61. Berlinale
Inhalt
 

Siebenter Tag
16. Februar 2011
Von Astrid Mathis

Wettbewerb (außer Konkurrenz)
Mein bester Feind
"Verraten und verkauft oder - Ich bin du"

Sagen wir es mal so: Nach Oskar Roehlers Reinfall mit "Jud Süß" auf der Berlinale 2010 konnte es nur aufwärts gehen mit dem deutschen Film und mit Moritz Bleibtreu sowieso. Dem Film liegt der Roman "Wie es Victor Kaufmann gelang, Adolf Hitler doch noch zu überleben" des österreichisch-jüdischen Autors Paul Hengge zugrunde. Regisseur Wolfgang Murnberger, selbst Österreicher, hatte schon mit "Dem Knochenmann" bewiesen, dass er es kann. Was sollte noch schiefgehen?

Wien, 1938. Victor (Moritz Bleibtreu) und Rudi (Georg Friedrich) sind Freunde seit jeher. Dass Rudis Mutter Hausbesorgerin der durch Kunsthandel reich gewordenen Judenfamilie Kaufmann war, spielte für die Jungen keine Rolle. Für Rudi ist heute noch ein Bett frei. Auch wenn sich die Zeiten geändert haben und in Wien die SS einmarschiert. Doch Rudi will mehr als ein Bett, mit Uniform kann er endlich etwas sein, und so verrät er den Nazis, dass Kaufmanns einen echten Michelangelo im Haus haben. Als das Bild unauffindbar ist, droht ihm der Standartenführer Widrizek. Rudi droht wiederum seinem alten Freund, und plötzlich taucht das Bild wieder auf. Nun müsste alles gut sein, die Familie in die Schweiz ausreisen dürfen. Nichts da! Die Familie kommt ins KZ, und Rudi, der das nun auch nicht wollte, macht sich dennoch an Lena (Ursula Strauss) ran. Der Freundin von Victor wurde alles Hab und Gut überschrieben. Da kann er gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Doch die Sache läuft nicht glatt. Die Italiener melden sich eines Tages an, der Duce kommt auch und will das Bild sehen, aber das Bild ist nicht echt, bestätigt ein Kunstexperte. Der alte Kaufmann ist nicht mehr, jetzt soll Victor das Versteck verraten, sonst ist Hitler geliefert.

Gemeinsam mit Rudi steigt er in das Flugzeug, dessen Absturz Victor zu einer einmaligen Gelegenheit verhilft. Partisanen sind im Anmarsch, Rudi soll sich lieber als Häftling tarnen. Nur dass keine Partisanen kommen und Victor auf einmal mit seiner SS-Uniform vor ihm steht. Wie lange kann er das Spiel aufrecht erhalten?

Murnberger erzählt die Geschichte dramatisch mit Raum für Ironie und Witz, aber nicht zu viel. Es soll ja keine Klamotte werden, sondern ein spannender Spielfilm. Das gelingt ihm. Österreicher dürfen Märchen erzählen. Das war schon bei dem Film "Die Fälscher" so. Dafür gab es sogar den Oscar für den besten ausländischen Film.

Die Pressekonferenz

"Ja, wenn Sie es so wollen, betrachten Sie es als Märchen, denn die Geschichte ist fiktiv und Märchen sind auch fiktiv. Der Held sollte mal ein Jude sein." Das ist doch mal eine Aussage von Wolfgang Murnberger. Auf dem Podium fehlt Moritz Bleibtreu. So fallen kritische Anmerkungen, warum er wieder in einem Film die SS-Uniform anlegen muss, weg. Apropos Uniform. Sie macht was mit einem. Georg Friedrich sagt es, seine Kollegin Ursula Strauss auch. Die Haltung wird besser, und Uniformen geben außerdem ein Machtgefühl. Findet Uwe Bohm, der Widrizek und damit den einzigen nicht ambivalenten Charakter verkörpert. Die Bedrohung muss ernst sein, sind sich alle einig.

Ursula Strauss sieht sich derweil als einzige, die während der ganzen Geschichte nichts zu lachen hat. Von manchen Szenen drehten sie an den ersten beiden Drehtagen zwei Varianten, um sich dann im Schneideraum zwischen ernster oder heiterer Version zu entscheiden, am Ende war es öfter die ernstere. Es sei schon absurd, so Murnberger, dass Österreich und Deutschland einen Weg gefunden haben, mit dem Thema nicht ernst umzugehen. Das glaubt er nicht trotz Komödie "Der Führer". Immerhin findet Georg Friedrich auf die Frage nach dem Dialekt, den er als Österreicher voll einsetzen konnte, seinen Humor wieder: "Sicher haben 90 Prozent der Zuschauer damit ein Problem, ich habe keins." Sprach's - und aus.


Berlinale Spezial
Tom Hooper "The King's Speech - Die Rede des Königs"
Die Stimme der Monarchie

Zuerst das Mikrofon. Dann das volle Wembley Stadion in London. Es ist das Jahr 1925, die Abschlussrede für die Empire-Ausstellung hautnah. Noch bevor Albert, später König George VI., den ersten Ton über die Lippen bringt, hat der Zuschauer schon einen Kloß im Hals.

Man muss ihn lieben, man kann gar nicht anders. Unerträglich sind diese ersten Minuten, fühlbar die Überwindung, die der Redner aufbringt, um letztlich zu stammeln, zu stottern, zu scheitern. Seine Frau hält ihm zuversichtlich den Arm. Es hilft nichts. Colin Firth gibt diesem Mann eine Stimme, die bricht vor aller Augen und Ohren - trotz Zuversicht seiner Gattin Elizabeth (Helena Bonham Carter), die einmal als Queen Mum in die Geschichte eingehen wird. Reden sind dem Herzog von York ein Greuel. Das können Vater und Bruder viel besser. Lieber erzählt er seinen beiden Töchtern liebevoll die Geschichte vom Pinguin. Nach dem letzten Therapeuten verspricht Elizabeth, dass Schluss ist mit den Experimenten. Doch dann entdeckt sie Lionel Logue (Geoffrey Rush), Australier, außerdem eine Koryphäe seines Fachs, und lotst ihren Mann in seine Praxis. Wie er schon dasitzt, in der äußersten Ecke des Sofas vor den bunten, ranzigen Wänden und sich vehement wehrt gegen alles, was der Therapeut sagt und fragt, verrät, dass ihm nichts am Thron liegt und noch viel mehr, dass ihm das Selbstvertrauen in der Sprache fehlt.

Fortan wird ihn Logue nur Bertie nennen, wie ihn seine Familie anspricht, denn seine Methode ist eine persönliche. Es muss etwas Schlimmes in seiner Kindheit passiert sein, er weiß es einfach. Jahrelang wurden ihm Schienen wegen seiner X-Beine angelegt. Noch als Erwachsener hänseln ihn Vater und Bruder, erfährt er. Bertie beginnt nach anfänglicher Ablehnung zu vertrauen und zu reden. Fluchen soll er dabei, singen und tanzen. In dem Raum von Logue findet er den Schutz, der ihn auffängt, als ihm sein Bruder David (Guy Pearce) schließlich eröffnet, dass er aus Liebe zu Wallis Simpson, einer bürgerlichen Frau, die zwei Scheidungen hinter sich hat, vom Thron abrückt. Edward VIII. will den Titel nicht mehr. "Ich bin kein König, ich bin Marineoffizier", flüstert Bertie zitternd seiner Frau zu. Und sie erwidert: "Weißt du, warum ich dich geheiratet habe? Ich dachte: Er stottert so wundervoll, sie werden uns in Ruhe lassen."

Aber er kann sich nicht entziehen, die Sätze am Tag der Krönung 1936 in der Westminster Abbey müssen sitzen, Bertie braucht Lionel. Und er kommt. Doch die größte Herausforderung steht ihm noch bevor - als er drei Jahre später Deutschland den Krieg erklärt. Er ist allein mit Lionel in einem Raum, so dass er das Gefühl hat, nur zu einem Freund sprechen zu müssen. Er wird der Meister der Pausen und sein Leben lang Lionel Logue bei öffentlichen Auftritten an seiner Seite haben.

So viel Größe und Sensibilität, Tiefgang und Leichtigkeit hat es im Kino in einer Geschichte über die Monarchie noch nicht gegeben. Man möchte rufen: Lang lebe George VI., lang lebe Colin Firth!

