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Siebenter Tag
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16. Februar 2011
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Von
Astrid Mathis
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Wettbewerb
(außer Konkurrenz)
Mein
bester Feind
"Verraten und verkauft oder - Ich bin du"
Sagen
wir es mal so: Nach Oskar Roehlers Reinfall mit "Jud
Süß" auf der Berlinale 2010 konnte es nur
aufwärts gehen mit dem deutschen Film und mit Moritz
Bleibtreu sowieso. Dem Film liegt der Roman "Wie es Victor
Kaufmann gelang, Adolf Hitler doch noch zu überleben"
des österreichisch-jüdischen Autors Paul Hengge
zugrunde. Regisseur Wolfgang Murnberger, selbst Österreicher,
hatte schon mit "Dem Knochenmann" bewiesen, dass
er es kann. Was sollte noch schiefgehen?
Wien,
1938. Victor (Moritz Bleibtreu) und Rudi (Georg Friedrich)
sind Freunde seit jeher. Dass Rudis Mutter Hausbesorgerin
der durch Kunsthandel reich gewordenen Judenfamilie Kaufmann
war, spielte für die Jungen keine Rolle. Für Rudi
ist heute noch ein Bett frei. Auch wenn sich die Zeiten geändert
haben und in Wien die SS einmarschiert. Doch Rudi will mehr
als ein Bett, mit Uniform kann er endlich etwas sein, und
so verrät er den Nazis, dass Kaufmanns einen echten Michelangelo
im Haus haben. Als das Bild unauffindbar ist, droht ihm der
Standartenführer Widrizek. Rudi droht wiederum seinem
alten Freund, und plötzlich taucht das Bild wieder auf.
Nun müsste alles gut sein, die Familie in die Schweiz
ausreisen dürfen. Nichts da! Die Familie kommt ins KZ,
und Rudi, der das nun auch nicht wollte, macht sich dennoch
an Lena (Ursula Strauss) ran. Der Freundin von Victor wurde
alles Hab und Gut überschrieben. Da kann er gleich zwei
Fliegen mit einer Klappe schlagen. Doch die Sache läuft
nicht glatt. Die Italiener melden sich eines Tages an, der
Duce kommt auch und will das Bild sehen, aber das Bild ist
nicht echt, bestätigt ein Kunstexperte. Der alte Kaufmann
ist nicht mehr, jetzt soll Victor das Versteck verraten, sonst
ist Hitler geliefert.
Gemeinsam
mit Rudi steigt er in das Flugzeug, dessen Absturz Victor
zu einer einmaligen Gelegenheit verhilft. Partisanen sind
im Anmarsch, Rudi soll sich lieber als Häftling tarnen.
Nur dass keine Partisanen kommen und Victor auf einmal mit
seiner SS-Uniform vor ihm steht. Wie lange kann er das Spiel
aufrecht erhalten?
Murnberger
erzählt die Geschichte dramatisch mit Raum für Ironie
und Witz, aber nicht zu viel. Es soll ja keine Klamotte werden,
sondern ein spannender Spielfilm. Das gelingt ihm. Österreicher
dürfen Märchen erzählen. Das war schon bei
dem Film "Die Fälscher" so. Dafür gab
es sogar den Oscar für den besten ausländischen
Film.
Die
Pressekonferenz
"Ja,
wenn Sie es so wollen, betrachten Sie es als Märchen,
denn die Geschichte ist fiktiv und Märchen sind auch
fiktiv. Der Held sollte mal ein Jude sein." Das ist doch
mal eine Aussage von Wolfgang Murnberger. Auf dem Podium fehlt
Moritz Bleibtreu. So fallen kritische Anmerkungen, warum er
wieder in einem Film die SS-Uniform anlegen muss, weg. Apropos
Uniform. Sie macht was mit einem. Georg Friedrich sagt es,
seine Kollegin Ursula Strauss auch. Die Haltung wird besser,
und Uniformen geben außerdem ein Machtgefühl. Findet
Uwe Bohm, der Widrizek und damit den einzigen nicht ambivalenten
Charakter verkörpert. Die Bedrohung muss ernst sein,
sind sich alle einig.
Ursula
Strauss sieht sich derweil als einzige, die während der
ganzen Geschichte nichts zu lachen hat. Von manchen Szenen
drehten sie an den ersten beiden Drehtagen zwei Varianten,
um sich dann im Schneideraum zwischen ernster oder heiterer
Version zu entscheiden, am Ende war es öfter die ernstere.
Es sei schon absurd, so Murnberger, dass Österreich und
Deutschland einen Weg gefunden haben, mit dem Thema nicht
ernst umzugehen. Das glaubt er nicht trotz Komödie "Der
Führer". Immerhin findet Georg Friedrich auf die
Frage nach dem Dialekt, den er als Österreicher voll
einsetzen konnte, seinen Humor wieder: "Sicher haben
90 Prozent der Zuschauer damit ein Problem, ich habe keins."
Sprach's - und aus.
Berlinale Spezial
Tom Hooper "The King's Speech - Die Rede des Königs"
Die Stimme der Monarchie
Zuerst
das Mikrofon. Dann das volle Wembley Stadion in London. Es
ist das Jahr 1925, die Abschlussrede für die Empire-Ausstellung
hautnah. Noch bevor Albert, später König George
VI., den ersten Ton über die Lippen bringt, hat der Zuschauer
schon einen Kloß im Hals.
Man
muss ihn lieben, man kann gar nicht anders. Unerträglich
sind diese ersten Minuten, fühlbar die Überwindung,
die der Redner aufbringt, um letztlich zu stammeln, zu stottern,
zu scheitern. Seine Frau hält ihm zuversichtlich den
Arm. Es hilft nichts. Colin Firth gibt diesem Mann eine Stimme,
die bricht vor aller Augen und Ohren - trotz Zuversicht seiner
Gattin Elizabeth (Helena Bonham Carter), die einmal als Queen
Mum in die Geschichte eingehen wird. Reden sind dem Herzog
von York ein Greuel. Das können Vater und Bruder viel
besser. Lieber erzählt er seinen beiden Töchtern
liebevoll die Geschichte vom Pinguin. Nach dem letzten Therapeuten
verspricht Elizabeth, dass Schluss ist mit den Experimenten.
Doch dann entdeckt sie Lionel Logue (Geoffrey Rush), Australier,
außerdem eine Koryphäe seines Fachs, und lotst
ihren Mann in seine Praxis. Wie er schon dasitzt, in der äußersten
Ecke des Sofas vor den bunten, ranzigen Wänden und sich
vehement wehrt gegen alles, was der Therapeut sagt und fragt,
verrät, dass ihm nichts am Thron liegt und noch viel
mehr, dass ihm das Selbstvertrauen in der Sprache fehlt.
Fortan
wird ihn Logue nur Bertie nennen, wie ihn seine Familie anspricht,
denn seine Methode ist eine persönliche. Es muss etwas
Schlimmes in seiner Kindheit passiert sein, er weiß
es einfach. Jahrelang wurden ihm Schienen wegen seiner X-Beine
angelegt. Noch als Erwachsener hänseln ihn Vater und
Bruder, erfährt er. Bertie beginnt nach anfänglicher
Ablehnung zu vertrauen und zu reden. Fluchen soll er dabei,
singen und tanzen. In dem Raum von Logue findet er den Schutz,
der ihn auffängt, als ihm sein Bruder David (Guy Pearce)
schließlich eröffnet, dass er aus Liebe zu Wallis
Simpson, einer bürgerlichen Frau, die zwei Scheidungen
hinter sich hat, vom Thron abrückt. Edward VIII. will
den Titel nicht mehr. "Ich bin kein König, ich bin
Marineoffizier", flüstert Bertie zitternd seiner
Frau zu. Und sie erwidert: "Weißt du, warum ich
dich geheiratet habe? Ich dachte: Er stottert so wundervoll,
sie werden uns in Ruhe lassen."
Aber
er kann sich nicht entziehen, die Sätze am Tag der Krönung
1936 in der Westminster Abbey müssen sitzen, Bertie braucht
Lionel. Und er kommt. Doch die größte Herausforderung
steht ihm noch bevor - als er drei Jahre später Deutschland
den Krieg erklärt. Er ist allein mit Lionel in einem
Raum, so dass er das Gefühl hat, nur zu einem Freund
sprechen zu müssen. Er wird der Meister der Pausen und
sein Leben lang Lionel Logue bei öffentlichen Auftritten
an seiner Seite haben.
So
viel Größe und Sensibilität, Tiefgang und
Leichtigkeit hat es im Kino in einer Geschichte über
die Monarchie noch nicht gegeben. Man möchte rufen: Lang
lebe George VI., lang lebe Colin Firth!
Colin Firth und Helena Bonham Carter im ernsten Gespräch
über die Monarchie
Die
Pressekonferenz
Abends
acht Uhr im Hyatt. Wie auf Kohlen sitzen die Journalisten,
die Premiere startet in einer Stunde. Viel Zeit für Fragen
bleibt nicht. Jeder rollt innerlich den roten Teppich aus.
