswert. Selbstbewusst erzählt er, wie eine Klassenkameradin, deren Mutter für die Filmkostüme verantwortlich war, den Vorschlag machte. Ivo schickte eine E-Mail, und als Vorschlag fürs Casting kam ausgerechnet der Tag, an dem er Fußball spielen sollte. "Geht ja nicht", hatte er gesagt und damit die Regie das Treffen auf nach dem Spiel verschoben. Verschwitzt und zu spät saß er da, beschreibt Regisseur Edward Berger den ersten Eindruck. Er hatte die Hoffnung auf DEN perfekten Jack aufgegeben, aber da fing Ivo an zu improvisieren. "Es war der Tag vor dem Champions League Finale, Dortmund gegen Bayern", erklärt Berger. Volltreffer. Was denn sein Berufsziel sei, will eine Journalistin wissen. "Fußballprofi habe ich schon aufgegeben", sagt Ivo, "auch Lokführer". Und klar, Schauspielern macht Spaß, "aber ich sehe es nicht als meine Bestimmung. Ich denke, dass es noch andere Sachen gibt, die mich mehr faszinieren." Die Zeit am Set mit den Schauspielern hat Spaß gemacht. Chapèau! Regisseur Edward Berger verrät, dass sein Sohn immer zu einem Jungen "Hallo Jack" sagte, der sonntags mit Schulranzen am Haus vorbeikam. Sonntag zurück ins Heim, Wochenende zu Hause. Die positive Kraft, die von diesem Jungen ausging, wollte Berger mit in den Film nehmen. Es ist ihm gelungen. Dank Ivo. Der Film findet in seinem Gesicht statt.

Wettbewerb

"Two Men in Town"
Rache ist Blutwurst

Willie (Forest Whitaker) ist soeben aus dem Knast entlassen worden und bekommt eine wunderbare Bewährungshelferin zur Seite gestellt, Emily Smith (Brenda Blethyn), die selbst erst kürzlich von Kansas nach New Mexico gezogen ist und französische Chansons singt, während sie auf der Veranda sitzend ihren Revolver putzt. Es könnte alles gut werden. Willie bekommt eine Wohnung zugeteilt, einen Job, er ist zum Islam übergetreten, der ihm Halt geben soll. Aber ach. Der Sheriff (Harvey Keitel) hat nicht vergessen, dass Willie seinen Deputy auf dem Gewissen hat und reizt ihn, wo er nur kann, um den abgesessenen 18 Jahren noch weitere hinzuzufügen. Willie lernt sogar eine Frau kennen, mit der er ein neues Leben beginnen möchte. Er versucht es wirklich, weist seinen Kumpel ab. Umsonst. Vom kriminellen Ex-Kumpel und dem Sheriff in die Enge getrieben, setzt er sich schließlich zur Wehr.

Die Pressekonferenz

Brenda Blethyn beschreibt die Arbeit mit dem Regisseur Rachid Bouchareb in London als die schönste ihres Lebens. Deshalb sagte sie auch gern zu. Und dann noch mit Forest Whitaker zu spielen. Dafür trainierte sie sich gern den Akzent von Illinois an. Sie lernte auch, so eine Uniform zu tragen und begleitete eine Bewährungshelferin, die noch kleiner war als sie. Ehrlich gesagt, wäre das kein Job für sie. Die Frau war eine "tough lady" und führte ihr vor, wie sie den Männern beikommt, die größer sind als sie. Sie legt sie einfach aufs Kreuz. Nein, das wäre wirklich kein Job für sie. Und Forest Whitaker, der sich über diese Rolle ebenso freute wie über den "Butler", schwärmt von Clint Eastwood: "Er hat an mich geglaubt, als ich nicht mal selbst an mich gegalbut habe und nichts hatte."

Forum

"Snow Piercer"
Alles wegen Tilda!

Filmcrew Snowpiercer

Meine Kollegin hatte den Film schon gesehen und meinte: "Wenn man den Humor mag!" Ein Freund kommentierte, "Snow Piercer" sei nicht so doll und Mainstream. Das alles konnte mich nicht davon abhalten, um 18 Uhr ins Cinestar-Kino zu stürmen, beinahe Fatih Akin umzureißen, um mich bei der Schlange vorne anzustellen. Habe ich auf der Berlinale gelernt mit den Jahren. Da standen schon zwei Freunde mit Kaufkarten. Ich hatte am Vortag beim Kaffee mitbekommen, dass der Film gar nicht im Dephi gezeigt würde wie angenommen, sondern im Cinestar. Und ich brauchte eine Karte. "Was willst du machen?" fragten mich meine Freunde. Ich fragte den Einlasser. "Es gibt leider keine Chance." Na, so was hört man gern. Sofort wird mein Ehrgeiz gepackt. Ich muss da rein und weiß schon, wie. Einfach ruhig bleiben. Ich bleibe ruhig. Der Einlass beginnt. Drei Einlasser kontrollieren auf meiner Seite, drei auf der anderen. Ich sehe zu, wie die Einlasserin sich die Kaufkarte meines Freundes anschaut und sagt: "Forum - dann sind Sie hier falsch." Augenblicke später korrigiert sie sich, meine Freunde gehen durch und ich auch. Super. Sitze in der Reihe vor Fatih Akin und Tilda. Und da schwebt sie schon herein, verkündet: "Fasten your seatbelt! Enjoy the ride." Also, schnallt euch an und genießt den Trip. Alles klar. Mache ich. Was Tilda gut findet, muss doch gut sein. Dann kommt noch eine fünfminütige lustige Videobotschaft des Regisseurs. Tilda lacht sich kaputt. Ich lache mit.