Colin Firth und Helena Bonham Carter im ernsten Gespräch über die Monarchie

Die Pressekonferenz

Abends acht Uhr im Hyatt. Wie auf Kohlen sitzen die Journalisten, die Premiere startet in einer Stunde. Viel Zeit für Fragen bleibt nicht. Jeder rollt innerlich den roten Teppich aus. Endlich kommen sie: Tom Hooper, Colin Firth, Helena Bonham Carter. Applaus brandet auf. Eine Aura umgibt das Trio, die sprachlos macht. Das Stottern, verrät Colin Firth, habe er danach zwar ablegen können, aber es habe eine Weile gedauert, bis er sich den langsamen Rhythmus wieder abgewöhnte. Er hatte viel recherchiert.

Immer wieder englische Geschichte. Lernt man da noch was? Oh ja. Die Geschichte der Monarchie ist unerschöpflich. Königinnen zu spielen, scheint Helena Bonham Carters Paraderolle zu sein. "Ich mag Königinnen", erklärt sie schlicht, "ich werde oft gefragt und habe keine Ahnung, warum. Es sind ja auch verschiedene Königinnen, die ich spiele."

Allerdings kommt es einem ja vor, als würde keiner von ihnen spielen, so gut wären sie, so intim die Situation dargestellt. "Die Arbeit hängt ja auch voneinander ab, instinktiv. Man benutzt die Energie des anderen und fühlt sich, als würde man darauf weiter gleiten. Ich glaube, die Dynamik zwischen uns allen ist das, was so bewegt", erzählt Colin Firth und fügt noch hinzu: "Sentimentalität hätte die Geschichte kaputt gemacht."

Yes Sir, und was Tom Hooper noch sagen wollte, alle zwischen 8 und 80 verlieben sich in seinen Charakter. "90", korrigiert Colin Firth. 90.
Das mit den 12 Nominierungen für die Oscars haben sie auch schon gehört.

Die Stars aus "Die Rede des Königs" am Eingang des Palastes.

Colin Firth im Friedrichstadtpalast auf dem Weg zu seinem Kinoplatz

Was für ein Beifall! Und dann... Als Tom Hooper nach der Vorführung im Friedrichstadtpalast seine Rede hält, hätte man eine Stecknadel zu Boden fallen hören. Er erzählt, wie er zu der Geschichte kam. Drehbuchautor David Seidler hörte in den 40ern die Reden des Königs. Er selbst stotterte und nahm sich George VI. zum Vorbild. Während seines Studiums recherchierte er, und 1988 verfasste er das erste Drehbuch mit dem Stoff. Bei erneuten Nachforschungen stolperte er erstmals über den Namen Lionel Logue und nahm Kontakt zu dessen Sohn auf. Der hatte zwar Schriften seines Vaters, bat aber um das Einverständnis der Königin, sie freizugeben. Er sollte sie nicht zu lesen bekommen, so lange sie lebte, zu sehr schmerzte die Erinnerung, bekam er vom Königshaus zur Antwort. Und so wartete Seidler. 2005 brachte er den ersten Entwurf zu Papier. Dann geschah das Wunderbare. Hoopers Mutter (Australierin wohlbemerkt) wurde zu einer Lesung des Stückes "Die Rede des Königs" in London eingeladen. Tief beeindruckt habe sie zu Hooper gesagt: "Das wird dein nächster Film."

Was uns das lehrt? Hooper spricht es aus: "Hör' auf deine Mutter!" Der Zufall wollte es so, dass sich letztlich doch Kontakt zur Verwandtschaft von Lionel Logue aufbauen ließ, sein Enkel Mark besitzt die Unterlagen seines Großvaters. Die Aufzeichnungen wurden zur Goldgrube, das Drehbuch wurde überarbeitet. Soweit zum Hintergrund des Films.

Zeit, einem Menschen zu danken, neben dem er sitzen durfte und der an diesem Abend wohl Jedermanns König war: Colin Firth. Bewegt von dem stürmischen Applaus bemerkte er, er freue sich, den Film in Berlin einem so tollen Publikum zu zeigen. Ein bisschen traurig sei er auch - er werde diesen Tag nicht vergessen -, denn er glaube, dass sei das letzte Mal, dass sie den Film gemeinsam sahen. Beifall ebenfalls für Helena Bonham Carter. Keine andere Königin hätte Hooper sich an Georges Seite vorstellen können.

Zum Niederknien. Als sie in Richtung Ausgang schreiten, nehmen sie den Hauch Monarchie mit, der kurze Zeit den Friedrichstadpalast erfüllte.

Ein anstrengender Tag geht für Colin Firth, Helena Bonham Carter und Tom Hooper zu Ende. Ständig lächeln kann ja auch ermüden.
 

Sechster Tag
15. Februar 2011
Von Astrid Mathis

Wettbewerb
Nader und Simin, eine Trennung
"Wer lügt, gewinnt"

Das ist er. Nach den ersten zehn Minuten des iranischen Films ist klar, so sieht ein Bären-Gewinner aus. Der Film beginnt vor Gericht. Mann und Frau streiten. Sie will ausreisen, er will bei seinem demenzkranken Vater bleiben. Das Kind soll zum Vater. Damit ist die Mutter nicht einverstanden. Sie will sich scheiden lassen, weil ihr Mann nicht mitwill.

Die Geschichte könnte überall spielen, nicht nur im Iran.

Nach dem Streit trennen sich die beiden. Der Mann stellt eine Pflegerin ein, die schnell überfordert und außerdem schwanger ist. Ein Unfall passiert, die Pflegerin stürzt die Treppe hinunter, verliert das Kind. Ihr Arbeitgeber kommt vor Gericht. Wusste er, dass sie schwanger war? Kann er zur Verantwortung gezogen werden? Zu wem will eigentlich die Tochter, wen hat sie lieber, Mama oder Papa?

In der Radio-Eins-XXLounge mit Knut Elstermann steht der iranische Regisseur Asghar Farhadi Rede und Antwort. Er zeichne das Porträt einer ganzen Generation und beschäftigt sich mit der Frage: Wer sagt hier überhaupt die Wahrheit? Und wie viel Wahrheit können wir überhaupt verkraften? Alles, was geschieht, wird aus dem alltäglichen Umfeld verhandelt, das macht den Film transparent. Es gibt auch keine Bösen. Jeder Charakter ist mit seinem Verhalten nachvollziehbar. Am besten hat Knut Elstermann das religiöse Telefon gefallen, das die Frau anruft. Sie fragt, ob sie lügen kann. Die Antwort ist: Nein. Das ist Sünde. So nimmt das Schicksal seinen Lauf. Eine Bemerkung hätte alles wenden können.

Mit diesem Film kann die Berlinale ein Zeichen setzen - für die heutige Zeit an sich, für den Film und den Iran. Denn im Gegensatz zu dem eingeladenen Jury-Mitglied Jafar Panahi, der sogar ins Gefängnis gesteckt wurde, durfte Farhadi nach Berlin kommen.

Asghar Farahadi mit Knut Elstermann


Forum
Die Jungs vom Bahnhof Zoo
Auf der schiefen Bahn

Rosa von Praunheim hält das Mikrofon in der Hand. Der pinkfarbene Glitzerhut funkelt: "Ich sehe sehr glamourös aus", sagt der Regisseur der Dokumentation, "dabei ist das, was wir zeigen, nicht glamourös, aber ich hoffe, nach dem Film werden sie die Männer verstehen, auf die oft herabgeblickt wird."

Er spricht von Strichern. Männern, die in frühester Jugend, ja, teilweise in der Kindheit, für Sex Geld bekamen und manchmal heute noch diesem Job nachgehen. Sie alle erzählen ihre Geschichte, haben Schlimmes als Kind erlebt. Da ist zum Beispiel Daniel, der Bettnässer war und von seiner Mutter dafür übel bestraft wurde. Irgendwann wurde es so schlimm, dass er das dem Jugendamt meldete und zu einer Pflegefamilie kam. Das erging es ihm nicht viel besser. Nach drei Monaten war er weg, ging ins Heim, wo er den durch den Betreuer Holger mal so etwas wie Zuneigung erfuhr. Mit dem Weggang von Holger verlor Daniel jeden Halt und kam ins Jungenheim in Steglitz. Der erste Joint, das erste geklaute Auto.Irgendwann Bahnhof Zoo. Heute lebt er mit Frau und Kind und hofft, dass er es schafft.