Endlich kommen sie: Tom Hooper, Colin Firth, Helena Bonham
Carter. Applaus brandet auf. Eine Aura umgibt das Trio, die
sprachlos macht. Das Stottern, verrät Colin Firth, habe
er danach zwar ablegen können, aber es habe eine Weile
gedauert, bis er sich den langsamen Rhythmus wieder abgewöhnte.
Er hatte viel recherchiert.
Immer
wieder englische Geschichte. Lernt man da noch was? Oh ja.
Die Geschichte der Monarchie ist unerschöpflich. Königinnen
zu spielen, scheint Helena Bonham Carters Paraderolle zu sein.
"Ich mag Königinnen", erklärt sie schlicht,
"ich werde oft gefragt und habe keine Ahnung, warum.
Es sind ja auch verschiedene Königinnen, die ich spiele."
Allerdings
kommt es einem ja vor, als würde keiner von ihnen spielen,
so gut wären sie, so intim die Situation dargestellt.
"Die Arbeit hängt ja auch voneinander ab, instinktiv.
Man benutzt die Energie des anderen und fühlt sich, als
würde man darauf weiter gleiten. Ich glaube, die Dynamik
zwischen uns allen ist das, was so bewegt", erzählt
Colin Firth und fügt noch hinzu: "Sentimentalität
hätte die Geschichte kaputt gemacht."
Yes
Sir, und was Tom Hooper noch sagen wollte, alle zwischen 8
und 80 verlieben sich in seinen Charakter. "90",
korrigiert Colin Firth. 90.
Das mit den 12 Nominierungen für die Oscars haben sie
auch schon gehört.
Die Stars aus "Die Rede des Königs" am Eingang
des Palastes.
Colin Firth im Friedrichstadtpalast auf dem Weg zu seinem
Kinoplatz
Was
für ein Beifall! Und dann... Als Tom Hooper nach der
Vorführung im Friedrichstadtpalast seine Rede hält,
hätte man eine Stecknadel zu Boden fallen hören.
Er erzählt, wie er zu der Geschichte kam. Drehbuchautor
David Seidler hörte in den 40ern die Reden des Königs.
Er selbst stotterte und nahm sich George VI. zum Vorbild.
Während seines Studiums recherchierte er, und 1988 verfasste
er das erste Drehbuch mit dem Stoff. Bei erneuten Nachforschungen
stolperte er erstmals über den Namen Lionel Logue und
nahm Kontakt zu dessen Sohn auf. Der hatte zwar Schriften
seines Vaters, bat aber um das Einverständnis der Königin,
sie freizugeben. Er sollte sie nicht zu lesen bekommen, so
lange sie lebte, zu sehr schmerzte die Erinnerung, bekam er
vom Königshaus zur Antwort. Und so wartete Seidler. 2005
brachte er den ersten Entwurf zu Papier. Dann geschah das
Wunderbare. Hoopers Mutter (Australierin wohlbemerkt) wurde
zu einer Lesung des Stückes "Die Rede des Königs"
in London eingeladen. Tief beeindruckt habe sie zu Hooper
gesagt: "Das wird dein nächster Film."
Was
uns das lehrt? Hooper spricht es aus: "Hör' auf
deine Mutter!" Der Zufall wollte es so, dass sich letztlich
doch Kontakt zur Verwandtschaft von Lionel Logue aufbauen
ließ, sein Enkel Mark besitzt die Unterlagen seines
Großvaters. Die Aufzeichnungen wurden zur Goldgrube,
das Drehbuch wurde überarbeitet. Soweit zum Hintergrund
des Films.
Zeit,
einem Menschen zu danken, neben dem er sitzen durfte und der
an diesem Abend wohl Jedermanns König war: Colin Firth.
Bewegt von dem stürmischen Applaus bemerkte er, er freue
sich, den Film in Berlin einem so tollen Publikum zu zeigen.
Ein bisschen traurig sei er auch - er werde diesen Tag nicht
vergessen -, denn er glaube, dass sei das letzte Mal, dass
sie den Film gemeinsam sahen. Beifall ebenfalls für Helena
Bonham Carter. Keine andere Königin hätte Hooper
sich an Georges Seite vorstellen können.
Zum
Niederknien. Als sie in Richtung Ausgang schreiten, nehmen
sie den Hauch Monarchie mit, der kurze Zeit den Friedrichstadpalast
erfüllte.
Ein anstrengender Tag geht für Colin Firth, Helena Bonham
Carter und Tom Hooper zu Ende. Ständig lächeln kann
ja auch ermüden.
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Sechster Tag
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15. Februar 2011
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Von
Astrid Mathis
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Wettbewerb
Nader
und Simin, eine Trennung
"Wer lügt, gewinnt"
Das
ist er. Nach den ersten zehn Minuten des iranischen Films
ist klar, so sieht ein Bären-Gewinner aus. Der Film beginnt
vor Gericht. Mann und Frau streiten. Sie will ausreisen, er
will bei seinem demenzkranken Vater bleiben. Das Kind soll
zum Vater. Damit ist die Mutter nicht einverstanden. Sie will
sich scheiden lassen, weil ihr Mann nicht mitwill.
Die
Geschichte könnte überall spielen, nicht nur im
Iran.
Nach
dem Streit trennen sich die beiden. Der Mann stellt eine Pflegerin
ein, die schnell überfordert und außerdem schwanger
ist. Ein Unfall passiert, die Pflegerin stürzt die Treppe
hinunter, verliert das Kind. Ihr Arbeitgeber kommt vor Gericht.
Wusste er, dass sie schwanger war? Kann er zur Verantwortung
gezogen werden? Zu wem will eigentlich die Tochter, wen hat
sie lieber, Mama oder Papa?
In
der Radio-Eins-XXLounge mit Knut Elstermann steht der iranische
Regisseur Asghar Farhadi Rede und Antwort. Er zeichne das
Porträt einer ganzen Generation und beschäftigt
sich mit der Frage: Wer sagt hier überhaupt die Wahrheit?
Und wie viel Wahrheit können wir überhaupt verkraften?
Alles, was geschieht, wird aus dem alltäglichen Umfeld
verhandelt, das macht den Film transparent. Es gibt auch keine
Bösen. Jeder Charakter ist mit seinem Verhalten nachvollziehbar.
Am besten hat Knut Elstermann das religiöse Telefon gefallen,
das die Frau anruft. Sie fragt, ob sie lügen kann. Die
Antwort ist: Nein. Das ist Sünde. So nimmt das Schicksal
seinen Lauf. Eine Bemerkung hätte alles wenden können.
Mit
diesem Film kann die Berlinale ein Zeichen setzen - für
die heutige Zeit an sich, für den Film und den Iran.
Denn im Gegensatz zu dem eingeladenen Jury-Mitglied Jafar
Panahi, der sogar ins Gefängnis gesteckt wurde, durfte
Farhadi nach Berlin kommen.
Asghar
Farahadi mit Knut Elstermann
Forum
Die Jungs vom Bahnhof Zoo
Auf der schiefen Bahn
Rosa
von Praunheim hält das Mikrofon in der Hand. Der pinkfarbene
Glitzerhut funkelt: "Ich sehe sehr glamourös aus",
sagt der Regisseur der Dokumentation, "dabei ist das,
was wir zeigen, nicht glamourös, aber ich hoffe, nach
dem Film werden sie die Männer verstehen, auf die oft
herabgeblickt wird."
Er
spricht von Strichern. Männern, die in frühester
Jugend, ja, teilweise in der Kindheit, für Sex Geld bekamen
und manchmal heute noch diesem Job nachgehen. Sie alle erzählen
ihre Geschichte, haben Schlimmes als Kind erlebt. Da ist zum
Beispiel Daniel, der Bettnässer war und von seiner Mutter
dafür übel bestraft wurde. Irgendwann wurde es so
schlimm, dass er das dem Jugendamt meldete und zu einer Pflegefamilie
kam. Das erging es ihm nicht viel besser. Nach drei Monaten
war er weg, ging ins Heim, wo er den durch den Betreuer Holger
mal so etwas wie Zuneigung erfuhr. Mit dem Weggang von Holger
verlor Daniel jeden Halt und kam ins Jungenheim in Steglitz.
Der erste Joint, das erste geklaute Auto.Irgendwann Bahnhof
Zoo. Heute lebt er mit Frau und Kind und hofft, dass er es
schafft.
Nazif
kam im Alter von 11 Jahren mit seinen Eltern aus Bosnien und
wurde zum Klauen abkommandiert. Zu Hause kassierten die Eltern
ab. Durch Freunde erfuhr er vom Bahnhof Zoo und einem Mann,
der "Kinder-Karsten" genannt wird. Da war er 12,
13 Jahre alt. Er hatte Angst, aber geriet trotzdem in den
Kreislauf des Anschaffens. Als seine Eltern davon Wind bekamen,
beschimpften sie ihn als "Schwuler". "Ich wusste
nicht, ob ich schwul bin",sagt er in der Dokumentation.