Filmcrew 2

Videobotschaft

Los geht's. In dem Zug Snowpiercer wird die Klassengesellschaft gelebt. Der Schwanz des Zuges ist das Letzte. Proteinriegel werden den Bewohnern zugeteilt, die zermalmte Insekten sind, im Dreck müssen sie leben, die Kinder hergeben. Endlich kommt Tilda, eine schrullige alte Pedantin, die vor Grausamkeit nur so strotzt. Sie kommt von oben. Sozusagen. Von vorn. Der Aufstand ist vorprogrammiert, die Schlacht unausweichlich. Und was einem da Ekelhaftes gezeigt wird! Es gibt ja Leute, die amüsieren sich darüber und sehen sich, ohne mit der Wimper zu zucken, an, wie aus dem Zug gehaltene, zu Eis gefrorene Arme abgeschlagen werden. Nur, um mal eine solche Sache zu benennen. Ich habe noch mehr gesehen, was ich alles nicht beschreiben will. Ich habe weggeguckt. Ich habe mich gefreut, mal wieder Jamie Bell und Ed Harris in einem Film zu erleben. Und bin beim Abspann aufgesprungen und ins Delphi geeilt. Meine Kollegin meinte später: "So durchgeknallte Sachen sind wohl nichts für dich."

Forum

"Blind Dates"
Das Meer kann so schön sein

Im Delphi sitzt mein Freund, der "Snowpiercer" als Mainstream eingeordnet hat. "Du hättest mir doch sagen können, ja, müssen, dass das ein ekliger Abschlachtefilm ist", begrüße ich ihn. - "Sag ich doch, Mainstream", antwortet er, "ist doch wie 'Herr der Ringe'." Ich habe unter Mainstream was anderes verstanden. Aber egal. Jetzt kommt ein georgischer Film, der Laune macht. Der Held des Films ist 40 und hat Eltern, die ihn gern in festen Händen wüssten. Die Frau sollte nicht vom Land sein. Oder doch besser nicht aus der Stadt? Die Eltern sind sich uneinig, schließlich kommt die Mutter vom Dorf. Vater musste ihr alles beibringen, mit Gabel essen und so. Ihr Sohn Sandro hat, was sie nicht wissen, ein Blind Date hinter sich, würde die Frau gern wiedersehen und irgendwie doch nicht. Mit Eltern und Freund fährt er an die See, es ist stürmisch am Meer. Aber sie treffen eine Bekannte von Sandros Freund mit ihrer Tochter, und die lässt Männerherzen höher schlagen, spielt Fußball. Zu dumm, dass ihr Mann im Gefängnis sitzt und bald rauskommt. Dieser Moment der Nähe, wie sie die Plane halten, während sie im Regen Wodka trinken, das hat was. Als Sandros Vater anruft, ertönt ein georgisches Lied. Die Frauen, die auf sie mit Essen warten, singen. Traumhaft. Doch die Predigt des Vaters folgt auf dem Fuße. "Was seid ihr für Männer?! Hier warten fünf Stunden zwei schöne Frauen auf euch, und ihr seid am Strand und besauft euch!" Herrlich. Sandro, der nun einmal sein Glück gefunden hat, will seine Liebste behalten. Er bringt sie noch zum Gefängnis, wo ihr Mann sie begrüßt. Und dann kommt alles, wie es kommen muss. Es wird verdammt komisch. Sandro soll ihn nämlich ein bisschen herumfahren, weil er kein Auto hat. Zu seiner schwangeren Geliebten und zu den Eltern eines Knastbruders, denen er Geld abluchsen will. Ein wunderbar erzählter Film mit starken Bildern und interessanten Wendungen. Absolut kein Mainstream.

Erster Tag
6. Februar 2014
Von Astrid Mathis

Die Jury - Bloß keine Wertung!

Machen wir es kurz! Nein, auf Bewerten hat der Schauspieler Christoph Waltz keine Lust, er mag schon das Wort nicht. Er sei ja zum Filmeschauen da und dann reden. Jetzt, wo er die Welt erobert hat, wie eine Journalistin wegen seiner zwei Oscar verlauten lässt, wie schaue er denn da auf Berlin als ehemaliger Charlottenburger? Um mal eins klarzustellen, bloß, weil er in Charlottenburg gewohnt hat, ist er noch lange kein Charlottenburger. Klar. Und sein Weg, wohin der führt und überhaupt? Ja, ganz einfach: "Es ergibt sich, wo ich bin, aus dem, was ich mache." So einfach ist das. Wenn er Cannes und Berlin vergleicht - in Cannes wurde er mit Salutschüssen am Strand begrüßt -, ist das Manko schon genannt. Berlin hat halt keinen Strand. Und das andere? "Das Essen, glaube ich, ist in Cannes besser." Die Begrüßungsschüsse blieben natürlich auch weg.