Nazif kam im Alter von 11 Jahren mit seinen Eltern aus Bosnien und wurde zum Klauen abkommandiert. Zu Hause kassierten die Eltern ab. Durch Freunde erfuhr er vom Bahnhof Zoo und einem Mann, der "Kinder-Karsten" genannt wird. Da war er 12, 13 Jahre alt. Er hatte Angst, aber geriet trotzdem in den Kreislauf des Anschaffens. Als seine Eltern davon Wind bekamen, beschimpften sie ihn als "Schwuler". "Ich wusste nicht, ob ich schwul bin",sagt er in der Dokumentation. Sein Vater misshandelte ihn. Mit 14 kam er das erste Mal ins Gefängnis. Beim ersten Mal Ausgang lernte er Robert kennen, einen Mann, mit dem ihn zehn Jahre eine enge Beziehung verbindet. Durch ihn lernt er überhaupt Lesen und Schreiben und verfasst ein sehr persönliches Buch über seine Erfahrungen. Sein größtes Glück - er wurde nach Bosnien abgeschoben und fing über Umwege in Österreich ein neues Leben an. Was er sich wünscht? "So wie jetzt. Meine Ruhe haben."

Ionel ist ein Zigeuner aus Rumänien und verkauft seinen Körper, seit er 14 ist. Sein ganzes Dorf, Kinder und Jugendliche, verdient in Berlin das Geld, was er dann mit nach Hause bringt. Sie spielen Akkordeon oder treiben sich am berüchtigten Bahnhof Zoo herum. Ionel wurde angesprochen, mit seinem guten Aussehen könne er viel schneller Geld verdienen als mit dem Akkordeon. "Bei 360 Euro am Tag stellt sich die Frage nach Gefallen nicht", erzählt er. Im Tabasco, einer Kneipe mit einschlägigem Ruf, ist er Stammgast, aber das Geld fließt schon nicht mehr so.

Für den 28-jährigen Berliner Daniel René fing der Missbrauch seines Körpers bereits in der Grundschule an. Der Hausmeister verging sich an ihm, als er gerade mal 7, 8 Jahre alt war. Der brachte dann andere Männer mit, zeigte Videos. Daniel wusste nicht, dass das nicht normal ist. Er schaltete sich ab. Schließlich schickten sie ihn los zu Freiern, die Interesse an dem Jungen hatten, der mit 13 noch wie 8 aussah. Sie boten ihm 30/70 an. Als sie sich zu seinem 18. Geburtstag von ihm lossagten, fühlte er sich allein gelassen, hatte er sie doch irgendwie als Freunde wahrgenommen. Aufgewacht ist er erst durch den Tod seiner Mutter und die Hilfe eines Mitarbeiters von Sub.Way, einem Ort, wo mehr geschieht, als Kondome zu verteilen und aufzuklären. Rosa von Praunheim befragt auch die Betreiber von diversen Clubs, Streetworker und Freier. Und er schafft damit ein Porträt der Jungs vom Bahnhof Zoo, wie man es sensibler und offener nicht zeichnen kann.


Forum
Submarine
"Die Liebe ist ein seltsames Spiel"

Teenager haben es schwer. Oliver Tate (Craig Roberts) hat es besonders schwer. Er erzählt uns von seinem Leben, als würde er sich mit der Kamera von außen betrachten, kurz, er fährt seinen eigenen Film. Und er stellt sich seinen Tod vor, wie die ganze Schule um ihn trauert. Vor allem Jordana (Yasmin Paige) aus seiner Klasse, in die er sich verguckt hat und bei der er sich keine Hoffnungen macht, denn er ist nicht halb so cool wie sie. Dauernd wird er gehänselt. Oliver Tate hat vielleicht auch einen Knall. Er lässt den Zuschauer an Gedanken teilhaben, die er lieber nicht wissen will. Er prügelt sich, um Jordana zu verteidigen und geht vor ihr sogar auf die Knie. Woraufhin sie ihn küsst. Gerade will man sich fragen, wer von beiden den größeren Knall hat - aber wahrscheinlich ist das Verhalten für Teenager in Wales völlig normal -, da hat Oliver die fixe Idee, er müsse die Ehe seiner Eltern retten, ihr Sexleben in Schwung bringen, Mutters (grandios: Sally Hawkins) erste Liebe, den Esoteriker Graham Purvi, ausschalten. Er gibt einen Brief als den seines Vaters aus und sitzt lieber zu Hause rum, als seiner Freundin beizustehen, die um das Leben ihrer Mutter zittert. Ja, so ist es mit der Verantwortung. Und dann macht sie Schluss, und er leidet - und wie er leidet! Dazwischen das aufbrausende Meer. Das Bild für die erste Liebe - sehr passend. Da ist doch jeder froh, aus diesem Alter raus zu sein.

Dass man trotzdem furchtbar lachen muss, ist natürlich gewollt und ein Verdienst von Ayoade, der ein Könner in Sachen Pointen und Situationskomik ist.

Richard Ayoade nach der Vorführung

Richard Ayoade, bekannt aus der Serie "IT Crowd", bekam das Buch zum Lesen, noch bevor es überhaupt veröffentlicht war. Dass es nicht so leicht zu verfilmen sein würde, ahnte er schon wegen des unzuverlässigen Charakters. Oliver, der sich als Held sieht in seiner eigenen Geschichte und jedes Gefühl auskostet, als ginge es um das Ende der Welt. Den Film in Kapitel zu untergliedern, hatte er schon lange vor. Das passte ja auch zu dem Geschichtenerzähler Oliver Tate.

Beim Frage- und Antwortspiel kommt Ayoade erst richtig in Fahrt, als er nach der Musik gefragt wird. Ob es seine sei? "Ja, ich habe gesungen, und ich habe alle Charaktere gespielt." Um es genau zu sagen, stellte der Regisseur dann richtig, dass die Musik aufgesplittet sei in jene in seinem Kopf und jene von Jordana oder von den Kassetten. "Was haben Sie zu dem Hauptdarsteller gesagt, damit er diesen irren Blick bekommt?", will jemand aus dem Publikum wissen. "Kopiere mich!", erwidert Ayoade und fügt hinzu, Craig Robert sollte an Pete Townsand und Buster Keaton denken.

"Warum Wales?" erkundet sich ein Mann aus dem Publikum. Nun ist es an dem Autor, das Wort zu ergreifen: "Weil ich dort aufgewachsen bin." Es gab wohl anfangs die Überlegung von den Produzenten, das Ganze in England zu drehen und wie Wales aussehen zu lassen. Keine gute Idee, fanden Regisseur und Autor.

Wer auf die im Filmtitel angekündigte Submarine wartete, wartete übrigens vergeblich. Denn das sollte eher eine Metapher für Oliver und seinen verstörten Blickwinkel sein.

Die Fans freuten sich, dass der Regisseur nach der Premiere für Fotos und Autogramme Zeit hatte.

Fünfter Tag
14. Februar 2011
Von Astrid Mathis

Wettbewerb
V Subotu - An einem Samstag
"Lauf um dein Leben"

Der Film hätte ein gutes Drama werden können. Es nimmt seinen Anfang an einem Samstag im April 1986, am Tag der Tschernobyl-Katastrophe. Der Held der Geschichte ist Parteifunktionär Valerij. Er ist der erste, der mitbekommt, dass ein Reaktor explodiert ist, und auf einmal will er nur noch weg. Sein Leben steht auf dem Spiel. Er rennt. Und der Zuschauer rennt mit. Er kann nicht anders. Der Film wurde mit Handkamera gedreht, das Bild wackelt ständig. Wie im Affekt läuft Valerij zu seiner Freundin, holt sie aus der Dusche und erzählt von dem Unglück. Ungläubig eilt sie mit ihm los, um den Zug zu erreichen, der sie retten könnte. Doch sie knickt mit dem Absatz um, und ihren Pass hat sie auch nicht dabei. Der Zug fährt ohne die beiden los. Valerij sucht nicht nach Alternativen, sondern springt auf einer Hochzeit bei seiner alten Band als Schlagzeuger ein. Er will wenigstens sie warnen, aber da ist noch eine Prügelei offen, weil er in der Partei ist. Sie prügeln, sie raufen. Valerij kommt nicht vom Fleck, die Geschichte ebenso wenig. Dieses Klischeebild vom Rauchen und Saufen und Feiern der Russen, das der Regisseur bedient - man hält es nicht aus. Das Verhalten von Valerij sowieso nicht. Als er betrunken am nächsten Morgen auf einem Boot vor dem Reaktor erwacht, kann man nur noch den Kopf schütteln. So geht kein gut inszeniertes Drama.


Wettbewerb
Coriolanus
"Der Niedergang des Stolzes"

Shakespeares spätes Drama um den Römer Coriolanus ist nichts für sanfte Gemüter. Hier geht es knallhart zur Sache. Die ersten Szenen sind ein einziges Gemetzel. Caius Martius gegen Aufidius. Doch das Inszenario ist geprägt von heutigen Bildern. Sie sehen aus wie Kriegsnachrichten aus dem Irak, dazwischengeschaltete Kurzmeldungen via Fernsehen bestätigen es: Wir sind jetzt und hier. Dieses Schlachtfeld, das Ralph Fiennes (Regie und Titelrolle) aufzeigt, könnte überall sein. Allein die Sprache ist die von Shakespeare geblieben.