Sein Vater misshandelte ihn. Mit 14 kam er das erste Mal ins
Gefängnis. Beim ersten Mal Ausgang lernte er Robert kennen,
einen Mann, mit dem ihn zehn Jahre eine enge Beziehung verbindet.
Durch ihn lernt er überhaupt Lesen und Schreiben und
verfasst ein sehr persönliches Buch über seine Erfahrungen.
Sein größtes Glück - er wurde nach Bosnien
abgeschoben und fing über Umwege in Österreich ein
neues Leben an. Was er sich wünscht? "So wie jetzt.
Meine Ruhe haben."
Ionel
ist ein Zigeuner aus Rumänien und verkauft seinen Körper,
seit er 14 ist. Sein ganzes Dorf, Kinder und Jugendliche,
verdient in Berlin das Geld, was er dann mit nach Hause bringt.
Sie spielen Akkordeon oder treiben sich am berüchtigten
Bahnhof Zoo herum. Ionel wurde angesprochen, mit seinem guten
Aussehen könne er viel schneller Geld verdienen als mit
dem Akkordeon. "Bei 360 Euro am Tag stellt sich die Frage
nach Gefallen nicht", erzählt er. Im Tabasco, einer
Kneipe mit einschlägigem Ruf, ist er Stammgast, aber
das Geld fließt schon nicht mehr so.
Für
den 28-jährigen Berliner Daniel René fing der
Missbrauch seines Körpers bereits in der Grundschule
an. Der Hausmeister verging sich an ihm, als er gerade mal
7, 8 Jahre alt war. Der brachte dann andere Männer mit,
zeigte Videos. Daniel wusste nicht, dass das nicht normal
ist. Er schaltete sich ab. Schließlich schickten sie
ihn los zu Freiern, die Interesse an dem Jungen hatten, der
mit 13 noch wie 8 aussah. Sie boten ihm 30/70 an. Als sie
sich zu seinem 18. Geburtstag von ihm lossagten, fühlte
er sich allein gelassen, hatte er sie doch irgendwie als Freunde
wahrgenommen. Aufgewacht ist er erst durch den Tod seiner
Mutter und die Hilfe eines Mitarbeiters von Sub.Way, einem
Ort, wo mehr geschieht, als Kondome zu verteilen und aufzuklären.
Rosa von Praunheim befragt auch die Betreiber von diversen
Clubs, Streetworker und Freier. Und er schafft damit ein Porträt
der Jungs vom Bahnhof Zoo, wie man es sensibler und offener
nicht zeichnen kann.
Forum
Submarine
"Die Liebe ist ein seltsames Spiel"
Teenager
haben es schwer. Oliver Tate (Craig Roberts) hat es besonders
schwer. Er erzählt uns von seinem Leben, als würde
er sich mit der Kamera von außen betrachten, kurz, er
fährt seinen eigenen Film. Und er stellt sich seinen
Tod vor, wie die ganze Schule um ihn trauert. Vor allem Jordana
(Yasmin Paige) aus seiner Klasse, in die er sich verguckt
hat und bei der er sich keine Hoffnungen macht, denn er ist
nicht halb so cool wie sie. Dauernd wird er gehänselt.
Oliver Tate hat vielleicht auch einen Knall. Er lässt
den Zuschauer an Gedanken teilhaben, die er lieber nicht wissen
will. Er prügelt sich, um Jordana zu verteidigen und
geht vor ihr sogar auf die Knie. Woraufhin sie ihn küsst.
Gerade will man sich fragen, wer von beiden den größeren
Knall hat - aber wahrscheinlich ist das Verhalten für
Teenager in Wales völlig normal -, da hat Oliver die
fixe Idee, er müsse die Ehe seiner Eltern retten, ihr
Sexleben in Schwung bringen, Mutters (grandios: Sally Hawkins)
erste Liebe, den Esoteriker Graham Purvi, ausschalten. Er
gibt einen Brief als den seines Vaters aus und sitzt lieber
zu Hause rum, als seiner Freundin beizustehen, die um das
Leben ihrer Mutter zittert. Ja, so ist es mit der Verantwortung.
Und dann macht sie Schluss, und er leidet - und wie er leidet!
Dazwischen das aufbrausende Meer. Das Bild für die erste
Liebe - sehr passend. Da ist doch jeder froh, aus diesem Alter
raus zu sein.
Dass
man trotzdem furchtbar lachen muss, ist natürlich gewollt
und ein Verdienst von Ayoade, der ein Könner in Sachen
Pointen und Situationskomik ist.
Richard
Ayoade nach der Vorführung
Richard
Ayoade, bekannt aus der Serie "IT Crowd", bekam
das Buch zum Lesen, noch bevor es überhaupt veröffentlicht
war. Dass es nicht so leicht zu verfilmen sein würde,
ahnte er schon wegen des unzuverlässigen Charakters.
Oliver, der sich als Held sieht in seiner eigenen Geschichte
und jedes Gefühl auskostet, als ginge es um das Ende
der Welt. Den Film in Kapitel zu untergliedern, hatte er schon
lange vor. Das passte ja auch zu dem Geschichtenerzähler
Oliver Tate.
Beim
Frage- und Antwortspiel kommt Ayoade erst richtig in Fahrt,
als er nach der Musik gefragt wird. Ob es seine sei? "Ja,
ich habe gesungen, und ich habe alle Charaktere gespielt."
Um es genau zu sagen, stellte der Regisseur dann richtig,
dass die Musik aufgesplittet sei in jene in seinem Kopf und
jene von Jordana oder von den Kassetten. "Was haben Sie
zu dem Hauptdarsteller gesagt, damit er diesen irren Blick
bekommt?", will jemand aus dem Publikum wissen. "Kopiere
mich!", erwidert Ayoade und fügt hinzu, Craig Robert
sollte an Pete Townsand und Buster Keaton denken.
"Warum
Wales?" erkundet sich ein Mann aus dem Publikum. Nun
ist es an dem Autor, das Wort zu ergreifen: "Weil ich
dort aufgewachsen bin." Es gab wohl anfangs die Überlegung
von den Produzenten, das Ganze in England zu drehen und wie
Wales aussehen zu lassen. Keine gute Idee, fanden Regisseur
und Autor.
Wer
auf die im Filmtitel angekündigte Submarine wartete,
wartete übrigens vergeblich. Denn das sollte eher eine
Metapher für Oliver und seinen verstörten Blickwinkel
sein.
Die Fans freuten sich, dass der Regisseur nach der Premiere
für Fotos und Autogramme Zeit hatte.
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Fünfter Tag
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14. Februar 2011
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Von
Astrid Mathis
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Wettbewerb
V Subotu - An einem Samstag
"Lauf um dein Leben"
Der
Film hätte ein gutes Drama werden können. Es nimmt
seinen Anfang an einem Samstag im April 1986, am Tag der Tschernobyl-Katastrophe.
Der Held der Geschichte ist Parteifunktionär Valerij.
Er ist der erste, der mitbekommt, dass ein Reaktor explodiert
ist, und auf einmal will er nur noch weg. Sein Leben steht
auf dem Spiel. Er rennt. Und der Zuschauer rennt mit. Er kann
nicht anders. Der Film wurde mit Handkamera gedreht, das Bild
wackelt ständig. Wie im Affekt läuft Valerij zu
seiner Freundin, holt sie aus der Dusche und erzählt
von dem Unglück. Ungläubig eilt sie mit ihm los,
um den Zug zu erreichen, der sie retten könnte. Doch
sie knickt mit dem Absatz um, und ihren Pass hat sie auch
nicht dabei. Der Zug fährt ohne die beiden los. Valerij
sucht nicht nach Alternativen, sondern springt auf einer Hochzeit
bei seiner alten Band als Schlagzeuger ein. Er will wenigstens
sie warnen, aber da ist noch eine Prügelei offen, weil
er in der Partei ist. Sie prügeln, sie raufen. Valerij
kommt nicht vom Fleck, die Geschichte ebenso wenig. Dieses
Klischeebild vom Rauchen und Saufen und Feiern der Russen,
das der Regisseur bedient - man hält es nicht aus. Das
Verhalten von Valerij sowieso nicht. Als er betrunken am nächsten
Morgen auf einem Boot vor dem Reaktor erwacht, kann man nur
noch den Kopf schütteln. So geht kein gut inszeniertes
Drama.
Wettbewerb
Coriolanus
"Der Niedergang des Stolzes"
Shakespeares
spätes Drama um den Römer Coriolanus ist nichts
für sanfte Gemüter. Hier geht es knallhart zur Sache.
Die ersten Szenen sind ein einziges Gemetzel. Caius Martius
gegen Aufidius. Doch das Inszenario ist geprägt von heutigen
Bildern. Sie sehen aus wie Kriegsnachrichten aus dem Irak,
dazwischengeschaltete Kurzmeldungen via Fernsehen bestätigen
es: Wir sind jetzt und hier. Dieses Schlachtfeld, das Ralph
Fiennes (Regie und Titelrolle) aufzeigt, könnte überall
sein. Allein die Sprache ist die von Shakespeare geblieben.