Nicht so mürrisch, aber verschlafen mit altbekanntem Streifenpullover bemerkt der Filmemacher Michel Gondry, Berlin sei ein freundlicher Ort. Auf der Berlinale gehe es weniger um das Aussehen als an anderen Orten. "Das gefällt mir." Na, eben!

Schauspielerin Greta Gerwig lacht herzlich, als ihr eine Oscarnominierung unterstellt wird.

Schauspielerin Trine Dyrholm aus Dänemark ist zum 6. Mal auf der Berlinale und genießt es. Sie freut sich auf interessante Filme, die sie berühren. James Schamus als Jury-Präsident gibt ein sympathisches "Familienoberhaupt". Filme bringen ja Menschen zusammen, in einer Familie gibt's beim Abendessen Streit, und am Morgen liebt man sich wieder. So einfach ist das.


Wettbewerb

"Das Grand Budapest Hotel"
Diener vieler Damen

Als ich am Einlass zur Pressekonferenz stehe, sagt eine Kollegin: "Endlich mal ein lustiger Film zur Eröffnung! Einer, in dem man nicht einschläft." Ich schweige, bin tatsächlich kurz weggenickt - beim ersten Berlinale-Film. Es lag wohl an der Talabfahrt in schönster Schneelandschaft zu angenehm plätschernder Musik. Mein schlechtes Gewissen hält sich aber in Grenzen. Wes (Anderson), es ist trotzdem ein schöner Film. Das Grand Budapest Hotel liegt in herrlicher ungarischer Idylle und hat seine Hochzeiten hinter sich. In seiner besten Zeit läuft alles nach Monsieur Gustaves Nase (Ralph Fiennes). Aber auch wirklich alles. Dieser Concierge ist mehr als ein Diener eines Hotels. Er sorgt dafür, dass sich alle wohlfühlen, vor allem die Damen, egal, welchen Alters. Madame D. (Tilda Swinton) liebt ihn besonders und vermacht ihm nach ihrem Ableben ihr wertvollstes Bild "Knabe mit Apfel". Gustave und sein junger Begleiter türmen mit dem Prachtstück und müssen vor Madames Sohn und deutschen Befehlshabern fliehen. Haltung bewahren, das ist Gustaves Motto in jeder Situation. Sein Ausdruck ist gewählt, seine Würde unangetastet.

Wes Anderson scharrt für diesen verspielten Winter-Film, der schön anzusehen ist und mit seiner Musik einzulullen vermag, eine illustre Hollywood-Riege um sich, denen der Spaß am Drehen anzumerken ist.

Die Pressekonferenz

Da sitzen sie alle: Edward Norton, Bill Murray, Saoirse Ronan, Ralph Fiennes, Tilda Swinton, Willem Dafoe, Jeff Goldblum und der junge Compagnon des Concierges Tony Revolori. So lautet die erste Frage auch: "Wie schaffen Sie es, solche Stars zusammenzuholen?" Wes Anderson kommt nicht zu Wort. "ICH antworte auf die Frage", fährt Bill Murray dazwischen, "er verspricht uns lange Drehtage und schlechte Bezahlung. - Dafür kommt man aber um die Welt." Für Wes Anderson habe er schon ganz andere Sachen gemacht, wie etwa in Indien einen Tag drehen, dann einen Monat dableiben und dann wieder einen Tag drehen. Er würde auf jeden Fall immer Miese machen. Nach so einer langen Zusammenarbeit könne sich doch schon eine Beziehung zwischen ihnen hergestellt haben, mutmaßt ein Journalist. Murray: "Nun, die Romantik ist weg." Vater und Sohn? Hm, seine Kinder seien nicht so gut erzogen wie Wes. Tilda Swinton beschwert sich nicht direkt, sagt allerdings, dass sie ja mehr Szenen wollte, aber Wes wollte es so kurz. Im übrigen sei ihr Aussehen im Film das, was sich ihr ohne Make-up bietet. Haha. Das Make-up entstand, nebenbei bemerkt, unter denselben Händen wie Meryl Streeps Anblick von Margaret Thatcher. Ralph Fiennes, der die Hauptrolle in dem Film spielt, konnte es gar nicht fassen, das Skript (von Zweig inspiriert) von Wes Anderson zugeschickt zu bekommen. Dann fragte Wes auch noch: "Welchen Part möchtest du spielen?" Welche Frage! Den Service im Adlon, wo er in Berlin residiert, findet er by the way "exquisit".

Saoirse Ronan

© POTZDAM 2014