Ein stolzer Feldherr, der abschätzig auf sein wankelmütiges Volk herabsieht, steht Aufidius (Gerard Butler) gegenüber. Der ist es leid, immer und immer wieder gegen seinen Erzfeind zu verlieren, aber auch diese Schlacht gewinnt Caius Martius, blutüberströmt wohlbemerkt. Seine Narben sind Beweise für seinen Mut und Kampfeswillen, die den Sieg Roms über die Volsker untermalen. Das Volk schreit weiter unzufrieden nach Brot, während Caius Martius auf sie spuckt. Sein Sieg bringt ihm schließlich den Namen Coriolanus ein. Jedoch: seine Mutter (grandios: Vanessa Redgrave) hat mehr mit ihm vor, er soll Konsul werden. Dazu braucht er allerdings die Stimmen des Volkes. Sie durch Schmeichelei gewinnen? Nein. Das ist nicht seine Sache. Er versucht auf ehrliche Art, sie für sich einzunehmen. Es nutzt nichts. Die Wunden, die er offen präsentieren soll, will er nicht vorführen. Seine Widersacher ziehen die Plebejer auf ihre Seite, kaum dass Coriolanus ihnen den Rücken zugekehrt hat. Die letzte Chance, ein Auftritt in einer Fernsehsendung, eskaliert, Coriolanus beschimpft das römische Volk auf das Übelste.

Verbannung lautet das Urteil. Er lässt Frau, Sohn und Mutter zurück. - Und macht sich auf den Weg zu seinem Erzfeind, will sich ihm anschließen. Die Umarmung, die dann zwischen den Kämpfern folgt, ist gewollt zweideutig zu verstehen. Mit vereinten Kräften wollen sie Rom in die Knie zwingen. Sie wollen Rom brennen sehen. Die Nachricht erreicht alsbald seine Mutter. Die hält mit Frau und Sohn eine Standpauke, sprich: Theaterrede, dass Coriolanus die Tränen in die Augen treiben. Das kann nicht gut ausgehen.

Und irgendwie geht der Film auch nicht so gut. Den Sog, den die moderne "Romeo und Julia"-Verfilmung schaffte, gelingt Fiennes nicht. Natürlich passt zu einem stolzen Kämpfer, immer wieder in Nahaufnahmen ins Bild gerückt zu werden und die Eitelkeit ebenso. Das kann aber genauso gut an Fiennes Regie liegen. Es stört etwas ganz anderes viel mehr: das Volk. Die Szenen wirken so unecht, das sie die Farce des umgebetteten Dramas zum Kinofilm aufdecken. Der Film packt nicht wirklich. Liegt es an der Theatersprache, an dem Rhythmus oder an den Bildern selbst, in die der Zuschauer eintauchen soll? Vielleicht an allem ein bisschen.

Jessica Chastain, Ralph Fiennes und Vanessa Redgrave auf der Pressekonferenz

Nach der PK heiß begehrt: ein Gruppenfoto
 

Vierter Tag
13. Februar 2011
Von Astrid Mathis

Das Ende der Kindheit
Zum Tod Peter Alexanders

Immer stirbt jemand, wenn Berlinale ist. Am Samstag war es Peter Alexander. Die Nachricht verbreitete sich erst heute. Ich las davon als Topnews bei meinem GMX-Account. Natürlich gibt es ständig Abschiede auf dieser Welt, aber jetzt reden wir von Peter Alexander. Er hat nie einen Film auf der Berlinale vorgestellt und kam auch nicht ins Rennen um den besten ausländischen Film bei den Oscars. Braucht er nicht. Er nicht. Er hat auf andere Art Geschichte geschrieben. Als kleines Kind und als Jugendliche habe ich seine Shows verfolgt. Da hatte ich noch keine Ahnung von Einschaltquoten. Mit Mutti habe ich seit jeher Peter-Alexander-Filme geguckt. Ob als Graf Bobby oder Charleys Tante, völlig egal. Ich liebte ihn vor Leonardo DiCaprio und Ethan Hawke. Er konnte sowieso mehr. Mir ging immer das Herz auf, wenn ich einen seiner Filme sah und seine Musik hörte. Und ganz sicher rührt mein Interesse an Österreich nicht allein von den Sissi-Filmen, auch der Peter hat mich auf den Geschmack des Wiener Schmähs gebracht. Erst neulich habe ich in der Redaktion gesagt: "Ich mach' Schluss für heute.

Hauptsache, es läuft mal ein Film mit Peter Alexander, wenn ich zu Hause bin." Sozusagen als Balsam für die Seele. Oder, wie meine Kärntner Freundin sagen würde: was zum Drüberstreuen. Der Mann war ein Universaltalent. Auf das Singen verstand er sich genauso wie auf Wortwitz und Unterhaltung über der Gürtellinie. Er tat gut, hatte keine Skandale und nichts für die Regenbogenpresse zu bieten. Sicher - es ist still geworden um den 84-Jährigen, seit seine Frau Hilde 2003 starb und die Tochter 2009 folgte. Aber jetzt wird es erst richtig still.


Zum Abschied von Thomas Gottschalk

Als wäre der Tod von Peter Alexander noch nicht genug, gibt Thomas Gottschalk am Sonnabend seinen Abschied von "Wetten dass…?" bekannt, während ich auf der Berlinale in zwei total bescheuerten Filmen sitze. Mal geht es mit plumpen Sex-Anmachereien um den Dreh eines Werwolf-Films, mal um den Dreh eines Pornos. Über 10 Millionen Menschen haben vor den Bildschirmen gesessen, und wer weiß, wie viele die Wiederholung gesehen haben. Nur ich habe den Anfang vom Ende nicht live mitbekommen. Das Ende einer Familienshow und eines Lebensabschnitts. Ich habe es gleich gesagt: Gottschalk hört auf. Gleich, als der Unfall mit den Sprungfedern passierte. Da saß ich mit meinem zehnjährigen Neffen vor dem Fernseher. Ich, 34, er, 10 Jahre alt. 24 Jahre lang hat Gottschalk die Show moderiert. Davor habe ich sie schon geguckt, als es nur sonnabends hieß: Ab in die Wanne. Ich kann mich sogar an Frank Elstner erinnern und Thomas Gottschalk mit "Na so was!" Das lief nämlich davor.

Und nun ist alles weg - das Sonnabend-Bad, der Peter, der Gottschalk. Wenn jetzt noch Günther Jauch hinschmeißt, mache ich den Fernseher gar nicht mehr an.


Wettbewerb
Les Contes de la Nuit - Tales of the Night
Märchenhaft

Der 3 D-Tag beginnt vielversprechend. Michel Ocelot beschert der Berlinale mit seinen Märchen der Nacht einen angenehmen Start in den Tag. Es sieht so einfach aus, wie dieser Animationsfilm daherkommt. Scherenschnittartige Bilder ersetzen die Schauspieler. Da hocken jede Nacht drei Leute zusammen und basteln an Märchen herum, wie sich Zwei kriegen könnten. Der Hintergrund ist in knalligen Farben gehalten, die Geschichte ganz pur. Ein Beispiel: Es war einmal eine Prinzessin, die muss mit ansehen, wie ihre Schwester den Mann heiratet, den sie liebt. Und alles nur, weil er versprach, die zu heiraten, die ihm den Schal gegeben hatte, als er gefangen war. Denn diejenige befreite ihn. Wie es der Zufall will, scheint in der Hochzeitsnacht Vollmond, und der Prinz vertraut ihr sein Geheimnis an. Er legt die Kette ab, die ihn wieder zum Menschen werden lässt und verschwindet. Die von Grund auf böse Prinzessin erklärt kurz darauf, ihr Yann sei verschwunden, ein Werwolf hätte ihn umgebracht. Der sollte nun gejagt werden. Ihre liebe Schwester begegnet nun dem Werwolf, der sich ihr ganz zahm zeigt, und sie wiederum vertraut ihm an, wie es zu dem Missverständnis mit dem Tuch gekommen war. Als sie im Schloss ihrem Vater sagt, wie gut der Werwolf zu ihr war, stellen sie die böse Schwester auf die Probe und führen ihr den Werwolf vor. Sie verrät sich. Am Ende finden die Liebenden zueinander.

So stellt man sich Märchen aus tausendundeiner Nacht vor. In 3 D besonders bezaubernd.

 

Wettbewerb (außer Konkurrenz)
PINA
"Tanzt, tanzt - sonst seid ihr verloren!"