Ein
stolzer Feldherr, der abschätzig auf sein wankelmütiges
Volk herabsieht, steht Aufidius (Gerard Butler) gegenüber.
Der ist es leid, immer und immer wieder gegen seinen Erzfeind
zu verlieren, aber auch diese Schlacht gewinnt Caius Martius,
blutüberströmt wohlbemerkt. Seine Narben sind Beweise
für seinen Mut und Kampfeswillen, die den Sieg Roms über
die Volsker untermalen. Das Volk schreit weiter unzufrieden
nach Brot, während Caius Martius auf sie spuckt. Sein
Sieg bringt ihm schließlich den Namen Coriolanus ein.
Jedoch: seine Mutter (grandios: Vanessa Redgrave) hat mehr
mit ihm vor, er soll Konsul werden. Dazu braucht er allerdings
die Stimmen des Volkes. Sie durch Schmeichelei gewinnen? Nein.
Das ist nicht seine Sache. Er versucht auf ehrliche Art, sie
für sich einzunehmen. Es nutzt nichts. Die Wunden, die
er offen präsentieren soll, will er nicht vorführen.
Seine Widersacher ziehen die Plebejer auf ihre Seite, kaum
dass Coriolanus ihnen den Rücken zugekehrt hat. Die letzte
Chance, ein Auftritt in einer Fernsehsendung, eskaliert, Coriolanus
beschimpft das römische Volk auf das Übelste.
Verbannung
lautet das Urteil. Er lässt Frau, Sohn und Mutter zurück.
- Und macht sich auf den Weg zu seinem Erzfeind, will sich
ihm anschließen. Die Umarmung, die dann zwischen den
Kämpfern folgt, ist gewollt zweideutig zu verstehen.
Mit vereinten Kräften wollen sie Rom in die Knie zwingen.
Sie wollen Rom brennen sehen. Die Nachricht erreicht alsbald
seine Mutter. Die hält mit Frau und Sohn eine Standpauke,
sprich: Theaterrede, dass Coriolanus die Tränen in die
Augen treiben. Das kann nicht gut ausgehen.
Und
irgendwie geht der Film auch nicht so gut. Den Sog, den die
moderne "Romeo und Julia"-Verfilmung schaffte, gelingt
Fiennes nicht. Natürlich passt zu einem stolzen Kämpfer,
immer wieder in Nahaufnahmen ins Bild gerückt zu werden
und die Eitelkeit ebenso. Das kann aber genauso gut an Fiennes
Regie liegen. Es stört etwas ganz anderes viel mehr:
das Volk. Die Szenen wirken so unecht, das sie die Farce des
umgebetteten Dramas zum Kinofilm aufdecken. Der Film packt
nicht wirklich. Liegt es an der Theatersprache, an dem Rhythmus
oder an den Bildern selbst, in die der Zuschauer eintauchen
soll? Vielleicht an allem ein bisschen.
Jessica Chastain, Ralph Fiennes und Vanessa Redgrave auf der
Pressekonferenz
Nach der PK heiß begehrt: ein Gruppenfoto
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Vierter Tag
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13. Februar 2011
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Von
Astrid Mathis
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Das
Ende der Kindheit
Zum Tod Peter Alexanders
Immer
stirbt jemand, wenn Berlinale ist. Am Samstag war es Peter
Alexander. Die Nachricht verbreitete sich erst heute. Ich
las davon als Topnews bei meinem GMX-Account. Natürlich
gibt es ständig Abschiede auf dieser Welt, aber jetzt
reden wir von Peter Alexander. Er hat nie einen Film auf der
Berlinale vorgestellt und kam auch nicht ins Rennen um den
besten ausländischen Film bei den Oscars. Braucht er
nicht. Er nicht. Er hat auf andere Art Geschichte geschrieben.
Als kleines Kind und als Jugendliche habe ich seine Shows
verfolgt. Da hatte ich noch keine Ahnung von Einschaltquoten.
Mit Mutti habe ich seit jeher Peter-Alexander-Filme geguckt.
Ob als Graf Bobby oder Charleys Tante, völlig egal. Ich
liebte ihn vor Leonardo DiCaprio und Ethan Hawke. Er konnte
sowieso mehr. Mir ging immer das Herz auf, wenn ich einen
seiner Filme sah und seine Musik hörte. Und ganz sicher
rührt mein Interesse an Österreich nicht allein
von den Sissi-Filmen, auch der Peter hat mich auf den Geschmack
des Wiener Schmähs gebracht. Erst neulich habe ich in
der Redaktion gesagt: "Ich mach' Schluss für heute.
Hauptsache,
es läuft mal ein Film mit Peter Alexander, wenn ich zu
Hause bin." Sozusagen als Balsam für die Seele.
Oder, wie meine Kärntner Freundin sagen würde: was
zum Drüberstreuen. Der Mann war ein Universaltalent.
Auf das Singen verstand er sich genauso wie auf Wortwitz und
Unterhaltung über der Gürtellinie. Er tat gut, hatte
keine Skandale und nichts für die Regenbogenpresse zu
bieten. Sicher - es ist still geworden um den 84-Jährigen,
seit seine Frau Hilde 2003 starb und die Tochter 2009 folgte.
Aber jetzt wird es erst richtig still.
Zum Abschied von Thomas Gottschalk
Als
wäre der Tod von Peter Alexander noch nicht genug, gibt
Thomas Gottschalk am Sonnabend seinen Abschied von "Wetten
dass
?" bekannt, während ich auf der Berlinale
in zwei total bescheuerten Filmen sitze. Mal geht es mit plumpen
Sex-Anmachereien um den Dreh eines Werwolf-Films, mal um den
Dreh eines Pornos. Über 10 Millionen Menschen haben vor
den Bildschirmen gesessen, und wer weiß, wie viele die
Wiederholung gesehen haben. Nur ich habe den Anfang vom Ende
nicht live mitbekommen. Das Ende einer Familienshow und eines
Lebensabschnitts. Ich habe es gleich gesagt: Gottschalk hört
auf. Gleich, als der Unfall mit den Sprungfedern passierte.
Da saß ich mit meinem zehnjährigen Neffen vor dem
Fernseher. Ich, 34, er, 10 Jahre alt. 24 Jahre lang hat Gottschalk
die Show moderiert. Davor habe ich sie schon geguckt, als
es nur sonnabends hieß: Ab in die Wanne. Ich kann mich
sogar an Frank Elstner erinnern und Thomas Gottschalk mit
"Na so was!" Das lief nämlich davor.
Und
nun ist alles weg - das Sonnabend-Bad, der Peter, der Gottschalk.
Wenn jetzt noch Günther Jauch hinschmeißt, mache
ich den Fernseher gar nicht mehr an.
Wettbewerb
Les Contes de la Nuit - Tales of the Night
Märchenhaft
Der
3 D-Tag beginnt vielversprechend. Michel Ocelot beschert der
Berlinale mit seinen Märchen der Nacht einen angenehmen
Start in den Tag. Es sieht so einfach aus, wie dieser Animationsfilm
daherkommt. Scherenschnittartige Bilder ersetzen die Schauspieler.
Da hocken jede Nacht drei Leute zusammen und basteln an Märchen
herum, wie sich Zwei kriegen könnten. Der Hintergrund
ist in knalligen Farben gehalten, die Geschichte ganz pur.
Ein Beispiel: Es war einmal eine Prinzessin, die muss mit
ansehen, wie ihre Schwester den Mann heiratet, den sie liebt.
Und alles nur, weil er versprach, die zu heiraten, die ihm
den Schal gegeben hatte, als er gefangen war. Denn diejenige
befreite ihn. Wie es der Zufall will, scheint in der Hochzeitsnacht
Vollmond, und der Prinz vertraut ihr sein Geheimnis an. Er
legt die Kette ab, die ihn wieder zum Menschen werden lässt
und verschwindet. Die von Grund auf böse Prinzessin erklärt
kurz darauf, ihr Yann sei verschwunden, ein Werwolf hätte
ihn umgebracht. Der sollte nun gejagt werden. Ihre liebe Schwester
begegnet nun dem Werwolf, der sich ihr ganz zahm zeigt, und
sie wiederum vertraut ihm an, wie es zu dem Missverständnis
mit dem Tuch gekommen war. Als sie im Schloss ihrem Vater
sagt, wie gut der Werwolf zu ihr war, stellen sie die böse
Schwester auf die Probe und führen ihr den Werwolf vor.
Sie verrät sich. Am Ende finden die Liebenden zueinander.
So
stellt man sich Märchen aus tausendundeiner Nacht vor.
In 3 D besonders bezaubernd.
Wettbewerb
(außer Konkurrenz)
PINA
"Tanzt,
tanzt - sonst seid ihr verloren!"