Als sich der Vorhang öffnet, ist alles klar: 3 D macht Sinn. Oder anders ausgedrückt: Nirgendwo macht 3 D mehr Sinn als in diesem Film. Wim Wenders hat das Unvorstellbare geschafft - er hat Pina Bausch auf unglaubliche Weise verewigt und ihr Tanztheater in Wuppertal gleich mit. Wim und Pina kannten sich schon lange, als die Idee aufkam, was sie schuf, mit der Kamera festzuhalten. "Ich weiß nur nicht wie, habe ich gesagt. Mit dem Körper auszudrücken, was sie mit ihrem Tanz tat, war ganz unmöglich auf die Leinwand zu bringen. Keine Sprache, kein Mittel konnte dem gerecht werden, diesen Blick von ihr, der in jeder Bewegung durchschimmerte, wiederzugeben", erzählt Wenders heute. Er verstehe sich auf Filme, nicht auf Bewegung. Abwechselnd überredeten sie einander, das Projekt wahr werden zu lassen. Die Übertragung des U2-Konzertes in 3 D am 18. Mai 2007 brachte schließlich die Lösung für den Regisseur. Nur so könnte es gehen. Die Vorbereitungen begannen, das Konzept für Probeaufnahmen erarbeiteten sie für Juli 2009 gemeinsam, damit die Tanzikone sich ein Bild machen konnte. Zwei Tage vor dem Termin kam die Nachricht von Pinas Tod. Wenders wollte nicht mehr, für ihn war der Film gestorben, ein Film ohne Pina unmöglich. Doch nach einiger Zeit regte sich in ihm und Pinas Tänzern der Wunsch, diesen Film erst recht zu machen. Für sie. Es würde ein anderer werden. Mit Pina waren Aufnahmen von ihren Proben und den Korrekturen geplant. Pina sollte bei ihrer Arbeit gezeigt werden. Nun wandelte sich das Konzept. Die Tänzer nehmen ihre größten Stücke auf den Spielplan: "Le Sacre du Printemps", "Café Müller", "Kontakthof", "Vollmond". Wenders verknüpft sie miteinander, indem er dazwischen Mitglieder des Tanztheaters Wuppertal sprechen lässt. Sie alle erzählen von ihrem Blick, der sie nackt machte, ohne sie bloßzustellen, ihrem Blick, der ein solches Vertrauen inne hatte, dass die Tänzer noch heute den Mantel von Pinas Obhut um sich spüren und alles von sich verlangen können. Pina hat nicht viele Worte gemacht. Zu einer Tänzerin sagte sie einmal: "Du musst verrückter werden." Der einzige Satz in 20 Jahren. Lutz Förster erzählt von einer furchtbar schlechten Generalprobe, zu der sich Pina überhaupt nicht äußerte. Vor der Premiere meinte sie wie immer in der Garderobe zu ihm: "Lützchen, mach' es schön" und fügte hinzu "Denk dran, ich muss Angst vor dir haben." Das war besser, als drei Stunden ausführliche Kritik zu üben, resümiert er.

Ihr Blick konnte auch beunruhigen, viele Tänzer erklären, Pina hätte irgendwann zu ihnen gesagt, sie müssten keine Scheu vor ihr haben, sollten sich nicht verstecken. Das half. Sie war ja auch für Ideen bei der Stückentwicklung offen, saß nächtelang mit ihren Tänzern zusammen, zündete sich ihre schmalen Zigaretten an und malte sich aus, was sein könnte.

Sie alle erinnern sich an das Gefühl der Geborgenheit, das sie vermittelte. Es ist auch spürbar, wenn sie in Wuppertal mitten in der Stadt tanzen, an einer Straßenkreuzung zum Beispiel. Oder in einem Haus wie bei der Choreographie zum Verlangen. Wenders gibt ihnen den Raum, in dem sie agieren können als zweite Ebene des Films.

Die dritte sind die Stücke selbst, in denen Stärke und Verletzlichkeit nebeneinander bestehen, Schönheit und Alter neu definiert werden. Pina Bausch wollte ihre Werke nie interpretieren und auch nicht interpretiert haben. Sie hat recht. Das ist wie ein ungeschriebenes Gesetz. Man muss sie sehen.

Von 1000 Dingen, die man getan haben soll, bevor man stirbt, muss "Pina" in 3 D ganz oben auf der Liste stehen. Ein beeindruckender und beglückender Film.

Wim Wenders mit Barbara Kaufmann und Julie Shanahan
 

Die Pressekonferenz

Neben Wim Wenders haben auf dem Podium die Tänzerinnen Barbara Kaufmann und Julie Shanahan Platz genommen. Ein ehrfurchtsvolle Stille macht sich nach lang anhaltendem Applaus breit.

"Der Blick von Pina ist, wenn Sie so wollen, das Thema des Films", beendet der Regisseur das Schweigen. So ein Blick auf die Seele und den Menschen, das er hindurchschaut. Pina konnte niemand etwas vormachen. So einen Blick hatte Wenders noch nie zuvor gespürt. Auch die Tänzerinnen sprechen von Pinas Blick. Barbara Kaufmann erzählt davon, wie Pina sie beschützt und gleichzeitig dazu angehalten hat, offen zu bleiben. Julie Shanahan führt die Atmosphäre des Vertrauens an, in der alles möglich war. Und Pinas Liebe, die sie mit ihrem Tanz zurückgaben. Über die 22 Jahre, in denen sie beim Tanztheater in Wuppertal ist, habe sie so viel verstanden - wie man bei sich bleiben kann. Noch heute haben sie das Gefühl, Pina würde ihnen über die Schulter schauen. Wim Wenders bestätigt das Gefühl und erklärt: "Ich war ein Anfänger mit 3 D, und aus dem Tänzerischen habe ich mich komplett rausgehalten." Er lässt die Tänzer Pinas Stimme werden.

Über ein Jahr haben sie gedreht. Auf die Orte in Wuppertal fiel die Wahl sehr schnell, Pina hatte 40 Jahre im Ruhrpott gewirkt. 1990 ging sie mit dem Stück "Die Klage der Kaiserin" in die Stadt. Diese Idee setzte Wenders nun mit dem Thema Pina erneut um. Die Tänzer bei ihrer Arbeit nicht zu behindern, war anfangs eine große Herausforderung, bis die Technik sich verbesserte und sie die Stücke auswendig konnten. Dann ging es immer besser. Die einzige Veränderung für die Stücke war der vermehrte Einsatz von Licht. Ansonsten blieb alles, wie Pina es erarbeitet hatte. Ebenso die Musik. Insgesamt sind es 40 Stücke, die im Film miteinander verwoben werden. Ein Beweis mehr für ihr Welttheater.

"Wo kann man 3 D angemessener anwenden als hier, wo Pina Sprache so wortlos ist?" fragt Wim Wenders zum Schluss. Er erwartet keine Antwort.

Wim Wenders verteilt an die begeisterten Zuschauer Autogramme

Wim Wenders auf dem roten Teppich


Forum
Nesvatbov - Matchmaking Mayor
"Drum prüfe…"

Auf so eine Idee muss man erst mal kommen. Da gab es tatsächlich einen Bürgermeister in Tschechien, der gegen das Singledasein seiner Dorfbewohner etwas unternehmen wollte. Täglich macht er Ansagen, sie sollten nicht auf der Straße herumgammeln, sondern lieber dafür sorgen, dass die Welt nicht ausstirbt. Seiner Ansicht nach gibt es zu viele Unverheiratete im Dorf. Das muss doch nicht sein. Gemeinsam mit seiner Assistentin erstellt er eine Liste von Männern und Frauen und entwirft wilde Kuppeltheorien. Ein Fest muss her, wo sich alle treffen und tanzen können. Schon geht die Organisation los. Die Assistentin trägt bei jedem persönlich das Anliegen vor, und schon da steht sie oft genug vor verschlossenen Türen. Dabei gibt es wirklich einige, die gern jemanden kennen lernen würden. Einer hebt seit Jahren zwei Flaschen Metaxa für die Richtige auf. Monika indessen putzt lieber in der Kirche, als überhaupt getrennt von ihrer Mutter zu schlafen. Eher aus finanziellen Gründen, sagt sie.

Dann kommt es zu dem Fest. Gut ein Dutzend Männer und Frauen sind gekommen, sie machen Spiele mit Luftballons, tanzen miteinander und hoffen, dass ein Wunder geschieht. Der Bürgermeister hat nach der Begrüßung das Weite gesucht. Am Ende der Veranstaltung gewinnt ein kleiner Mann eine Ballonfahrt, er soll sich eine Partnerin aussuchen, die mitkommt. Die Fahrt wird er am Ende allein machen. Eigentlich traurig, weil die Singles natürlich einen lieben Partner verdienen, aber auch lustig, weil der Bürgermeister so eine verrückte Idee hatte. Liebe lässt sich eben nicht erzwingen.