Als
sich der Vorhang öffnet, ist alles klar: 3 D macht Sinn.
Oder anders ausgedrückt: Nirgendwo macht 3 D mehr Sinn
als in diesem Film. Wim Wenders hat das Unvorstellbare geschafft
- er hat Pina Bausch auf unglaubliche Weise verewigt und ihr
Tanztheater in Wuppertal gleich mit. Wim und Pina kannten
sich schon lange, als die Idee aufkam, was sie schuf, mit
der Kamera festzuhalten. "Ich weiß nur nicht wie,
habe ich gesagt. Mit dem Körper auszudrücken, was
sie mit ihrem Tanz tat, war ganz unmöglich auf die Leinwand
zu bringen. Keine Sprache, kein Mittel konnte dem gerecht
werden, diesen Blick von ihr, der in jeder Bewegung durchschimmerte,
wiederzugeben", erzählt Wenders heute. Er verstehe
sich auf Filme, nicht auf Bewegung. Abwechselnd überredeten
sie einander, das Projekt wahr werden zu lassen. Die Übertragung
des U2-Konzertes in 3 D am 18. Mai 2007 brachte schließlich
die Lösung für den Regisseur. Nur so könnte
es gehen. Die Vorbereitungen begannen, das Konzept für
Probeaufnahmen erarbeiteten sie für Juli 2009 gemeinsam,
damit die Tanzikone sich ein Bild machen konnte. Zwei Tage
vor dem Termin kam die Nachricht von Pinas Tod. Wenders wollte
nicht mehr, für ihn war der Film gestorben, ein Film
ohne Pina unmöglich. Doch nach einiger Zeit regte sich
in ihm und Pinas Tänzern der Wunsch, diesen Film erst
recht zu machen. Für sie. Es würde ein anderer werden.
Mit Pina waren Aufnahmen von ihren Proben und den Korrekturen
geplant. Pina sollte bei ihrer Arbeit gezeigt werden. Nun
wandelte sich das Konzept. Die Tänzer nehmen ihre größten
Stücke auf den Spielplan: "Le Sacre du Printemps",
"Café Müller", "Kontakthof",
"Vollmond". Wenders verknüpft sie miteinander,
indem er dazwischen Mitglieder des Tanztheaters Wuppertal
sprechen lässt. Sie alle erzählen von ihrem Blick,
der sie nackt machte, ohne sie bloßzustellen, ihrem
Blick, der ein solches Vertrauen inne hatte, dass die Tänzer
noch heute den Mantel von Pinas Obhut um sich spüren
und alles von sich verlangen können. Pina hat nicht viele
Worte gemacht. Zu einer Tänzerin sagte sie einmal: "Du
musst verrückter werden." Der einzige Satz in 20
Jahren. Lutz Förster erzählt von einer furchtbar
schlechten Generalprobe, zu der sich Pina überhaupt nicht
äußerte. Vor der Premiere meinte sie wie immer
in der Garderobe zu ihm: "Lützchen, mach' es schön"
und fügte hinzu "Denk dran, ich muss Angst vor dir
haben." Das war besser, als drei Stunden ausführliche
Kritik zu üben, resümiert er.
Ihr
Blick konnte auch beunruhigen, viele Tänzer erklären,
Pina hätte irgendwann zu ihnen gesagt, sie müssten
keine Scheu vor ihr haben, sollten sich nicht verstecken.
Das half. Sie war ja auch für Ideen bei der Stückentwicklung
offen, saß nächtelang mit ihren Tänzern zusammen,
zündete sich ihre schmalen Zigaretten an und malte sich
aus, was sein könnte.
Sie
alle erinnern sich an das Gefühl der Geborgenheit, das
sie vermittelte. Es ist auch spürbar, wenn sie in Wuppertal
mitten in der Stadt tanzen, an einer Straßenkreuzung
zum Beispiel. Oder in einem Haus wie bei der Choreographie
zum Verlangen. Wenders gibt ihnen den Raum, in dem sie agieren
können als zweite Ebene des Films.
Die
dritte sind die Stücke selbst, in denen Stärke und
Verletzlichkeit nebeneinander bestehen, Schönheit und
Alter neu definiert werden. Pina Bausch wollte ihre Werke
nie interpretieren und auch nicht interpretiert haben. Sie
hat recht. Das ist wie ein ungeschriebenes Gesetz. Man muss
sie sehen.
Von
1000 Dingen, die man getan haben soll, bevor man stirbt, muss
"Pina" in 3 D ganz oben auf der Liste stehen. Ein
beeindruckender und beglückender Film.
Wim
Wenders mit Barbara Kaufmann und Julie Shanahan
Die
Pressekonferenz
Neben
Wim Wenders haben auf dem Podium die Tänzerinnen Barbara
Kaufmann und Julie Shanahan Platz genommen. Ein ehrfurchtsvolle
Stille macht sich nach lang anhaltendem Applaus breit.
"Der
Blick von Pina ist, wenn Sie so wollen, das Thema des Films",
beendet der Regisseur das Schweigen. So ein Blick auf die
Seele und den Menschen, das er hindurchschaut. Pina konnte
niemand etwas vormachen. So einen Blick hatte Wenders noch
nie zuvor gespürt. Auch die Tänzerinnen sprechen
von Pinas Blick. Barbara Kaufmann erzählt davon, wie
Pina sie beschützt und gleichzeitig dazu angehalten hat,
offen zu bleiben. Julie Shanahan führt die Atmosphäre
des Vertrauens an, in der alles möglich war. Und Pinas
Liebe, die sie mit ihrem Tanz zurückgaben. Über
die 22 Jahre, in denen sie beim Tanztheater in Wuppertal ist,
habe sie so viel verstanden - wie man bei sich bleiben kann.
Noch heute haben sie das Gefühl, Pina würde ihnen
über die Schulter schauen. Wim Wenders bestätigt
das Gefühl und erklärt: "Ich war ein Anfänger
mit 3 D, und aus dem Tänzerischen habe ich mich komplett
rausgehalten." Er lässt die Tänzer Pinas Stimme
werden.
Über
ein Jahr haben sie gedreht. Auf die Orte in Wuppertal fiel
die Wahl sehr schnell, Pina hatte 40 Jahre im Ruhrpott gewirkt.
1990 ging sie mit dem Stück "Die Klage der Kaiserin"
in die Stadt. Diese Idee setzte Wenders nun mit dem Thema
Pina erneut um. Die Tänzer bei ihrer Arbeit nicht zu
behindern, war anfangs eine große Herausforderung, bis
die Technik sich verbesserte und sie die Stücke auswendig
konnten. Dann ging es immer besser. Die einzige Veränderung
für die Stücke war der vermehrte Einsatz von Licht.
Ansonsten blieb alles, wie Pina es erarbeitet hatte. Ebenso
die Musik. Insgesamt sind es 40 Stücke, die im Film miteinander
verwoben werden. Ein Beweis mehr für ihr Welttheater.
"Wo
kann man 3 D angemessener anwenden als hier, wo Pina Sprache
so wortlos ist?" fragt Wim Wenders zum Schluss. Er erwartet
keine Antwort.
Wim
Wenders verteilt an die begeisterten Zuschauer Autogramme
Wim
Wenders auf dem roten Teppich
Forum
Nesvatbov
- Matchmaking Mayor
"Drum
prüfe
"
Auf
so eine Idee muss man erst mal kommen. Da gab es tatsächlich
einen Bürgermeister in Tschechien, der gegen das Singledasein
seiner Dorfbewohner etwas unternehmen wollte. Täglich
macht er Ansagen, sie sollten nicht auf der Straße herumgammeln,
sondern lieber dafür sorgen, dass die Welt nicht ausstirbt.
Seiner Ansicht nach gibt es zu viele Unverheiratete im Dorf.
Das muss doch nicht sein. Gemeinsam mit seiner Assistentin
erstellt er eine Liste von Männern und Frauen und entwirft
wilde Kuppeltheorien. Ein Fest muss her, wo sich alle treffen
und tanzen können. Schon geht die Organisation los. Die
Assistentin trägt bei jedem persönlich das Anliegen
vor, und schon da steht sie oft genug vor verschlossenen Türen.
Dabei gibt es wirklich einige, die gern jemanden kennen lernen
würden. Einer hebt seit Jahren zwei Flaschen Metaxa für
die Richtige auf. Monika indessen putzt lieber in der Kirche,
als überhaupt getrennt von ihrer Mutter zu schlafen.
Eher aus finanziellen Gründen, sagt sie.
Dann
kommt es zu dem Fest. Gut ein Dutzend Männer und Frauen
sind gekommen, sie machen Spiele mit Luftballons, tanzen miteinander
und hoffen, dass ein Wunder geschieht. Der Bürgermeister
hat nach der Begrüßung das Weite gesucht. Am Ende
der Veranstaltung gewinnt ein kleiner Mann eine Ballonfahrt,
er soll sich eine Partnerin aussuchen, die mitkommt. Die Fahrt
wird er am Ende allein machen. Eigentlich traurig, weil die
Singles natürlich einen lieben Partner verdienen, aber
auch lustig, weil der Bürgermeister so eine verrückte
Idee hatte. Liebe lässt sich eben nicht erzwingen.