Panorama
The Guard
"Die spinnen, die Iren"

John Michael McDonagh kündigt seinen Film im International reichlich vielsagend an. Er hat ihn geschrieben und gedreht. Er weiß, wovon er spricht, wenn er behauptet, es sei eine schwarze Komödie. "Sie mögen die traurigen Dinge traurig finden und die lustigen lustig", prophezeit er. So kommt es tatsächlich. Doch im Prinzip lachen die Zuschauer dauernd.

Sergeant Boyle (Brendan Gleeson) ist schuld. Er ist ein rauer Typ mit dickem Bauch und großer Klappe, der aber auch seine Mutter über alles liebt und sie in eine Bar mitschleppt, weil sie sich Live-Musik wünscht. In Amerika war er ein einziges Mal, in Disneyland und hat sich über die Begegnung mit Goofy gefreut. Ab und an lässt er die Puppen tanzen und macht einen Dreier im Hotel. So einer ist er. In Boyles Revier in Irland hat er alles unter Kontrolle. Eines Tages bekommt er einen Agenten vom FBI auf den Hals geschickt, der von Don Cheadle gespielt wird und ausländerfeindliche Kommentare über sich ergehen lassen muss. Alles nur, weil Kokain in der Höhe einer halben Billion geschmuggelt werden soll. Der Übeltäter wird von Mark Strong verkörpert. Eine Paraderolle. Als Boyles Kollege tot aufgefunden wird, kennt der nur einen Verdächtigen. Ein Katz-und-Maus-Spiel beginnt.

Nebenbei betreibt der Film auch noch Landeskunde, führt ins schöne Connemara an der Westküste, wo nur Gaelisch gesprochen wird und Don Cheadle sich schon mal anhören muss: "Geh nach England, wenn du Englisch sprechen willst."

Brendan Gleeson und John Michael McDonagh im Kino International
 

Nach dem knalligen Ende stellen sich Regisseur und Darsteller den Fragen des Publikum. Alle sind bester Laune. Brendan Gleeson beweist Humor, als er auf sein Outfit im Film angesprochen wird. "Wissen Sie, die Uniform kommt mit dem Job. Die Unterhose war übrigens meine." Klar, dass er damit Lacher kassiert. Die Slips waren nämlich besonders auffällig. Er weiß aber noch was Interessantes zu berichten. "Die Live-Band im Pub waren Freunde von mir." Locker fügt der Regisseur hinzu, wie er auf die Musik von Calexico für den Film kam. "Ich saß betrunken in meiner Küche, wie es öfter der Fall ist, und da hörte ich im Radio dieses Lied." Die Idee für den Film hatte allerdings einen ernsten Hintergrund. Es gab nämlich vor einiger Zeit mehrere Schmuggelfälle an der irischen Küste.

Die besten Geschichten schreibt vielleicht doch das Leben.

Schauspieler Mark Strong
 

Dritter Tag
12. Februar 2011
Von Astrid Mathis

Wettbewerb
"Almanya - Willkommen in Deutschland"
Wo ist Heimat?

Das hat man nun davon, wenn man in der Warteschlange steht und jemanden vorlässt! So wird Hüseyin Yilmaz, der wie hunderttausende andere Gastarbeiter 1964 aus der Türkei nach Deutschland einreist, eben nicht der 1 000 000. Gastarbeiter und sieht zu, wie jemand anders ein Moped geschenkt bekommt. Inzwischen hat er in Deutschland ein Haus gekauft, seine Kinder haben ihn zu Großeltern gemacht. Und damit beginnt das Problem, sprich: das Integritätsproblem. Cenk, der Junge seines jüngsten Sohnes, wird in der Schule beschimpft, er sei kein richtiger Türke, auch die Deutschen wollen ihn nicht in der Fußballmannschaft haben. Als alle Kinder ihre Heimat nennen, landet Cenks Fähnchen auf einem weißen Fleck, denn bis Anatolien reicht die Karte nicht. Seine Cousine hat ein ganz anderes Problem: Sie ist schwanger, auch noch von einem Briten, und weiß nicht, wie sie ihrer Mutter überhaupt beibringen soll, dass sie einen Freund hat. Und Opa Hüseyin hat Alpträume, weil er seinen deutschen Pass abholen soll, während seine Frau diesem Schritt freudig entgegen sieht. Er will ja gar nicht Deutscher werden (auch wenn er fließend Deutsch spricht und sich hier ein Leben aufgebaut hat).

Beim großes Familientreffen platzt er heraus: "Ich habe ein Haus für uns in Anatolien gekauft." Er wünscht sich in den Herbstferien die Hilfe aller Kinder und außerdem, dass sie sich einmal an ihre Heimat erinnern. Alle.

Nun kommt der kleine Cenk ins Spiel. Was sie denn eigentlich seien - Türken oder Deutsche? Da beginnt Cousine Canan mit der Familiengeschichte, wie sie ihr Opa einst erzählte. Wie in einem Märchen führt sie aus, wie sich Opa in Oma verliebte, das Geld für die drei Kinder hinten und vorne nicht reichte und Opa nach Deutschland ging, um künftig per Postgeld für seine Familie zu sorgen und wie er schließlich alle nach Deutschland holte. Für Fatma und seine Kinder sieht das Land nicht gerade einladend aus, nicht nur, dass sie Deutsch als Kauderwelsch (der Film bedient sich einer Fantasiesprache) wahrnehmen, die Toiletten sind eine Katastrophe. Und dass sie sich darauf setzen sollen, sowieso. Zuerst will Fatma putzen: "Wer weiß, was die Deutschen für Krankheiten haben." Beängstigend wirkt auf sie außerdem das Jesuskreuz, das sie anbeten. Aber die Kinder finden bald etwas Gutes aus dem deutschen Sittenhaushalt heraus: Weihnachten mit Tannenbaum.

Ihre Eltern versuchen zu übernehmen, was die Kinder toll finden. Dass damit die Integration leichter fällt, kann man nicht gerade sagen, aber man kann über solche Szenen wie mit dem kleinen Bäumchen lachen. Man kann mit den Yilmaz auch weinen. Das ist die Stärke des Films. Er schwebt zwischen Komik und Ernst, und das Komische überwiegt. Ganz sicher kommen dem Zuschauer schnell Parallelen zum Film "Alles auf Zucker" in den Sinn. "Almanya" hat dieselbe Leichtigkeit. So lässt sich das Thema Integration leichter verdauen, besser, als sich gar nicht damit zu beschäftigen.


Die Pressekonferenz

Na, das war klar. Eine Journalistin fragt doch tatsächlich den jüngeren Hauptdarsteller, als was er sich mehr betrachtet - Türke oder Deutscher. Er lacht und wird dann fast gnatzig: " Was ist türkisch, was deutsch? Das müssen Sie mir beantworten, bevor ich darauf antworte." Er spielt die Geschichte seines Vaters, erzählt er weiter, was ein komisches Gefühl war, so als assimilierter Deutschtürke. Um so mehr hat es ihn Spaß gemacht, in der Türkei zu drehen. Das auserwählte Dorf spielte Zuschauer und ignorierte Verbote einfach. "Sie haben auch nicht verstanden, warum eine Szene mehrmals gedreht wurde. Ihr habt doch schon alles gut gemacht. Und zwei Mal heiraten haben sie gar nicht verstanden", gab Fahri Yardim zum besten. Außerdem verrät er, dass sein Türkisch so schlecht klingt, dass sich jeder kaputt lacht. Sein Alter Ego Vedat Erincin, zur ersten Generation der Einwanderer gehörig, stellt fest: "Die Frauen, die hier ein Kopftuch tragen, sind ganz anders als die Frauen in der Türkei. Deutschland hat sie verändert." Und seine Filmpartnerin ergänzt, zu Hause in der Türkei würde sie als Ausländerin betrachtet, in Deutschland dasselbe. Seinen Platz zu finden, sei nicht einfach.

Das war offensichtlich der Aufhänger des Films, in dem die Schwestern Samdereli ein bisschen auch ihre Familiengeschichte verarbeiten. Letztlich sind sie die dritte Generation ihrer Familie. Und ja, es ist ein Frauenfilm. Behauptet Fahri Yardim. Auch wenn Yasemin sagt, sie sei eher ein männlicher Typ.