Panorama
The
Guard
"Die
spinnen, die Iren"
John
Michael McDonagh kündigt seinen Film im International
reichlich vielsagend an. Er hat ihn geschrieben und gedreht.
Er weiß, wovon er spricht, wenn er behauptet, es sei
eine schwarze Komödie. "Sie mögen die traurigen
Dinge traurig finden und die lustigen lustig", prophezeit
er. So kommt es tatsächlich. Doch im Prinzip lachen die
Zuschauer dauernd.
Sergeant
Boyle (Brendan Gleeson) ist schuld. Er ist ein rauer Typ mit
dickem Bauch und großer Klappe, der aber auch seine
Mutter über alles liebt und sie in eine Bar mitschleppt,
weil sie sich Live-Musik wünscht. In Amerika war er ein
einziges Mal, in Disneyland und hat sich über die Begegnung
mit Goofy gefreut. Ab und an lässt er die Puppen tanzen
und macht einen Dreier im Hotel. So einer ist er. In Boyles
Revier in Irland hat er alles unter Kontrolle. Eines Tages
bekommt er einen Agenten vom FBI auf den Hals geschickt, der
von Don Cheadle gespielt wird und ausländerfeindliche
Kommentare über sich ergehen lassen muss. Alles nur,
weil Kokain in der Höhe einer halben Billion geschmuggelt
werden soll. Der Übeltäter wird von Mark Strong
verkörpert. Eine Paraderolle. Als Boyles Kollege tot
aufgefunden wird, kennt der nur einen Verdächtigen. Ein
Katz-und-Maus-Spiel beginnt.
Nebenbei
betreibt der Film auch noch Landeskunde, führt ins schöne
Connemara an der Westküste, wo nur Gaelisch gesprochen
wird und Don Cheadle sich schon mal anhören muss: "Geh
nach England, wenn du Englisch sprechen willst."
Brendan
Gleeson und John Michael McDonagh im Kino International
Nach
dem knalligen Ende stellen sich Regisseur und Darsteller den
Fragen des Publikum. Alle sind bester Laune. Brendan Gleeson
beweist Humor, als er auf sein Outfit im Film angesprochen
wird. "Wissen Sie, die Uniform kommt mit dem Job. Die
Unterhose war übrigens meine." Klar, dass er damit
Lacher kassiert. Die Slips waren nämlich besonders auffällig.
Er weiß aber noch was Interessantes zu berichten. "Die
Live-Band im Pub waren Freunde von mir." Locker fügt
der Regisseur hinzu, wie er auf die Musik von Calexico für
den Film kam. "Ich saß betrunken in meiner Küche,
wie es öfter der Fall ist, und da hörte ich im Radio
dieses Lied." Die Idee für den Film hatte allerdings
einen ernsten Hintergrund. Es gab nämlich vor einiger
Zeit mehrere Schmuggelfälle an der irischen Küste.
Die
besten Geschichten schreibt vielleicht doch das Leben.
Schauspieler
Mark Strong
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Dritter Tag
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12. Februar 2011
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Von
Astrid Mathis
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Wettbewerb
"Almanya - Willkommen in Deutschland"
Wo ist Heimat?
Das
hat man nun davon, wenn man in der Warteschlange steht und
jemanden vorlässt! So wird Hüseyin Yilmaz, der wie
hunderttausende andere Gastarbeiter 1964 aus der Türkei
nach Deutschland einreist, eben nicht der 1 000 000. Gastarbeiter
und sieht zu, wie jemand anders ein Moped geschenkt bekommt.
Inzwischen hat er in Deutschland ein Haus gekauft, seine Kinder
haben ihn zu Großeltern gemacht. Und damit beginnt das
Problem, sprich: das Integritätsproblem. Cenk, der Junge
seines jüngsten Sohnes, wird in der Schule beschimpft,
er sei kein richtiger Türke, auch die Deutschen wollen
ihn nicht in der Fußballmannschaft haben. Als alle Kinder
ihre Heimat nennen, landet Cenks Fähnchen auf einem weißen
Fleck, denn bis Anatolien reicht die Karte nicht. Seine Cousine
hat ein ganz anderes Problem: Sie ist schwanger, auch noch
von einem Briten, und weiß nicht, wie sie ihrer Mutter
überhaupt beibringen soll, dass sie einen Freund hat.
Und Opa Hüseyin hat Alpträume, weil er seinen deutschen
Pass abholen soll, während seine Frau diesem Schritt
freudig entgegen sieht. Er will ja gar nicht Deutscher werden
(auch wenn er fließend Deutsch spricht und sich hier
ein Leben aufgebaut hat).
Beim
großes Familientreffen platzt er heraus: "Ich habe
ein Haus für uns in Anatolien gekauft." Er wünscht
sich in den Herbstferien die Hilfe aller Kinder und außerdem,
dass sie sich einmal an ihre Heimat erinnern. Alle.
Nun
kommt der kleine Cenk ins Spiel. Was sie denn eigentlich seien
- Türken oder Deutsche? Da beginnt Cousine Canan mit
der Familiengeschichte, wie sie ihr Opa einst erzählte.
Wie in einem Märchen führt sie aus, wie sich Opa
in Oma verliebte, das Geld für die drei Kinder hinten
und vorne nicht reichte und Opa nach Deutschland ging, um
künftig per Postgeld für seine Familie zu sorgen
und wie er schließlich alle nach Deutschland holte.
Für Fatma und seine Kinder sieht das Land nicht gerade
einladend aus, nicht nur, dass sie Deutsch als Kauderwelsch
(der Film bedient sich einer Fantasiesprache) wahrnehmen,
die Toiletten sind eine Katastrophe. Und dass sie sich darauf
setzen sollen, sowieso. Zuerst will Fatma putzen: "Wer
weiß, was die Deutschen für Krankheiten haben."
Beängstigend wirkt auf sie außerdem das Jesuskreuz,
das sie anbeten. Aber die Kinder finden bald etwas Gutes aus
dem deutschen Sittenhaushalt heraus: Weihnachten mit Tannenbaum.
Ihre Eltern versuchen zu übernehmen, was die Kinder toll
finden. Dass damit die Integration leichter fällt, kann
man nicht gerade sagen, aber man kann über solche Szenen
wie mit dem kleinen Bäumchen lachen. Man kann mit den
Yilmaz auch weinen. Das ist die Stärke des Films. Er
schwebt zwischen Komik und Ernst, und das Komische überwiegt.
Ganz sicher kommen dem Zuschauer schnell Parallelen zum Film
"Alles auf Zucker" in den Sinn. "Almanya"
hat dieselbe Leichtigkeit. So lässt sich das Thema Integration
leichter verdauen, besser, als sich gar nicht damit zu beschäftigen.
Die Pressekonferenz
Na,
das war klar. Eine Journalistin fragt doch tatsächlich
den jüngeren Hauptdarsteller, als was er sich mehr betrachtet
- Türke oder Deutscher. Er lacht und wird dann fast gnatzig:
" Was ist türkisch, was deutsch? Das müssen
Sie mir beantworten, bevor ich darauf antworte." Er spielt
die Geschichte seines Vaters, erzählt er weiter, was
ein komisches Gefühl war, so als assimilierter Deutschtürke.
Um so mehr hat es ihn Spaß gemacht, in der Türkei
zu drehen. Das auserwählte Dorf spielte Zuschauer und
ignorierte Verbote einfach. "Sie haben auch nicht verstanden,
warum eine Szene mehrmals gedreht wurde. Ihr habt doch schon
alles gut gemacht. Und zwei Mal heiraten haben sie gar nicht
verstanden", gab Fahri Yardim zum besten. Außerdem
verrät er, dass sein Türkisch so schlecht klingt,
dass sich jeder kaputt lacht. Sein Alter Ego Vedat Erincin,
zur ersten Generation der Einwanderer gehörig, stellt
fest: "Die Frauen, die hier ein Kopftuch tragen, sind
ganz anders als die Frauen in der Türkei. Deutschland
hat sie verändert." Und seine Filmpartnerin ergänzt,
zu Hause in der Türkei würde sie als Ausländerin
betrachtet, in Deutschland dasselbe. Seinen Platz zu finden,
sei nicht einfach.
Das
war offensichtlich der Aufhänger des Films, in dem die
Schwestern Samdereli ein bisschen auch ihre Familiengeschichte
verarbeiten. Letztlich sind sie die dritte Generation ihrer
Familie. Und ja, es ist ein Frauenfilm. Behauptet Fahri Yardim.
Auch wenn Yasemin sagt, sie sei eher ein männlicher Typ.
Zu Gast: Christian Wulff
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Zweiter Tag
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11. Februar 2011
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Von
Astrid Mathis
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Wettbewerb
"Margin Call"
"Rette
sich, wer kann"
Über
Manhattan ziehen Wolken auf. Damit sagt Regisseur JC Chandor
eigentlich schon alles. Finanzkrise. Wir schreiben das Jahr
2008. Spielort: eine Investmentfirma. Spielzeit: 24 Stunden.
Gerade werden 80 Prozent der Mitarbeiter einer ganzen Etage
entlassen. Der Platz wird geräumt, das Handy abgeschaltet,
ein Sicherheitsbeamter begleitet die Entlassenen mit ihren
persönlichen Sachen hinaus. Sam Rogers (Kevin Spacey
mit grauem Haar und übermüdetem Blick) wird jeden
Moment eine Ansprache für die Übriggebliebenen halten
und vergießt vorher sichtlich ergriffen ein paar Tränen
über seinen kranken Hund. Wenig später erklärt
er trocken: "Die anderen waren gut, aber Sie sind besser."
Für Eric Dale (Stanley Tucci), den Abteilungsleiter,
ein besonderes Drama. Er war einer ganz heißen Sache
auf der Spur und reicht den Stick mit den Daten noch schnell
einem Mann aus seiner Abteilung, Analyst Peter Sullivan (Zachary
Quinto). Der knackt das Geheimnis: faule Geschäfte mit
Hypotheken. Was in den letzten zwei Wochen geschah, kann die
Firma in den Ruin stürzen. Sullivan zieht seinen Kollegen
Will Emerson (Paul Bettany) hinzu. Dann kommt Sam ins Spiel.
Lange hadern sie damit, den Boss anzurufen. Schließlich
fliegt John Tuld ein und beruft sofort eine Krisensitzung.
Jeremy Irons verkörpert den Tycoon mit der Präsenz
und Gestik eines Macbeth. Er ist einer, dem Zahlen und Tabellen
nicht viel sagen. Selbst ihm ist die Rechnerei zu hoch. "Erzählen
Sie in einfachem Englisch, als würden Sie es einem Kind
erklären oder einem Golden Retriever", fordert er.
Sullivans Stunde ist gekommen, eine Beförderung hat er
sicher. Kurz gesagt, die Hypotheken weisen nicht den in den
Büchern angegebenen Wert auf. Die Lösung hat Sam
parat, eine Lösung mit vielen Verlusten. Alles verkaufen,
betrügen, auch wenn die Käufer danach nie wieder
zu einem Geschäft mit ihnen bereit sind. Aber Sam zögert.
Und macht es dann doch entgegen seinen Moralvorstellungen
- nur für die Firma und weil er einfach das Geld braucht.
Er mobilisiert seine Abteilung und prophezeit auch, was für
Folgen die Aktion haben wird.
Schon
in der ersten Szene wird der kalte Grundtenor deutlich, der
den Film begleitet und vorantreibt. Man möchte meinen,
so ein Film über die Finanzkrise wäre vielleicht
nicht unterhaltsam oder spannend. Falsch. "Margin Call"
ist packend, denn gerade, wie jeder Einzelne mit der Situation
im Chaos umgeht, ist interessant. Zugegeben, das ist kein
Film über die Leute, die an die Spekulanten draufzahlen
und für immer ruiniert sind. Er rückt den aufsteigenden
Peter Sullivan in den Vordergrund, seinen zweifelnden Kollegen
Seth (Penn Badgley), der das Ende seiner Karriere kommen sieht,
ihren Chef Sam Rogers, einer der Zuverlässigsten, der
mehrere Betriebsjubiläen hinter sich hat und sein Gewissen
mit dieser Katastrophe nicht belasten will usw. Bis zum obersten
Glied der Kette, Mr. Tuld, verkörpert durch Jeremy Irons.
Und der will auch nur retten, was zu retten ist, was er sich
zig Jahre lang aufgebaut hat.
Ein
klasse Film.
Zachary
Quinto, Paul Bettany, Kevin Spacey und Jeremy Irons auf der
Pressekonferenz (v.l.)
Die
Pressekonferenz
Etwas
steif nimmt die Darstellerriege im Hyatt neben dem Regisseur
JC Chandor Platz, der ebenfalls das Drehbuch verfasste. Bei
Kevin Spacey, der grinst, und Jeremy Irons, der nicht so sehr
grinst, fällt der Applaus am größten aus.
Ach
ja, der erste Journalist spricht schon aus, was wohl alle
denken: "Es ist unmöglich, einen Banker zu hassen,
wenn er von Kevin Spacey gespielt wird." Dazu noch einen,
der einen Hund hat. Ist der Hund denn so wichtig? "Sicher.
Er ist eine Metapher für das, was mit der Firma passiert",
erwidert Spacey. Oder mit seiner Moral. Als er den Hund begräbt,
begräbt er viel mehr, die Firma, den ganzen Tag. "Das
soll ja die Menschlichkeit des Charakters zeigen", fährt
der Darsteller fort, "das waren Leute mit normalen Jobs,
die Anweisungen befolgten." Jeremy Irons teilt die Ansicht:
" Banken sind unmoralisch. Das ist ihr Job, aber wir
brauchen Moral, und wir müssen daran denken, dass wir
Ressourcen teilen müssen" In seiner Rolle wolle
er das Schiff auf dem Wasser halten, mehr nicht. Seiner Meinung
nach müssten Independent Filme viel mehr gefördert
werden - und zwar von den großen Firmen, die sowieso
Geld machen. Da sind wir wieder bei der Moral: Werden Filme
gemacht, weil sie Geld einspielen oder weil sie ein wichtiges
Thema behandeln?
Für
den Regisseur JC ist der Film sogar eine Tragödie, denn
die Leute müssen mit ansehen, dass sie einen Teil ihres
Lebens vergeudet haben. Ganz klar zielt der Film auf ein Bildungsbürgertum
als Publikum, das bereit ist, Empathie zu empfinden.
Mit
Anekdoten und Scherzen lockert die Filmcrew die Zuhörer
wieder auf. Jeremy Irons erzählt: Als er ans Set kam,
hatte er es schwer, klagte er, umgeben von Schauspielern,
die sich kannten. Doch das Schlimmste war angeblich, mit Kevin
Spacey spielen zu müssen. "Und du hast nie deinen
Text gelernt", meckert Spacey zurück.
Auf
die Frage, wie sie es schaffen, solche Dialoge überhaupt
nicht "papery" - abgelesen - klingen zu lassen,
begründet Paul Bettany nonchalant: "Weil Kevin so
ein guter Schauspieler ist! - Ich weiß nicht, wie Schauspiel
funktioniert. Es ist ein bisschen wie Sex. Es ist toll, es
zu tun, aber furchtbar, darüber zu reden."
Das
letzte Wort hatte Spacey nach einem Abstecher zu Karl Marx:
"Ich habe gehört, heute Abend kommt der Finanzminister.
Man lernt nie aus."
Jeremy
Irons nach der PK beim Autogramme-Schreiben
Premiere am Roten Teppich
Die
deutsche Schauspielerin Martina Gedeck erwartete mit Spannung
den Film.
Als
erster kam Zachary Quinto auf den Teppich.
Wie seine Kollegen gab Quinto fleißig Autogramme und
hielt seinen Kopf für Fotos hin.
Jeremy Irons, Paul Bettany und Zachary Quinto
Jeremy Irons im Interview
und auf dem Weg zur Premiere
Forum
"En terrains connus" (Familiar Ground)
Auf
verlorenem Posten
Hach,
es läuft alles nicht für das Geschwisterpaar in
Stéphane Lafleurs Film. Vielleicht liegt es am kanadischen
Winter. Beide haben die 30 offensichtlich überschritten.
Er wohnt bei dem Vater, schmettert nachts auf seiner Bassgitarre
herum und wird von dem Sohn seiner Freundin mit Grimassen
bedacht. Das Ski-Doo, mit dem er durch die Gegend fährt,
versagt ihm den Dienst, das Soßenglas bekommt er nicht
auf. Und als er den Schneemann vor dem Haus seiner Freundin
zusammenschlägt, weil sie ihn rausgeschmissen hat, verletzt
er sich die Hand. Seiner Schwester geht es nicht besser. Sie
arbeitet in einer Fabrik. Dort geschieht der erste von drei
angekündigten Unfällen. Ihr Mann guckt fern und
fährt im Wohnzimmer Fahrrad, während ihrem Gesicht
abzulesen ist, dass sie längst die Scheidung eingereicht
haben will. Als die Zwei beim Familienessen anlässlich
des Todestages ihrer Mutter im Elternhaus zusammentreffen,
ist die Katastrophe vorprogrammiert. Dazu hat Benoit den Vogel,
der gegen die Fensterscheibe geknallt ist, ins Essen integriert.
Wie
gut, dass die beiden in den Schnee fahren, in das Haus, in
dem sie früher wohnten. Dort kommen sie sich näher,
wenn sie vor dem Kamin sitzen und zusehen, wie das nasse Holz
meterweit herausragt und nicht anbrennt.