 

 


 
Zu Gast: Christian Wulff

 

Zweiter Tag
11. Februar 2011
Von Astrid Mathis

Wettbewerb
"Margin Call"
"Rette sich, wer kann"

Über Manhattan ziehen Wolken auf. Damit sagt Regisseur JC Chandor eigentlich schon alles. Finanzkrise. Wir schreiben das Jahr 2008. Spielort: eine Investmentfirma. Spielzeit: 24 Stunden. Gerade werden 80 Prozent der Mitarbeiter einer ganzen Etage entlassen. Der Platz wird geräumt, das Handy abgeschaltet, ein Sicherheitsbeamter begleitet die Entlassenen mit ihren persönlichen Sachen hinaus. Sam Rogers (Kevin Spacey mit grauem Haar und übermüdetem Blick) wird jeden Moment eine Ansprache für die Übriggebliebenen halten und vergießt vorher sichtlich ergriffen ein paar Tränen über seinen kranken Hund. Wenig später erklärt er trocken: "Die anderen waren gut, aber Sie sind besser." Für Eric Dale (Stanley Tucci), den Abteilungsleiter, ein besonderes Drama. Er war einer ganz heißen Sache auf der Spur und reicht den Stick mit den Daten noch schnell einem Mann aus seiner Abteilung, Analyst Peter Sullivan (Zachary Quinto). Der knackt das Geheimnis: faule Geschäfte mit Hypotheken. Was in den letzten zwei Wochen geschah, kann die Firma in den Ruin stürzen. Sullivan zieht seinen Kollegen Will Emerson (Paul Bettany) hinzu. Dann kommt Sam ins Spiel. Lange hadern sie damit, den Boss anzurufen. Schließlich fliegt John Tuld ein und beruft sofort eine Krisensitzung. Jeremy Irons verkörpert den Tycoon mit der Präsenz und Gestik eines Macbeth. Er ist einer, dem Zahlen und Tabellen nicht viel sagen. Selbst ihm ist die Rechnerei zu hoch. "Erzählen Sie in einfachem Englisch, als würden Sie es einem Kind erklären oder einem Golden Retriever", fordert er. Sullivans Stunde ist gekommen, eine Beförderung hat er sicher. Kurz gesagt, die Hypotheken weisen nicht den in den Büchern angegebenen Wert auf. Die Lösung hat Sam parat, eine Lösung mit vielen Verlusten. Alles verkaufen, betrügen, auch wenn die Käufer danach nie wieder zu einem Geschäft mit ihnen bereit sind. Aber Sam zögert. Und macht es dann doch entgegen seinen Moralvorstellungen - nur für die Firma und weil er einfach das Geld braucht. Er mobilisiert seine Abteilung und prophezeit auch, was für Folgen die Aktion haben wird.

Schon in der ersten Szene wird der kalte Grundtenor deutlich, der den Film begleitet und vorantreibt. Man möchte meinen, so ein Film über die Finanzkrise wäre vielleicht nicht unterhaltsam oder spannend. Falsch. "Margin Call" ist packend, denn gerade, wie jeder Einzelne mit der Situation im Chaos umgeht, ist interessant. Zugegeben, das ist kein Film über die Leute, die an die Spekulanten draufzahlen und für immer ruiniert sind. Er rückt den aufsteigenden Peter Sullivan in den Vordergrund, seinen zweifelnden Kollegen Seth (Penn Badgley), der das Ende seiner Karriere kommen sieht, ihren Chef Sam Rogers, einer der Zuverlässigsten, der mehrere Betriebsjubiläen hinter sich hat und sein Gewissen mit dieser Katastrophe nicht belasten will usw. Bis zum obersten Glied der Kette, Mr. Tuld, verkörpert durch Jeremy Irons. Und der will auch nur retten, was zu retten ist, was er sich zig Jahre lang aufgebaut hat.

Ein klasse Film.


Zachary Quinto, Paul Bettany, Kevin Spacey und Jeremy Irons auf der Pressekonferenz (v.l.)

Die Pressekonferenz

Etwas steif nimmt die Darstellerriege im Hyatt neben dem Regisseur JC Chandor Platz, der ebenfalls das Drehbuch verfasste. Bei Kevin Spacey, der grinst, und Jeremy Irons, der nicht so sehr grinst, fällt der Applaus am größten aus.

Ach ja, der erste Journalist spricht schon aus, was wohl alle denken: "Es ist unmöglich, einen Banker zu hassen, wenn er von Kevin Spacey gespielt wird." Dazu noch einen, der einen Hund hat. Ist der Hund denn so wichtig? "Sicher. Er ist eine Metapher für das, was mit der Firma passiert", erwidert Spacey. Oder mit seiner Moral. Als er den Hund begräbt, begräbt er viel mehr, die Firma, den ganzen Tag. "Das soll ja die Menschlichkeit des Charakters zeigen", fährt der Darsteller fort, "das waren Leute mit normalen Jobs, die Anweisungen befolgten." Jeremy Irons teilt die Ansicht: " Banken sind unmoralisch. Das ist ihr Job, aber wir brauchen Moral, und wir müssen daran denken, dass wir Ressourcen teilen müssen" In seiner Rolle wolle er das Schiff auf dem Wasser halten, mehr nicht. Seiner Meinung nach müssten Independent Filme viel mehr gefördert werden - und zwar von den großen Firmen, die sowieso Geld machen. Da sind wir wieder bei der Moral: Werden Filme gemacht, weil sie Geld einspielen oder weil sie ein wichtiges Thema behandeln?

Für den Regisseur JC ist der Film sogar eine Tragödie, denn die Leute müssen mit ansehen, dass sie einen Teil ihres Lebens vergeudet haben. Ganz klar zielt der Film auf ein Bildungsbürgertum als Publikum, das bereit ist, Empathie zu empfinden.

Mit Anekdoten und Scherzen lockert die Filmcrew die Zuhörer wieder auf. Jeremy Irons erzählt: Als er ans Set kam, hatte er es schwer, klagte er, umgeben von Schauspielern, die sich kannten. Doch das Schlimmste war angeblich, mit Kevin Spacey spielen zu müssen. "Und du hast nie deinen Text gelernt", meckert Spacey zurück.

Auf die Frage, wie sie es schaffen, solche Dialoge überhaupt nicht "papery" - abgelesen - klingen zu lassen, begründet Paul Bettany nonchalant: "Weil Kevin so ein guter Schauspieler ist! - Ich weiß nicht, wie Schauspiel funktioniert. Es ist ein bisschen wie Sex. Es ist toll, es zu tun, aber furchtbar, darüber zu reden."

Das letzte Wort hatte Spacey nach einem Abstecher zu Karl Marx: "Ich habe gehört, heute Abend kommt der Finanzminister. Man lernt nie aus."

Jeremy Irons nach der PK beim Autogramme-Schreiben


Premiere am Roten Teppich

Die deutsche Schauspielerin Martina Gedeck erwartete mit Spannung den Film.

Als erster kam Zachary Quinto auf den Teppich.

Wie seine Kollegen gab Quinto fleißig Autogramme und hielt seinen Kopf für Fotos hin.

Jeremy Irons, Paul Bettany und Zachary Quinto

Jeremy Irons im Interview

und auf dem Weg zur Premiere


Forum
"En terrains connus" (Familiar Ground)
Auf verlorenem Posten

Hach, es läuft alles nicht für das Geschwisterpaar in Stéphane Lafleurs Film. Vielleicht liegt es am kanadischen Winter. Beide haben die 30 offensichtlich überschritten. Er wohnt bei dem Vater, schmettert nachts auf seiner Bassgitarre herum und wird von dem Sohn seiner Freundin mit Grimassen bedacht. Das Ski-Doo, mit dem er durch die Gegend fährt, versagt ihm den Dienst, das Soßenglas bekommt er nicht auf. Und als er den Schneemann vor dem Haus seiner Freundin zusammenschlägt, weil sie ihn rausgeschmissen hat, verletzt er sich die Hand. Seiner Schwester geht es nicht besser. Sie arbeitet in einer Fabrik. Dort geschieht der erste von drei angekündigten Unfällen. Ihr Mann guckt fern und fährt im Wohnzimmer Fahrrad, während ihrem Gesicht abzulesen ist, dass sie längst die Scheidung eingereicht haben will. Als die Zwei beim Familienessen anlässlich des Todestages ihrer Mutter im Elternhaus zusammentreffen, ist die Katastrophe vorprogrammiert. Dazu hat Benoit den Vogel, der gegen die Fensterscheibe geknallt ist, ins Essen integriert.

Wie gut, dass die beiden in den Schnee fahren, in das Haus, in dem sie früher wohnten. Dort kommen sie sich näher, wenn sie vor dem Kamin sitzen und zusehen, wie das nasse Holz meterweit herausragt und nicht anbrennt.