Stéphane
Lafleur hätte ein Riesendrama oder eine Klamotte aus
der Geschichte machen können, aber er erzählt mit
Witz und Liebe, wie sich die Geschwister wieder annähern.
Dass er sich nicht über die Charaktere lustig macht,
sondern sie in ihrer schrulligen Art liebenswert darstellt,
ist sein großer Gewinn. Und der Mann aus der Zukunft,
also, der Mann, der aus dem September kommt und den Unfall
mit der Schwester hervorsagt, ein glänzender Einfall.
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Erster Tag
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10. Februar 2011
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|
Von
Astrid Mathis
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Wettbewerb
"True Grit - Vergeltung"
"Der Gottlose flieht, auch wenn niemand ihn jagt."
So
heißt es am Anfang des neuen Streifens der Coen-Brüder.
Schnell wird klar, wer hier flieht und wer jagt. Wie bei einem
Western aus guten alten Zeiten. Arkansas. Die 14-jährige
Mattie Ross (Hailee Steinfeld) hat ihren Vater verloren und
will sich an dessen Mörder Tom Chaney (Josh Brolin) rächen.
Schließlich ist der Mann schuld an seinem Tod. Nun steht
sie allein vor seinem Sarg, die gramgebeugte Mutter und der
kleine Bruder sind zu Hause. Wer sollte den Job sonst übernehmen?
Die Behörden wollen ihr nicht helfen. Doch von Aufgeben
keine Spur.
Mit
diesem Mädchen ist nicht gut Kirschen essen, bekommt
auch der Bestatter zu spüren. Mattie lässt sich
nicht übers Ohr hauen. Was sie interessiert, ist ein
Marshall, der ihr bei der Suche nach Tom Chaney helfen kann.
Rooster Cogburn (Jeff Bridges) klingt nach einem, der echten
Schneid (true grit) hat. Nur will er von seiner Auftraggeberin
nichts wissen - bis sie ihm Geld auf den Tisch legt. Sie hat
inzwischen die Verhandlung des Marshalls miterlebt - viele
Verhaftungen gehen nicht auf sein Konto, mehr Leichen eben.
Und mit Rechnungen kennt sich die Kleine aus. Schon ihr Pferdehandel,
der aber eher an einen Kuhhandel erinnert, unterstreicht ihr
Talent zum Rechnen, ähm, Handeln. Cogburn hat keine Chance,
dem jungen Mädchen zu entkommen. Den Auftrag nimmt er
an, er sagt die "Waschbärenjagd" zu, ja, er
schließt sich sogar mit dem Texas-Ranger LaBoeuf (Matt
Damon) zusammen, den Mattie zuvor als Jagdhelfer abblitzen
ließ. Bloß die Kleine will er bei seinem Auftrag
nicht dabei haben. Dennoch: Die Beiden kommen nicht weit,
um Tom Chaney ohne sie zu verfolgen. Mattie überquert
mal eben schwimmend einen Fluss hoch zu Ross, kriegt den Hintern
von La Boeuf versohlt und steckt die zwei Kerle am Ende so
oder so in die Tasche.
Dabei
zuzusehen, wie die Schranken zwischen den Charakteren zerbröseln,
macht Spaß, auch, wie sie sich streiten und vertragen,
Achtung voreinander aufbauen und im Schneegestöber den
Gejagten trotzen - das hat schon was. Der makabre Witz der
Coen-Brüder blitzt an jeder Ecke auf. Dass Rooster Mattie
auf einen Baum schickt, um einen Erhängten loszuschneiden,
damit er den Galgenbruder erkennen kann, verrät deutlich
die Handschrift von Ethan und Joel Coen. Der Staub dieses
Westerns, er ist neu.
"True
Grit" wird als Remake des Klassikers "Der Marschall"
mit John Wayne aus dem Jahre 1969 gehandelt, obwohl er das
nicht sein will und ausschließlich an dem Roman orientiert
sein soll. Für die Rolle des Rooster bekam Wayne einst
den Oscar. Der neue "True Grit" hat allerdings einen
ganz anderen Star: Hailee Steinfeld als Mattie.
Hailee
Steinfeld, Jeff Bridges und Ethan Coen (von links)
Die
Pressekonferenz
Sie
sind alle da - mal abgesehen von Matt Damon, der Jeff Bridges
im Nuscheln fast übertraf. Und mittendrin Hailee Steinfeld.
Sie lächelt in die Menge und weiß gar nicht recht,
was sie sagen soll, als sie nach der größten Herausforderung
beim Dreh gefragt wird. Joel Cohen übernimmt die Antwort
und erzählt: "Sie war unglaublich: Wenn wir gesagt
haben, klettere auf den Baum, hat sie gesagt "okay"
und das einfach gemacht." Jeff Bridges lobt die Coen-Brüder
als die derzeit besten Filmemacher der Welt: "Es sieht
alles so leicht aus bei ihnen, auch wenn es nicht so einfach
war." Aber die Gewalt und der Tod in den Filmen der Coen-Brüder
haben ja schon eine Linie
"Ich finde es schwierig,
das auf mich zu beziehen. Leben und Tod haben schlicht erzählerischen
Wert", kommentiert Ethan Coen diese Bemerkung. Jetzt
kommen die Coens nicht mehr um die Frage nach dem Remake herum.
Dass sie danach gefragt werden, können sie gar nicht
verstehen, sie würden nicht mal an ein Remake denken,
wenn sie nicht gefragt würden. Klar hatten sie den Film
früher mal gesehen, aber das Buch hatte sie in ihrer
Kindheit schon fasziniert - und der Roman war die Grundlage
für den Film, nicht "Der Marschall". Jeff Bridges
verrät: "Als ich den Anruf bekam, sagte ich: Davon
gibt es schon eine Verfilmung', aber als ich das Buch las,
kam es mir vor wie ein Stück von den Coen-Brüdern,
und ich wusste, dass sie sich wirklich auf das Buch beziehen."
An John Wayne hatte Bridges beim Spiel überhaupt nicht
gedacht. Hailee Steinfeld kannte ihn vor dem Film nicht einmal.
Die Coen-Brüder schätzen ihn als Schauspieler, bei
dem man sich die Titel seiner Filme nicht merken kann, weil
sie so John Wayne getragen sind. Josh Brolin scherzt: "Ich
liebe seine politische Einstellung."
Aber
was hatte Hailee gedacht, als sie das einzige weibliche Wesen
an der Seite dieser Männer war? Wollte eine Journalistin
wissen. Ethan Coen provoziert lachend: "Das klingt ja,
als wären Sie gern dabei gewesen." Zurück zu
Hailee. Eigentlich war sie auch von Frauen umgeben, gesteht
sie, von ihrer Mutter, der Lehrerin usw. Am Set mit den Männern
- "das war nicht schlecht, machte eine Menge Spaß.
Sie wurden alle so was wie Vaterfiguren für mich",
schwärmte die Schauspielerin. Die dreieinhalb Monate
hatte sie die Männer hinter den Kulissen bei Laune gehalten
. "Sie hat mehr Geld am Set gemacht als im Film",
gab Jeff Bridges zum besten. Er ist schließlich derjenige,
der die Frage, was echter Mut ist , beantwortet: "True
Grit - ist, eine Sache, die man angefangen hat, zu Ende zu
bringen." Die Coen-Brüder haben sich die Frage nur
gegenseitig zugeschoben und blieben die Interpretation schuldig.
Hailee
Steinfeld und Jeff Bridges
Panorama
Tomboy
"Wer bin ich?"
Kinder
haben es wirklich nicht leicht. Die Eltern ziehen um, der
Nachwuchs zieht mit. Auch Laure geht es so und ihrer kleinen
Schwester, ein quirliges Mädchen, das gute Laune verbeitet
und zu schrägen Klaviertönen von Laure die Ballerina
mimt. Sie hat die Locken, Laure kurze Haare und am liebsten
Hosen an. So glaubt ihr Lisa aus der Nachbarschaft sofort,
dass sie Mikael heißt und hat einen neuen Freund gefunden.
Lisa führt sie zu den Nachbarskindern, und die Clique
nimmt sie auf. Zu spät, um etwas richtigzustellen. Es
spielt auch irgendwie keine Rolle. Mikael spielt Fußball,
rauft sich und bändelt mit Lisa an. Alles könnte
wunderbar sein, aber es sind eben Ferien. Noch kommt Laure
nicht in die 4. Klasse. Beim Spielen und Schwimmen muss sie
nicht ihre wahre Identität preisgeben. Nur ihre Schwester
kommt ihr auf die Schliche. Doch dann der große Knall.
Die Auflösung für den Zuschauer, dem es schwer fällt,
jemand anderen als Mikael zu sehen, selbst wenn auf einmal
alle Zeichen dagegen sprechen.
Sensibel und humorvoll erzählt "Tomboy" von
der Suche nach dem Ich und dem Gefühl, sich in keiner
Haut wohl fühlen zu können.
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©
POTZDAM 2011 - Urheberrechte Fotos/Texte: ASTRID MATHIS |
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