Stéphane Lafleur hätte ein Riesendrama oder eine Klamotte aus der Geschichte machen können, aber er erzählt mit Witz und Liebe, wie sich die Geschwister wieder annähern. Dass er sich nicht über die Charaktere lustig macht, sondern sie in ihrer schrulligen Art liebenswert darstellt, ist sein großer Gewinn. Und der Mann aus der Zukunft, also, der Mann, der aus dem September kommt und den Unfall mit der Schwester hervorsagt, ein glänzender Einfall.

Erster Tag
10. Februar 2011
Von Astrid Mathis
Wettbewerb
"True Grit - Vergeltung"
"Der Gottlose flieht, auch wenn niemand ihn jagt."

So heißt es am Anfang des neuen Streifens der Coen-Brüder. Schnell wird klar, wer hier flieht und wer jagt. Wie bei einem Western aus guten alten Zeiten. Arkansas. Die 14-jährige Mattie Ross (Hailee Steinfeld) hat ihren Vater verloren und will sich an dessen Mörder Tom Chaney (Josh Brolin) rächen. Schließlich ist der Mann schuld an seinem Tod. Nun steht sie allein vor seinem Sarg, die gramgebeugte Mutter und der kleine Bruder sind zu Hause. Wer sollte den Job sonst übernehmen? Die Behörden wollen ihr nicht helfen. Doch von Aufgeben keine Spur.

Mit diesem Mädchen ist nicht gut Kirschen essen, bekommt auch der Bestatter zu spüren. Mattie lässt sich nicht übers Ohr hauen. Was sie interessiert, ist ein Marshall, der ihr bei der Suche nach Tom Chaney helfen kann. Rooster Cogburn (Jeff Bridges) klingt nach einem, der echten Schneid (true grit) hat. Nur will er von seiner Auftraggeberin nichts wissen - bis sie ihm Geld auf den Tisch legt. Sie hat inzwischen die Verhandlung des Marshalls miterlebt - viele Verhaftungen gehen nicht auf sein Konto, mehr Leichen eben. Und mit Rechnungen kennt sich die Kleine aus. Schon ihr Pferdehandel, der aber eher an einen Kuhhandel erinnert, unterstreicht ihr Talent zum Rechnen, ähm, Handeln. Cogburn hat keine Chance, dem jungen Mädchen zu entkommen. Den Auftrag nimmt er an, er sagt die "Waschbärenjagd" zu, ja, er schließt sich sogar mit dem Texas-Ranger LaBoeuf (Matt Damon) zusammen, den Mattie zuvor als Jagdhelfer abblitzen ließ. Bloß die Kleine will er bei seinem Auftrag nicht dabei haben. Dennoch: Die Beiden kommen nicht weit, um Tom Chaney ohne sie zu verfolgen. Mattie überquert mal eben schwimmend einen Fluss hoch zu Ross, kriegt den Hintern von La Boeuf versohlt und steckt die zwei Kerle am Ende so oder so in die Tasche.

Dabei zuzusehen, wie die Schranken zwischen den Charakteren zerbröseln, macht Spaß, auch, wie sie sich streiten und vertragen, Achtung voreinander aufbauen und im Schneegestöber den Gejagten trotzen - das hat schon was. Der makabre Witz der Coen-Brüder blitzt an jeder Ecke auf. Dass Rooster Mattie auf einen Baum schickt, um einen Erhängten loszuschneiden, damit er den Galgenbruder erkennen kann, verrät deutlich die Handschrift von Ethan und Joel Coen. Der Staub dieses Westerns, er ist neu.

"True Grit" wird als Remake des Klassikers "Der Marschall" mit John Wayne aus dem Jahre 1969 gehandelt, obwohl er das nicht sein will und ausschließlich an dem Roman orientiert sein soll. Für die Rolle des Rooster bekam Wayne einst den Oscar. Der neue "True Grit" hat allerdings einen ganz anderen Star: Hailee Steinfeld als Mattie.

Hailee Steinfeld, Jeff Bridges und Ethan Coen (von links)

Die Pressekonferenz

Sie sind alle da - mal abgesehen von Matt Damon, der Jeff Bridges im Nuscheln fast übertraf. Und mittendrin Hailee Steinfeld. Sie lächelt in die Menge und weiß gar nicht recht, was sie sagen soll, als sie nach der größten Herausforderung beim Dreh gefragt wird. Joel Cohen übernimmt die Antwort und erzählt: "Sie war unglaublich: Wenn wir gesagt haben, klettere auf den Baum, hat sie gesagt "okay" und das einfach gemacht." Jeff Bridges lobt die Coen-Brüder als die derzeit besten Filmemacher der Welt: "Es sieht alles so leicht aus bei ihnen, auch wenn es nicht so einfach war." Aber die Gewalt und der Tod in den Filmen der Coen-Brüder haben ja schon eine Linie… "Ich finde es schwierig, das auf mich zu beziehen. Leben und Tod haben schlicht erzählerischen Wert", kommentiert Ethan Coen diese Bemerkung. Jetzt kommen die Coens nicht mehr um die Frage nach dem Remake herum. Dass sie danach gefragt werden, können sie gar nicht verstehen, sie würden nicht mal an ein Remake denken, wenn sie nicht gefragt würden. Klar hatten sie den Film früher mal gesehen, aber das Buch hatte sie in ihrer Kindheit schon fasziniert - und der Roman war die Grundlage für den Film, nicht "Der Marschall". Jeff Bridges verrät: "Als ich den Anruf bekam, sagte ich: ‚Davon gibt es schon eine Verfilmung', aber als ich das Buch las, kam es mir vor wie ein Stück von den Coen-Brüdern, und ich wusste, dass sie sich wirklich auf das Buch beziehen." An John Wayne hatte Bridges beim Spiel überhaupt nicht gedacht. Hailee Steinfeld kannte ihn vor dem Film nicht einmal. Die Coen-Brüder schätzen ihn als Schauspieler, bei dem man sich die Titel seiner Filme nicht merken kann, weil sie so John Wayne getragen sind. Josh Brolin scherzt: "Ich liebe seine politische Einstellung."

Aber was hatte Hailee gedacht, als sie das einzige weibliche Wesen an der Seite dieser Männer war? Wollte eine Journalistin wissen. Ethan Coen provoziert lachend: "Das klingt ja, als wären Sie gern dabei gewesen." Zurück zu Hailee. Eigentlich war sie auch von Frauen umgeben, gesteht sie, von ihrer Mutter, der Lehrerin usw. Am Set mit den Männern - "das war nicht schlecht, machte eine Menge Spaß. Sie wurden alle so was wie Vaterfiguren für mich", schwärmte die Schauspielerin. Die dreieinhalb Monate hatte sie die Männer hinter den Kulissen bei Laune gehalten . "Sie hat mehr Geld am Set gemacht als im Film", gab Jeff Bridges zum besten. Er ist schließlich derjenige, der die Frage, was echter Mut ist , beantwortet: "True Grit - ist, eine Sache, die man angefangen hat, zu Ende zu bringen." Die Coen-Brüder haben sich die Frage nur gegenseitig zugeschoben und blieben die Interpretation schuldig.

Hailee Steinfeld und Jeff Bridges

Panorama Tomboy
"Wer bin ich?"

Kinder haben es wirklich nicht leicht. Die Eltern ziehen um, der Nachwuchs zieht mit. Auch Laure geht es so und ihrer kleinen Schwester, ein quirliges Mädchen, das gute Laune verbeitet und zu schrägen Klaviertönen von Laure die Ballerina mimt. Sie hat die Locken, Laure kurze Haare und am liebsten Hosen an. So glaubt ihr Lisa aus der Nachbarschaft sofort, dass sie Mikael heißt und hat einen neuen Freund gefunden. Lisa führt sie zu den Nachbarskindern, und die Clique nimmt sie auf. Zu spät, um etwas richtigzustellen. Es spielt auch irgendwie keine Rolle. Mikael spielt Fußball, rauft sich und bändelt mit Lisa an. Alles könnte wunderbar sein, aber es sind eben Ferien. Noch kommt Laure nicht in die 4. Klasse. Beim Spielen und Schwimmen muss sie nicht ihre wahre Identität preisgeben. Nur ihre Schwester kommt ihr auf die Schliche. Doch dann der große Knall. Die Auflösung für den Zuschauer, dem es schwer fällt, jemand anderen als Mikael zu sehen, selbst wenn auf einmal alle Zeichen dagegen sprechen.
Sensibel und humorvoll erzählt "Tomboy" von der Suche nach dem Ich und dem Gefühl, sich in keiner Haut wohl fühlen zu können.
 

© POTZDAM 2011 - Urheberrechte Fotos/Texte: ASTRID MATHIS